„Was in der Welt vorgeht: um ehrlich zu sein, muss ich Dir sagen, dass meine primitive, allererste Reaktion ist, das Ganze unheimlich interessant zu finden“: Anne Weils Briefe an Hannah Arendt

In Dissertationsverteidigungen von Freunden wurde, eher mechanisch Trends folgend als aus politischer oder intellektueller Leidenschaft heraus, die Frage gestellt: Wo ist hier Gender in ihrer Promotion? Und wo das Postkoloniale? Der Forschungsgegenstand gab dazu wenig her, die Diskussion war dürftig, dazwischen lähmte peinlich berührtes Schweigen den Saal. Nee, so nicht.

Nur woher weiß ich, dass ein Thema diesen Fragestellungen nicht zugänglich ist? Ich hatte mich damit abgefunden, dass in meiner Diss zur Staatsfeindlichkeit im französischen Denken eine geschlossene Männerriege auftritt. Hatte ich jemals was anderes erwartet? Mein Blick auf den Stoff, der sich damit tröstet, ein bestimmtes Feld – französische Intellektuelle, der Staat, der Kalte Krieg und die europäische Einigung – einigermaßen abgesteckt zu haben, übersieht erstaunlich viel, ohne dass ihn das störte oder überhaupt auffiele.

Einer der großen Neo-Hegelianer in Frankreich, der den russischstämmigen Alexandre Kojève schon aus Berliner Zeiten in den zwanziger Jahren kannte, war Éric Weil. Um mehr über ihn zu erfahren, begann ich auch, mich mit seiner Frau Anne Weil, geb. Mendelsohn, zu beschäftigten. Es stellte sich schnell heraus, dass sie eigentlich interessanter war als er.

Sie hatte wie Weil bei Cassirer studiert, als Jüdin Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers jedoch verlassen. Ihre beste Jugendfreundin war Hannah Arendt, der Anne Weil in den dreißiger Jahren in Paris wiederbegegnete. Zum Bekanntenkreis der beiden zählt das Ehepaar Herta und Erich Cohn-Bendit, von deren Sohn Daniel man seit den sechziger Jahren öfter hören würde. Die beiden Frauen blieben Zeit ihres Lebens in Kontakt. Eine Auswahl der Briefe ist letztes Jahr bei Piper unter dem etwas unglücklich gewählten Frauenzeitschriftentitel Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen erschienen.

Als Arendt um einen Lebenslauf bittet, da sie hofft, ihrer Freundin ein Stipendium für einen USA-Aufenthalt zu vermitteln, führt Anne Weil für den Zeitraum von 1941 bis 1944 lakonisch folgende Tätigkeit auf: Résistance. Gemeinsam mit ihrer Schwester Catherine irrt sie durch das besetzte Frankreich und findet Zuflucht in einem Taubenhaus (pigeonnier) im südwestfranzösischen Souillac, den sich die Geschwister, die dort unter Tarnnamen leben, mit zahlreichen Tieren teilen. Für den französischen Widerstand übernahm sie in dieser Zeit immer wieder Kurierdienste. Ihre Bleibe müssen die Schwestern jedoch fluchtartig verlassen, nachdem Éric Weil, der (als mittlerweile französischer Staatsbürger) in einem deutschen Kriegsgefangenenlager interniert war, einen Brief an seine Gattin versehentlich mit deren Klarnamen versieht. Das Risiko, von den nationalsozialsozialistischen Besatzern enttarnt zu werden, war zu groß.

Wie kärglich und belastend sich die Lebensumstände während der Kriegsjahre gestalten, darüber berichtet Anne Weil in einem Brief vom August 1941: „Ich habe das Gefühl, mehr und mehr in einem Schlamm von Vernachlässigung, Schmutz, Idiotie und Feigheit zu versinken.“ Doch schon im April 1945 – Paris war bereits im Sommer des Vorjahres befreit worden – scheinen diese Erfahrungen in unendlich weite Ferne gerückt: „Das wird immer unwirklicher, diese ganze Zeit des Landstreicherlebens, der Kameradschaft, der permanenten Angst.“

Frappierend ist die nach dem Krieg bewusst außerhalb der jeweiligen Ehen angesiedelte Freundschaft zwischen Arendt und Weil: Man trifft sich zumeist ohne Gatten, Arendt hält Éric Weil ohnehin für ein herrschsüchtiges Arschloch. Sind Mann und Schwester doch mit dabei, wird es seltsam, wie Arendt gegenüber einer Freundin bekundet: „Die Verhältnisse im Hause von Annchen beyond belief. Langes Gespräch mit ihrer Schwester, die mir die Strindbergatmosphäre aufs schönste klarmachte. Das ganze mit leichtem Einschlag von insanity.“ (Dass in einer Beziehung etwas entschieden falsch läuft, merkt man spätestens dann, wenn Freunde sich vor der „Strindbergatmosphäre“ gruseln – härter geht’s nicht.)

Zudem war Anne Weil berufstätig, erst im französischen Wirtschaftsministerium, dann als Delegierte beim GATT in Genf. Schließlich landete sie bei der Montanunion und half ab 1956 beim Aufbau der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Man erhält bemerkenswerte Einblicke in das Durcheinander, das geherrscht haben muss, als 1968 die drei europäischen Organisationen (Montanunion, Euratom und EWG) in eine einheitliche Verwaltungsstruktur überführt wurden. Weil war froh, in Rente zu gehen und bekundete gegenüber Arendt, dass die „pourriture des Common Market“ den Abschied leicht mache:

„Die Zusammenlegung der drei Verwaltungen hat nicht nur ein unbeschreibliches Chaos geschaffen; es hat auch einen Wasserfall von Intrigen, Machtkämpfen, wilden Verleumdungen hervorgerufen, und eine Serie von Zusammenbrüchen, Selbstmorden auf der Seite derer, die die Unsicherheit und den Druck nicht aushalten. In einer Generaldirektion sitzen zwei Generaldirektoren. Einer, der hofft, ernannt zu werden. Einer, der fürchtet, abgebaut zu werden. Höflich machen sie von jedem Papier, das ankommt, eine Photokopie und schicken sie zum anderen. Sie antworten dann beide oder gar nicht. Mein Kommissar macht es viel einfacher. Er liest kein Papier und antwortet nie. Besteht aber darauf, über alles ein Papier zu bekommen. So sieht es von innen aus.“

Dabei hatte sie dem Wechsel in die europäischen Institutionen noch 1955 zuversichtlich entgegengeblickt: „Das Spiel und Gegenspiel zwischen Supra-Nationalität und Regierungen […], das ich solange von der nationalen Seite mitgespielt habe, möchte ich gern mal von der anderen Seite sehen.“ Selbst das Aushandeln technischer Details, das zum institutionellen europäischen Alltag gehörte, faszinierte sie. Gegenüber hochfliegenden Phrasen wirkte das administrative Kleinklein erdend: „Von Zeit zu Zeit versuche ich, mir klarzumachen, was ich eigentlich hier mache, und dann fangen natürlich alle anscheinend zweifellosen Sachen an zu schwimmen: Europa, westliche Zusammenarbeit, Schwächung der Nationalitäten – alles scheint zweideutig und fragwürdig. Trotzdem gibt es ein paar Sachen, die mir wieder Mut geben und wo ich mich auf festem Land fühle: Samenaustausch, Seuchenbekämpfung, einheitliche Schrankenwindungen auf europäischer Basis scheinen mir eindeutig und vernünftig, und ich bin ganz zufrieden, da meine Hände dringehabt zu haben.“

In Brüssel muss sie sich zunächst gegen Widerstände durchsetzen. Ihre Berufung ist alles andere als ausgemacht: Warum solle ausgerechnet eine Frau die nötigen Kompetenzen  mitbringen? Nach und nach wird Anne Weils Einfluss auf europäischer Ebene spürbar, was sie selbst am meisten zu verwundern scheint: „Komisch ist, dass ich anfange, hier etwas graue Eminenz zu spielen und meine weisen politischen Bemerkungen, die bescheiden in Frageform im kleinsten Kreise gemacht werden, wörtlich in offiziellen Äußerungen […] wiederfinde.“ Mit großem taktischen Geschick entkräftet sie im Zuge der Verhandlungen, die zur Unterzeichnung der Römischen Verträge führen, Bonner Vorbehalte und gibt im Kampf um den Wortlaut der Dokumente nicht klein bei: „Nur fürchte ich immer mehr, dass der Erfolg ein ziemlich rein deutscher sein wird. – Was die Formulierung des Vertrags angeht, da habe ich ein bisschen was erreichen können. Und das hat Spaß gemacht.“

Auf den Brüsseler Fluren begegnet ihr die deutsche Politprominenz. So führte sie ein längeres Gespräch mit Willy Brandt nach dessen Ernennung zum Außenminister im Jahr 1966. Brandt wirkte „vergnügt und offen“. Er „hatte in der Sitzung zum ersten Mal von der neuen Ostpolitik gesprochen, einfach und vernünftig, und der ganz Saal (Außenminister der 6 + England) hatte das Gefühl, dass da wirklich jemand etwas entscheidend Neues, und Mögliches, ins Auge fasste. Er machte keinen Hehl daraus, dass er vor seiner eigenen Courage etwas Angst hatte. In der darauf folgenden Woche, der ersten seines Ministeriums, hörte ich ihn wieder, sehr viel weniger einfach und überzeugend, […] als hätte er inzwischen in Bonn heftig eins auf die Nase bekommen.“

Bisweilen begleitet sie Éric Weil, inzwischen Philosophieprofessor in Lille, auf Reisen nach Deutschland, wo ihr alte Bekanntschaften über den Weg laufen, die mittlerweile zu akademischen Honoratioren aufgestiegen sind. Anne Weils Ton, die schonungslose Präzision in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sind beeindruckend. Im Brief an Arendt vom 8. Dezember 1962 heißt es:

„Vorigen Monat eine kuriose Reise in die Vergangenheit […]. Die Universität Münster hat sich mit der Universität von Lille verschwistert, und dazu fuhr eine Delegation von Lille nach Münster. Ich mit. Unter den Festivitäten auch die Rektoratsübergabe. Der neue Rektor: mein alter, sehr intensiver Flirt Jochen [Joachim] Ritter, den ich seit 23 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gewissermaßen unverändert, Tonio Kröger, nur ganz leise schrumplig. Auf dies Wiedersehen war ich vorbereitet, aber nicht darauf, auf einem Bankett neben mir Ernst Lichtenstein aus Braunsberg zu finden, der mich in meinem 2. Semester in Königsberg anbetete. Auch Philosoph, und Dekan der Fakultät. So dass ich in der Professorenversammlung bei der Rektoratsübergabe vor mir sah: Jochen Ritter, in rotem Samt mit Goldstickerei, Lichtenstein, in violettem Pelz, und Weil, in dicker gelber faltiger Seide. (Die französischen Talare sind von David entworfen, barbarisch prunkvoll. Weil hatte seinen von der Fakultät gepumpt.) Lichtenstein hat auf mich, ganz wie du, mit einer Art von Entsetzen und Empörung reagiert. Wie konnte ich ihm das antun, alt und dick geworden, und nicht mit 19 Jahren an der Auszehrung gestorben zu sein? Letzteres, das weiß ich, denkst du nicht eigentlich. Er tat mir leid – versuchte so mannhaft und erfolglos seine Enttäuschung zu verbergen …“

Kojève, den sie in Brüssel regelmäßig sah, mochte sie sehr, aber nicht im Modus intellektueller Unterwerfung. Sie ist die einzige mir bekannte Person, die, als sie 1968 die Nachricht von seinem Tod erhält, an die Unsicherheiten des Philosophen denken muss:

„Für mich persönlich kommt dazu, dass gestern unser alter Freund Kojève, den du ja auch kennst, hier in Brüssel gestorben ist. Schön für ihn, der eine entsetzliche Angst vorm Altwerden hatte, aber doch ein heftiger Schock.“