Korrekt, oder? Ai Weiwei und die Fußball-EM
Dissidenz sieht nur aus der Ferne richtig gut aus. Das lehrt, als jüngeres Beispiel, die hiesige Rezeption des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Die Popularität, die Ai beim deutschen Kulturjournalismus genoss, erreichte ihren Höhepunkt im Frühjahr 2011, als der Künstler nicht nur in China lebte, sondern dort ein paar Monate im Gefängnis saß. Und sie ist rasant abgeebbt, seit Ai im Sommer 2015 seinen Pass ausgehändigt bekam und plötzlich nicht nur reisen, sondern auch nach Berlin ziehen konnte. Die während der Inhaftierung als symbolische Solidaritätsadresse nach China ausgesandte UdK-Professur realisierte sich mit einem Mal zu täglicher Arbeitsroutine in Berlin, was schon den einfachsten Imperativen gewöhnlichen Startums zuwiderläuft (Verknappung, Distanz). Als entscheidender Bruch im Verhältnis zwischen Ai und dem deutschen Feuilleton muss aber eine Reihe von Interviews gelten, die der Künstler im August 2015 gab und von denen das mit der Zeit das symptomatischste war, insofern es noch Vorwürfe von Sinnentstellungen und Kürzungen nach sich zog. Freunde streiten sich nicht um Buchstaben. (mehr …)Österreich, wie es ist
Die österreichische Geschichte weist nur wenige Ansätze zur Entwicklung eines klassischen bürgerlichen Selbstbewusstseins auf und kein einziges Beispiel einer gelungenen Revolution: Welche langfristigen Folgen dies für die Gesellschaft, das Politikverständnis und die Mentalitäten innerhalb bestimmter Gesellschaftsgruppen des Landes bis heute hat, ist nicht einfach zu beantworten. Stellt sich dabei zum einen das Problem, inwieweit eine »gelungene Revolution« gleichsam als Teil der »Normalentwicklung« einer Gesellschaft angesehen werden kann, so ist die Frage, wie ein nicht eingetretenes Ereignis in seinen Wirkungen überhaupt analysierbar ist, nicht geradlinig in Form einer (unterbliebenen) Wirkungsgeschichte zu beantworten. Was andererseits nicht zwangsläufig den Umkehrschluss zulässt, dass es derartige Wirkungen nicht gegeben hätte. (mehr …)Brief aus Wien (IV). Im Schwimmbad
Nachricht von Peter Praschl an Ekkehard Knörer: Sag Hanna, dass sie sich nicht über Wien lustig machen, sondern dass sie es verabscheuen soll. Kurzform einer Nachricht an Peter Praschl: Das will ich nicht. Nachricht von Peter Praschl: Du sollst es aber verachten, dieses Faschistennest. Der Austausch kommt zu einem guten Ende. Wir schicken Küsse von Berlin nach Wien und retour. Während am 22. Mai die Wahllokale öffnen, schwimme ich das erste Mal in diesem Jahr draußen, im Jörgerbad. Der Freibadbereich ist nur so groß wie ein etwas überdimensionierter Privatgarten, mitten zwischen die Altbauten geklatscht. Aus den Fenstern kann man vermutlich selbst von hoch oben noch die kleinsten Dinge erkennen. Alles ist schön und voller Hoffnung an diesem Morgen, die Sonne und die Vögel und die warme Luft und meine Schulter, die nicht mehr weh tut und das Knie, das nicht mehr zieht, und man könnte auch noch was über die Körpermitte sagen. (mehr …)Der Neue am Collège de France: Über den Historiker Patrick Boucheron
Die Macht ist weder eine bloße Tatsache noch ein absolutes Recht. Sie zwingt nicht, sie überzeugt nicht. Sie nimmt für sich ein – was ihr leichter fällt, wenn sie sich auf die Freiheit beruft anstatt Angst und Schrecken einzuflößen.
Maurice Merleau-Ponty, „Notiz zu Machiavelli“ (1949)
Erstaunlich, wie selten Historiker mittlerweile der Wucht der über sie hereinbrechenden Geschichte ausgesetzt sind. Nach den Terroranschlägen, die im Januar 2015 Paris erschüttert haben, verspürte Patrick Boucheron – Historiker des Spätmittelalters, Autor in der Gegenwart und seit Dezember 2015 Inhaber eines Lehrstuhls für die „Geschichte der Machtformen in Westeuropa vom 13. bis 16. Jahrhundert“ am Collège de France – das Bedürfnis, diesem Zusammenstoß zwischen Wissenschaft und Lebenswelt gemeinsam mit dem Schriftsteller Mathieu Riboulet auf den Grund zu gehen. Schon im Titel verspricht Prendre dates eine Verabredung mit der Geschichte, auf die niemand gewartet hat. Diese Chronik der Woche vom 6. bis 14. Januar liefert keine Erklärungen, sondern stellt eher eine Versuchsanordnung dar. Es ist ein Dokument des Schocks, der Trauer, der Ausweglosigkeit – eine „Abraumhalde des konfusen Denkens“. Wer Intellektualität mit abgeklärter Distanz assoziiert, war von der aufgewühlten Intimität dieses Berichts überrascht. (mehr …)