Lwiw
Dass die Ukraine im Krieg gegen Russland steht, kann man auch in der ostgalizischen Metropole Lwiw, weit ab von der Front, nicht vergessen. Im Taxi vom Flughafen in die Stadt zeigt mir der Fahrer, eigentlich ein ausgebildeter Jurist, der einen zusätzlichen Job braucht, um seine Familie zu ernähren, Fotos von seinem Kriegseinsatz. 2015 hat er mit Panzerfaust und Kalaschnikow gegen die Separatisten gekämpft. Eine kläglich bewaffnete Freiwilligenarmee verteidigte das Land, die inzwischen durch eine Berufsarmee ersetzt und mit jenen amerikanischen Waffen ausgerüstet ist, deren Lieferung Donald Trump als Druckmittel gegen Präsident Wolodymyr Selenskyj benutzte. Nicht selten sieht man in Lwiws Straßen Soldaten in Uniform, auch Kriegsversehrte. Beinamputierte in Rollstühlen betteln um Almosen, meinem Zimmerwirt wurde ein Ohr abgerissen, als rechte Hand trägt er eine Prothese. (mehr …)
Marrakesch
Die Vitrinen, in denen die Bäcker ihr Angebot präsentieren, gleichen summenden Bienenstöcken. Man kann die süßen Teilchen kaum erkennen, so dicht sind sie von Bienen bedeckt, aber weder Verkäufer noch Kunden nehmen daran Anstoß. Seelenruhig greift der Bäcker in seinem kleinen Laden in der Medina von Marrakesch nach einem Vanillestückchen, streift und schüttelt die Bienen mit sanften Bewegungen ab und steckt das Gebäck in eine Papiertüte. Sein Lächeln scheint zu sagen: Ja, so ist es bei uns, wir lassen auch den Bienen ihren Teil.(Der Essay ist im Juliheft 2019, Merkur # 842, erschienen.)
(mehr …)Nowosibirsk
Der Essay ist im Januarheft 2019, Merkur # 836, erschienen.
An der Tramhaltestelle hockt ein Besoffener in verdreckter Trainingshose und Tarnfarbenparka und steckt den Kopf zwischen die Knie. Es riecht nach Kohlenbrand und Hähnchenfett. Rumpelnd schiebt sich die Straßenbahn durch die Leningradskaya Ulitsa, grau hängt der Himmel über der Stadt. Grau erscheinen mir am Tag meiner Ankunft in Nowosibirsk auch die Menschen, grau die Häuser, grau die klapprigen Autos, die sich ihren Weg über die von Schlaglöchern zerklüftete Straße suchen. Es ist, als habe man die Farbe aus der Welt herausgedreht.
Vor den Hallen des Oktober-Markts stehen ein paar Gestalten neben einem demolierten Lada und bieten Produkte aus eigenem Anbau zum Verkauf: Brombeeren, Dill und Gurken, Knoblauch, Wurzelgemüse. Das Geschäft läuft nicht gut, und wer nicht aufhört, von einem besseren Leben zu träumen, verspielt sein Geld in einem verrauchten Automatencasino, das mit einer Ansicht von Las Vegas wirbt. Der American Dream ist trotz aller geopolitischen Konfrontation mit den Vereinigten Staaten in Putins Russland populär. McDonalds und KFC, amerikanische Popmusik und Lokale wie die Piwo-Factory mit ihrem Craftbeer-Angebot prägen das Lebensideal der Gegenwart, aber die wenigsten können sich den neuen Überfluss leisten. Der Supermarkt an der Ecke präsentiert auf einer Fototapete eine Frau mit strahlendem Lächeln, die prallgefüllte Einkaufstüten nach Hause trägt. Die Menschen auf der Straße dagegen haben Zahnlücken oder Goldzähne im Mund. Sie kaufen bei den Straßenhändlern, die billige Plastikprodukte aus chinesischer Herstellung unters Volk bringen, Gummistiefel und altmodisch geblümte Hausschuhe. Ärmlich gekleidete Damen mit dünnen, schlechtgefärbten Haaren und Wasser in den Beinen warten an der Haltestelle. Ein Mann im ausgeblichenen Jeansanzug steht breitbeinig auf dem Trottoir, stützt die Hände in die Hüften und unterhält sich mit einem Jugendlichen im Flecktarnmuster. Es sind diese Männer, die früh sterben, weil sie zu viel rauchen, zu viel trinken und zu wenig verdienen. Man versteht, dass sie gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters protestieren.
Der letzte Ehemann meiner Zimmerwirtin Ekaterina starb im Alter von 59 Jahren, ihr Vater mit 53. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kommunismus ist die durchschnittliche Lebenserwartung noch immer zehn Jahre geringer als in Westeuropa. Der Wodka war zu sozialistischen Zeiten ein großer Witwenmacher, und er ist es geblieben. Aber der Alkohol allein sei nicht schuld am frühen Ableben der russischen Männer, meint Ekaterina. »Es liegt auch an den gesellschaftlichen Umständen. Wir haben in nur kurzer Zeit drei Krisen durchgemacht: die chaotischen Jahre unter Jelzin nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, dann die Rubel-Krise Ende der neunziger Jahre, schließlich die Finanzkrise. Und heute leiden wir wegen der Krim. In Russland lebt man immer schlecht. Das war im Kommunismus so und ist heute im Kapitalismus nicht anders.«
Ekaterina, 51, hat es aufgegeben, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, aber eine Alarmanlage einbauen lassen, nachdem kürzlich bei ihr eingebrochen wurde. Von der Politik erhofft sie sich nichts, sie schaut keine Nachrichten und liest keine Zeitung. Seit ihre Tochter das Haus verlassen hat, lebt sie allein mit ihrem Dackel und vermietet das ehemalige Kinderzimmer über Airbnb. Mit ihrem Verdienst als Marketingberaterin der italienischen Kosmetikfirma Paese, für die sie per Skype Mitarbeiterschulungen in ganz Russland durchführt, kommt sie einigermaßen über die Runden. Am liebsten jedoch würde sie Russland für immer den Rücken kehren. Ein Jahr lang hat sie mit ihrem zweiten Mann in der Dominikanischen Republik gelebt. Ein Haus am Strand, Palmen und ein warmes Klima ohne Winter sind seitdem ihre Vorstellung vom Glück. Doch irgendwann ging ihr auf der karibischen Trauminsel das Geld aus, sie fand keine Arbeit und musste in ihre russische Heimatstadt zurückkehren.

Nowosibirsk ist heute die drittgrößte Stadt Russlands, noch um 1900 hatte die heutige Millionenmetropole lediglich 8000 Einwohner. Der Bahnhof bildete die Keimzelle der Stadt, nachdem die 1889 errichtete Eisenbahnbrücke über den Ob ihr rasantes Wachstums verkehrstechnisch möglich gemacht hatte. Ein Stück der ehemaligen Stahlkonstruktion, die an die (lesen ...)