Brief aus Wien (IV). Im Schwimmbad

Nachricht von Peter Praschl an Ekkehard Knörer: Sag Hanna, dass sie sich nicht über Wien lustig machen, sondern dass sie es verabscheuen soll. Kurzform einer Nachricht an Peter Praschl: Das will ich nicht. Nachricht von Peter Praschl: Du sollst es aber verachten, dieses Faschistennest. Der Austausch kommt zu einem guten Ende. Wir schicken Küsse von Berlin nach Wien und retour.

Während am 22. Mai die Wahllokale öffnen, schwimme ich das erste Mal in diesem Jahr draußen, im Jörgerbad. Der Freibadbereich ist nur so groß wie ein etwas überdimensionierter Privatgarten, mitten zwischen die Altbauten geklatscht. Aus den Fenstern kann man vermutlich selbst von hoch oben noch die kleinsten Dinge erkennen. Alles ist schön und voller Hoffnung an diesem Morgen, die Sonne und die Vögel und die warme Luft und meine Schulter, die nicht mehr weh tut und das Knie, das nicht mehr zieht, und man könnte auch noch was über die Körpermitte sagen.

Ich darf in Österreich nicht wählen, und das ist schade, weil dieses eine Mal klar wäre, was zu tun ist. Keine Mjanagut-Entscheidung, sondern ein NEHMT DIES. Aber nicht nur deshalb fühle ich mich nicht für die Verachtung zuständig. Ich wüsste nicht, wo ich damit anfangen sollte, sie auszugießen und warum. Es hilft nicht, dem Elend den eigenen Zynismus hinzuzufügen. Er ist als Standardeinstellung zu einfach. Es hilft wahrscheinlich auch nicht, schwimmen zu gehen. Ich weiß nicht, was Gegenteil von Zynismus sein könnte. Etwas, das man versuchen kann: Let yourself be gutted. Let it open you. Start here

 

An der Bushaltestelle in Luckau im Spreewald sah ich einmal eine Frau in meinem Alter in einem hellblauen T-Shirt, das ihr etwas zu klein war, es trug die Aufschrift: Ich brauche keinen SEX – das Leben fickt mich jeden Tag. Später sah ich, wie sie in den Zug nach Cottbus einstieg. Ich überlegte, wie ich sie fair beschreiben könnte, und ob eine Beschreibung nötig wäre, weil doch ihr T-Shirt laut genug brüllte, dass ihr Weg zu diesem T-Shirt das Grauen gewesen war. Vielleicht nur jenes, das darin besteht, Grausamkeit und Humor als Stücke vom selben Fleisch und für 14,90 € verkauft zu bekommen, als T-Shirt, in das ein Körper gepackt wird, über den man nur mit unglaublichem Aufwand sprechen kann. Denn die Beschriftung, die hier stattfindet, treibt Text in den Körper wie ein Meißel in Marmor gehauen wird; da steht dann: Hier geht die Überlebende einer Katastrophe. Was für ein katastrophales Missverständnis über Leben, über Normalität, über Katastrophen.

Die Frage danach, ob dieser Körper schön oder hässlich ist, wird sofort sinnlos, weil es darum geht zu bewundern, dass er überhaupt noch da ist; ich war geneigt, ihn für ein Dokument der Gegend zu halten, die ihn geformt hatte. Niederlausitz brutal. Vielleicht kam die Frau aber aus Bamberg. Ich denke über Figur und Grund nach und Person und Kulisse, darüber, wie schön eine Figur vor hässlicher Kulisse sein kann, und wie unansehnlich eine Person vor strahlenden Bauten, und über die wechselseitige Steigerung von schönen Figuren vor schönen Kulissen zu etwas Absolutem.

 

Am Westbahnhof in Wien küssen sich Ethan Hawke und Julie Delpy (man könnte auch „Jesse“ und „Céline“ sagen, aber: „“, was soll der Umstand), die Dringlichkeit steigt mit dem Herannahen der Abfahrt des Zuges. So geht das Ende des Films Before Sunrise (1995) von Richard Linklater. Sie steigt ein, er geht weg, die Hand fährt leicht am Waggonkörper (rot) entlang, er versucht zu sehen, wo sie sitzt, schon weg. Schnitt. Sie sucht einen Platz in einem Abteil. Schnitt. Draufsicht auf einen Zug am Donaukanal, dort gingen die beiden am Tag vorher spazieren (der Film hat keinen Plot, zwei geradezu lächerlich attraktive junge Menschen laufen durch Wien und verlieben sich auf Grund ihrer jeweiligen Art loszulabern. Oder vielleicht ist es eben von vornherein umgekehrt: ein geradezu lächerlich schönes Wien läuft durch zwei junge Menschen, auf Grund dessen verlieben sie sich). Schnitt. Die Sonnenterrasse eines Ausflugdampfers, ein Park im Morgengrauen, durch den eine Omi humpelt, die Plattform an der Albertina, unter der ein Müllauto entlang fährt und aufsammelt, was vom vergangenen Tag noch übrig ist, eine Gasse, die so schmal ist, dass sich die Häuser fast berühren, Europaletten, Kabelwinden, der Franziskanerplatz: alles leer, die Sonnenschirme vor dem Kleinen Café schlafen. An diesen Orten spielte sich ab, was der Film zeigt: dass Schönheit ins Leere geht, wenn sie nicht als Referenz zwischen zwei Personen auftaucht, dass die Beobachtung, dass keine Großstadt so murmeltierartig pennen kann wie Wien, ausgesprochen und gehört werden muss: Sonst ist das alles nichts.

Diese Haltung ist falsch und beleidigt die Herzen von Alleinreisenden. Der Film zeigt eine Stadt als ein à propos Schönheit, das es leicht macht, die Grandiosität des Ortes für die eigene zu halten. Das funktioniert, weil in Before Sunrise Grandezza der Architektur der Plot, Sprezzatura der Motor, Liebe das Ergebnis, und das Niemalsvorhandensein von Alltag das Versprechen ist. (Roger Ebert schrieb, dass es sich um einen idealen Film für Teenager handele; vielleicht können ihn auch nur Teenager aushalten, alle anderen müssen ihn beachselzucken oder weinen). Meine Vorstellung ist, dass die Alltagskulisse mehr mit stockfleckigen Trockentüchern und Haaren im Abfluss zu tun hat, mit angestoßenen Türstöcken und Wänden, die einen Anstrich vertragen könnten.

 

Das Jörgerbad liegt im 17. Bezirk, hinter dem sogenannten Gürtel. Wien hat wie alle großen Städte eine Hüfte oder Taille, um die man diesen Gürtel legen kann (je nach Geschmack), eine begehrenswerte Mitte mit einem verführerischen Nabel, der einem aber langweilig wird, wenn man ein paar Mal seinen Finger hineingesteckt hat, dann muss man also den Gürtel überqueren, weitermachen. Die Häuser in der Umgebung des Jörgerbads kommen mit verhältnismäßig wenig Prachtentfaltung aus, keine halbnackten Götter, die stolz Balkone hochstemmen, kaum Blumenranken. Stattdessen die Art von Einzelhandel, die in Deutschland so gut wie verschwunden ist und deren Erhalt einer Mietpolitik geschuldet sein muss, die Tagesumsätze von 50 € verkraftet; Läden spezialisiert auf eine einzige Sorte Herrenhosen, Fußpflege, Eisenwaren. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden diese Dinge von Menschen gekauft, deren Wohnungen keine Badezimmer hatten, und die zum Wannen und Brausen ins Jörgerbad gingen. Das kann man auch heute noch tun, eine Stunde Brause kostet 2,40 €; Wanne für eineinhalb Stunden 3,60 €, ermäßigt 2,40 €. Ich frage mich, ob es jemanden gibt, der im Jörgerbad Wannen und Brausen gehen muss, der in der Lage wäre, den vollen Preis zu zahlen.

Jörgerbad: Wannen und Brausen

Am Samstag, den 23. Mai 1914 berichtete die Wiener Zeitung über die Eröffnung des Bades. Nachdem die erste Hälfte des Berichts alle Honoratioren und Knabenchöre aufgezählt hat, die ihre Befriedigung über die Eröffnung dieser Einrichtung ausdrücken, beschreibt der Text dem Wiener Publikum das Gebäude: „Durch das geräumige Vestibül gelangt man zu den Kassenschaltern. Zu beiden Seiten der Vorhalle liegen die Stiegenhäuser, ferner links das Dampfbad für Frauen, rechts das für Herren. Beide Dampfbäder bestehen aus einem großen Duschraum, einer Heißluft- und Dampfkammer, einem Kalt- und Warmwasserbecken, einem Frottierraum, einem Ruheraum, endlich aus je einem Raum für Hühneraugenschneider und Friseure.“ 469 Personen konnten hier erstmals geschlechtergemischt baden, außerdem wurde im Jörgerbad das erste Mal ein Becken nur für Kinder angelegt. Die Grundstruktur des Gebäudes, die Galerien und Stiegenhäuser sind erhalten. Auf dem Weg in die Umkleidekabinen geht man durch das Treppenhaus des Gebäudes, das sich zur Schwimmhalle hin öffnet, vollbekleidete Besucherinnen und Besucher begegnen solchen in Badehosen und -anzügen, gnadenlosen Bikinis und gütigen Shorts, unklar, wo man hinschauen soll. Wiener Körper sind auch nicht anders als andere: divers.

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An einem Sonntagmorgen sind außer mir zwei Jungen da, ca. zwölf Jahre alt, der eine sehr dick und mit sehr weißer Haut, er hat Brüste, die man auch dann sehen wird, wenn er angezogen ist, der andere ist sehr dünn und sehr schwarz. Sie schwimmen wenig, tauchen immer mal wieder, meistens springen sie von den Startblöcken, klettern aus dem Becken und beginnen von vorn, bis einer knapp neben meinem Kopf landet. Der Bademeister schließt den Startblock, ansonsten sitzt er missmutig in einem Sessel an der Seite. Ich habe einen Mann in einer sehr kleinen Badehose gesehen, der spezielle Badesocken trug, aus beschichtetem schwarzen Material. Ein anderer hatte Narben unter der Brust, wo das Gewebe entnommen worden war, das ihn früher wie eine Frau hatte aussehen lassen. Wieder ein anderer hatte einen Frühstücksbeutel mitgebracht, saß auf einer Liege, während durch das Oberlicht zwei Stockwerke höher Licht wie in eine Kathedrale fiel, er kratzte mit ein paar Brotstücken Frischkäse aus Plastik und aß sie sehr langsam, während er zuschaute, wie andere ihre Bahnen schwammen.

Beim Schulschwimmen der Mädchen gab es keines mit Übergewicht. Ein Greis, dessen linkes Bein bis auf den Knochen abgemagert war, betrat an einem Mittwochmorgen vorsichtig die Schwimmhalle, sein mageres Bein schien versteinert und steif zu sein, er bewegte es, indem er es von der Hüfte aus nach vorn schob, so ließ er sich an der Leiter hinab ins Schwimmbecken gleiten. An einem anderen Tag ging eine sehr dicke Frau mit einem Kleinkind an der Hand vorsichtig über die Fliesen, sie trug keine Badeschlapfen und ihr Fleisch drückte stark gegen die Haut. Letzte Woche kam eine Gruppe Körperbehinderter in das Bad, einige gingen selbst, andere waren in Rollstühlen fixiert oder in Gestellen mit Rollen, die es ihnen ermöglichten, weitestgehend ohne Hilfe voranzukommen. Am selbstständigsten waren ein Mann mit einer Geschwulst am Kiefer, die wie ein drittes Ohr aussah und der eine weit nach oben gezogene, rote Badehose trug und ein mittelalter Mann in einer schwarzen Speedo mit sehr großen Zähnen, der lange das Wasser streichelte und flüsternd begrüßte, bevor er sich in Verzückung im Nichtschwimmerbereich hin und her wiegte. Sein Kollege drehte viele Runden um das Becken, blieb bei einer Nische stehen, in der ein Mosaik aufgebracht ist, das den Meeresboden zeigt, und winkte den Seepferdchen und Seesternen, zwei junge Frauen wurden von den Betreuern ins Wasser gelassen, mit riesigen Schwimmflügeln konnten sie sich dort ganz allein bewegen und jauchzten und schrien und lachten. Der Moment wurde von einer Betreuerin fotografiert. Der attraktivste der Betreuer trug die attraktivste der Betreuerinnen auf seinen Armen durch das Bad und drohte, sie ins Wasser zu werfen.

Die Abtrennung des Nichtschwimmerbeckens vom Schwimmerbecken, die Wasserrutsche für die Kinder, die Bahnen fürs Sportschwimmen und diejenigen für das grazile Omapaddeln (da bin ich) sagen: das hier ist für alle. Auch (im Sinne von: sogar) für diejenigen, denen beim Schwimmen das Wort Blickregime in den Kopf kommt. Die Blickregime fallen aber nicht weg, wenn die bescheidene Inklusion einer städtischen Badeanstalt realisiert werden kann; genauso wenig wie bei mir lange eingeübte Ideen von genormter Schönheit wirkungslos werden, wenn sichtbar wird, dass alle Körper vor diesen Ideen ständig versagen. Das Jörgerbad ist die geeignete Kulisse dafür. Es ist trotzdem immer noch sehr schwer zu sagen, wie Leute im Schwimmbad aussehen, weil es bedeutet, über Überlebende zu reden und darüber, was „für alle“ bedeutet. „Für alle“ ist in Gefahr, es wird dort bleiben.

Die Wiener in der Badeanstalt sehen so aus, wie es der Ort verlangt. Sie gehorchen der Kulisse, so wie das Aussehen von Hawke/Delpy in Before Sunrise einem ganz bestimmten Skript für die Kulisse gehorcht. Man kann das Skript nicht nachlesen. Es gibt kein Rezept.