Entspannte Verhältnisse
In der FAZ-Ausgabe vom Mittwoch schreiben Susanne Schröter und Ulrich Morgenstern: „Die Wurzeln der postkolonialen Theorie reichen bis in die antikolonialen Bewegungen zurück, die Gelehrte wie Léopold Sédar Senghor (1906 bis 2001), Aimé Césaire (1913 bis 2008) und Frantz Fanon (1925 bis 1961) hervorbrachten. Sie alle schrieben gegen den europäischen Kolonialismus an und hatten eine ambivalente Beziehung zu Frankreich, dem Land, in dem ihre wissenschaftlichen und politischen Karrieren begannen. Senghor, der von 1960 bis 1980 Präsident des postkolonialen Senegal wurde, nahm eine entspannte Haltung zum Westen ein, was ihm von Linken den Vorwurf einbrachte, im Sinne des Neokolonialismus zu handeln. Senghors Publikationen sind aus den Leselisten postkolonial orientierter Dozenten verschwunden. Die Schriften des unversöhnlichen Kommunisten Césaire und des vom Algerienkrieg traumatisierten Fanon gehören hingegen zum Literaturkanon derjenigen, die den Westen gern als Inkarnation des Bösen darstellen.“ (mehr …)Rechtsstaat und Terrorismus. Eine Notiz zum Engagement von Annie Ernaux
Im deutschen Feuilleton gibt mitunter das Halbwissen die Marschroute vor, sobald Annie Ernaux’ politisches Denken zur Sprache kommt: Hilmar Klute hat am Samstag in der Süddeutschen Zeitung zwei engagierte Schriftsteller nebeneinandergestellt und kam dabei zu eindeutigen Kurzschlüssen. Während er Heinrich Böll in gleißendem Licht erstrahlen lässt, wirkt Ernaux nur wie ein müder, opportunistischer, politischer unappetitlicher Abklatsch des streitfreudigen Intellektuellen. (mehr …)Wirecard und die FAZ
In Frankfurt wird im Sitzen gearbeitet, und zwar auf dem hohen Ross. Derart gesattelt versteht sich die FAZ auf die seltene Kunst des Ausmistens von oben herab, gleichsam ohne Bodenkontakt. Genug zu tun gab es in den letzten Wochen: Das Unternehmen Wirecard hat sich als Saustall erwiesen. In ihrem Leitartikel vom 19. Juni 2020 forderte Inken Schönauer daher drastische Konsequenzen: „Wirecard gehört nicht in den Dax. Das Unternehmen gehört nicht an die Börse, und ob es überhaupt noch eine Berechtigung am Markt hat, darüber werden Kunden und am Ende vielleicht sogar Gerichte entscheiden.“ Markus Braun, der „Mann an der Spitze“, sei „fehl am Platz“. Inzwischen ist der Vorstandsvorsitzende zurückgetreten, festgenommen und wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Das Unternehmen hat heute Insolvenz angemeldet – eine traurige Premiere für ein Dax-Unternehmen. (mehr …)Bodo, genannt der Rote
Thüringen sei Dank: In den letzten Tagen gab es reichlich Anschauungsunterricht zu den fließenden Übergängen von der liberalen zur rechten Machtpraxis. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unter den Wählern in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren beträchtliche Migrationsbewegungen von der Linkspartei zur AfD gegeben hat. Wer behauptet, die viel beschworenen einfachen Leute seien für rechte Politik nur empfänglich, weil ihnen die Ideologie der Kapitalisten die Sinne und damit das Bewusstsein ihrer eigenen Interessenlage benebelt hat, macht es sich zu einfach. (mehr …)All nice people, like Us: Handke und die Nobel-Gesellschaft
Klar, ausschlaggebend für den Literaturnobelpreis ist nicht nur die ästhetische Qualität eines Werkes, sondern auch dessen idealistisch-humanistische Ausrichtung. Aber der Vergleich von Handke und Knut Hamsun, der jetzt gelegentlich bemüht wird, hinkt doch nicht nur in chronologischer Hinsicht. Der Vorwurf, den Saša Stanišić mit seinem eigenen Überleben verbürgt, lautet Komplizenschaft durch Beschönigen, Unterschlagen, Verfälschen des Stattgefundenen. (mehr …)Wir gratulieren: Heinrich-Mann-Preis 2019 an Danilo Scholz
„Danilo Scholz ist ein ebenso kenntnisreicher wie leichtfüßiger und witziger Intellektueller, der die öffentliche Debatte mit begrifflicher Schärfe und brillanter Formulierungskunst bereichert. Scholz ist ein europäischer Geist, […] nicht zuletzt seine Vertrautheit mit der französischen Szene macht ihn als Vermittler und Polemiker zu einem würdigen Nachfolger Heinrich Manns im Kampf gegen deutsche Provinzialismen“, so heißt es in der Begründung der Jury. Auto dalys internetu iš ŠIAULIŲ AUTODOTA. Zur Feier des Anlasses haben wir eine Sonderseite mit allen Merkur-Beiträgen von Danilo Scholz eingerichtet, inklusive seiner furiosen Blogartikel und eines Videogesprächs in unserer Reihe Zweite Lesung. Wir wünschen viel Vergnügen.„Was in der Welt vorgeht: um ehrlich zu sein, muss ich Dir sagen, dass meine primitive, allererste Reaktion ist, das Ganze unheimlich interessant zu finden“: Anne Weils Briefe an Hannah Arendt
In Dissertationsverteidigungen von Freunden wurde, eher mechanisch Trends folgend als aus politischer oder intellektueller Leidenschaft heraus, die Frage gestellt: Wo ist hier Gender in ihrer Promotion? Und wo das Postkoloniale? Der Forschungsgegenstand gab dazu wenig her, die Diskussion war dürftig, dazwischen lähmte peinlich berührtes Schweigen den Saal. Nee, so nicht. (mehr …)Riss und Respekt
In manchen Kreisen ist man pikiert darüber, wenn nun jeder Schulz oder Scholz seinen Ernst Jünger zitiert. But I can’t help it.
(mehr …)Das Europa der Alten
In wohl keinem Land der EU wird die intellektuelle Europadebatte in solch einem Ausmaß von den Siebzig- und Achtzigjährigen dominiert wie in Deutschland: Man ist alt und man ist unter sich. An die Öffentlichkeit dringen Texte, die nicht selten wie Gesprächsprotokolle aus dem greisen, weisen Elfenbeinturm wirken. In der illustren Runde finden sich regelmäßig Jürgen Habermas, Dieter Grimm und Heinrich August Winkler zusammen. Als Quotenjungspund darf sich Herfried Münkler kurz zu den Geronten gesellen; ihm wird zumindest bei Winkler ein Platz eingeräumt. "Nachgeborene (allesamt über fünfzig), die sich wie Ulrike Guérot und Robert Menasse für mehr oder anderes als den postklassischen Nationalstaat interessieren oder als Journalisten Merkels kurzlebige Politik der offenen Grenzen begrüßten, stehen schnell im Verdacht, zu den „falschen Freunden Europas“ zu gehören, so Winklers Formulierung im Spiegel vom 21. Oktober." (Nichts verunsichert mich so sehr wie die deutsche Ordinarienuniversität und ihre Atavismen. Ihre Rituale, ihre Hierarchien, ihr Habitus, ihr Entre-soi, ihre Codes. Es ist Korporatismus der unangenehmeren Sorte, der sich der Öffentlichkeit nicht aussetzt, sondern sich ihr überstülpt. Dieter Grimm spricht ohnehin lieber vom „Publikum“. Ich halte das kaum aus, will die Leute sofort von ihrem Podest stürzen, fühle stark den Drang, mich daneben zu benehmen. Affekte des Dorfkindes und Bauernenkels: Make Germany Thomas Müntzer again.) In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. November 2017 war es an Dieter Grimm, einem international renommierten Kenner des EU-Rechts, Emmanuel Macrons Forderung nach einem „souveränen“ Europa zurückzuweisen. Im Anschluss an seine in Europa ja – aber welches? vorgebrachten Überlegungen führt Grimm zunächst eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Souveränität und Hoheitsrechten ein. [2. Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München: C. H. Beck, 2016, S. 49-70.] Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union können einzelne Hoheitsrechte abtreten, ohne dass ihre Souveränität daran Schaden nimmt, wie auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag bekräftigte. Wer anderes behauptet, liege schlicht „falsch“, schreibt Grimm. Und damit war das Thema scheinbar abgehakt. Doch wird man den Eindruck nicht los, hier werden Rückzugsgefechte geführt.. Dass die EZB – also eine Zentralbank, der kein europäischer Staat gegenübersteht – seit ein paar Jahren als Lender of last resort agiert, wäre für viele Theoretiker des postklassischen Nationalstaates vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen. Heute versucht man sich zu beruhigen. Draghi habe höchstens ein monetäres Hoheitsrecht an sich gezogen, aber doch keinen Souveränitätspol ausgebildet. Dass die Mitgliedsstaaten diese Volte veranlasst hätten, lässt sich nicht behaupten. Im Juni 2015 registrierte Habermas in der Süddeutschen Zeitung, dass Entscheidendes vor sich ging. Draghi simulierte eine „Fiskalsouveränität […], die er gar nicht besaß“. Die EZB „musste vorpreschen, weil die Regierungschefs unfähig waren“. Es ist seltsam, dass bei Fragen zur Lage der EU und der Eurozone, die auf dem ganzen Kontinent kontrovers diskutiert werden, der Verweis auf das Karlsruher Orakel mit großer Selbstverständlichkeit Letztgültigkeit beansprucht, und zwar nicht nur für die deutsche Europapolitik, sondern für die Auseinandersetzung über die EU tout court. Grimm sieht das Bundesverfassungsgericht oft in Notwehr handeln, weil der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sich über Jahrzehnte als Motor der europäischen Integration verstand und die Verträge zu Lasten der Mitgliedstaaten auslegte. So fällten die europäischen Richter 1963 und 1964 weitreichende Urteile, die europäisches Recht zunächst für unmittelbar anwendbar in den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erklärten und ihm anschließend sogar ein Vorrecht gegenüber nationalem Recht einräumten. (lesen ...)Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen […] – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – […] wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon – anders kommt!
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse