• Rudolfsheim-Fünfhaus

    Im Sommer 1987 zog ich vom Land nach Wien. Ich bezog eine kleine Zimmerküchewohnung in einem heruntergekommenen Gründerzeithaus im 15. Wiener Gemeindebezirk, Rudolfsheim-Fünfhaus, in einem toten Winkel zwischen den beiden großen Verkehrsachsen Wienzeile und Gürtel. Die Wohnung war desolat; das WC am Gang galt es mit fahlgesichtigen Nachbarn fortgeschritteneren Alters zu teilen, die bereits meinen Bruder, den Vorbewohner, inbrünstig gehasst hatten, weil sie ihn durch die dünnen Wände hörten. Trotz dieser widrigen Umstände genoss ich das städtische Leben, saß oft und gerne auf dem breiten Küchenfensterbrett und las, die Melange aus Grautönen ringsherum aufsaugend, das Bein kokett in den Lichthof baumeln lassend. Nach einigen Jahren des fröstelnden Studentinnenlebens mit viel Nachtaktivität und Kulturboheme – alles in anderen Bezirken und zumeist innerhalb des Gürtels – wurde ich dann aus der Wohnung geschmissen, weil ein neuer Eigentümer die kleinen Wohnungen zusammenlegen und mehr Geld verdienen wollte.

    Rudolfsheim-Fünfhaus vermisste ich nicht. Im 16. Bezirk, in Ottakring, fand ich eine vergleichbar ärmliche, aber lebendigere Umgebung. Der Eiserne Vorhang fiel, Österreich trat der Europäischen Union bei, Wien wurde bunter; ich ging auf akademische Wanderschaften ins Ausland. G. und ich zogen irgendwann nach Neubau (7. Bezirk) und konnten dann dort über die mittlerweile neoliberalisierte Kulturboheme und AirBnB-Touristen vor der Haustür ätzen. Im letzten Jahr zogen wir von dort nach Rudolfsheim-Fünfhaus, und zwar in den nördlich der Westbahntrasse gelegenen Teil des Bezirks.

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  • Nippes

    Nippes, gelegen im Kölner Norden, direkt an der Stadtgrenze zur Innenstadt, kann nur wenig Mythos für sich beanspruchen. Die Kölner Südstadt hat Böll und BAP, die Hausbesetzungen der achtziger Jahre und Lukas Podolskis Apartment im Rheinauhafen. Das Belgische Viertel kann sich mit den Studios von Mauricio Kagel und des »Sound of Cologne« schmücken. Außerdem waren dort die Redaktionsräume der Spex , und Rolf Dieter Brinkmann ist auch öfter mal durch die Straßen gelaufen. Nippes hat nichts von all dem. Rainer Werner Fassbinders Proletariats-Serie Acht Stunden sind kein Tag , die 1972 vom WDR ausgestrahlt wurde, spielt zwar in der Nippeser Turmstraße, gedreht wurde aber in Wuppertal. Das Nippeser Stadtbild besteht aus Gründerzeitbauten und den für Köln typischen verklinkerten Mehrfamilienhäusern aus der Nachkriegszeit. Es ist austauschbar. Kurz nach meinem Einzug hing ein Zettel an der Haustür. Nächste Woche könne man vor dem Haus nicht parken. Der Grund: Dreharbeiten – für Lutter, der Ruhrgebietskrimi .

    Trotzdem gilt Nippes als das kölscheste der Kölner Veedel. Seitdem ich vor fast neun Jahren nach Köln gezogen bin, habe ich nie woanders gewohnt. Für mich ist Köln gleich Nippes und Nippes gleich Köln. Aber »kölsch« fungiert in dieser Stadt zuerst als leerer Signifikant. Die rechten Hooligans, die nach der Hetzjagd in Chemnitz am Kölner Hauptbahnhof gegen eine »Asylflut« auf die Straße gingen, bezeichnen sich ebenso als »kölsch« wie diejenigen, die beim Protest gegen den AfD-Parteitag 2017 den Stammbaum von den Bläck Fööss gesungen haben, in dem in kölscher Sprache die soziale Diversität Kölns gefeiert wird. Es gehört zum Kölner Selbstbild, sowohl interkulturelle als auch Klassenkonflikte so zu moderieren, dass man relativ reibungslos nebeneinander leben kann.

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  • Video: Patrick Eiden-Offe im Gespräch | Zweite Lesung

    Zur Zweiten Lesung empfiehlt Patrick Eiden-Offe den Essay „Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde“ von Peter Bürger, der 1986 im Merkur erschienen ist. Bürger widmet sich dem Diskurs um die Postmoderne nicht um diesen fortzuführen, sondern um ihn mithilfe der Kunst von Joseph Beuys aufzubrechen. (mehr …)