• Ein befremdlich freundlicher Aktivismus. Einige Gedanken nach einem Besuch der documenta 15 an ihrem vorletzten Wochenende

    1 Was zuerst auffällt, ist die Leere. Die zentralen Plätze, die bei vergangenen documenta-Ausstellungen mit spektakulären, raumgreifenden Werken gefüllt waren, bleiben dieses Mal leer. Oder fast leer: Auf dem Friedrichsplatz steht in der Mitte seltsam verloren ein Zelt, wie man es aus Flüchtlingslagern wie Moria zu kennen meint, das durch ein kleines Schild als „Aboriginal Embassy“ gekennzeichnet ist; auf der Rasenfläche vor der Orangerie steht zentral ein weiteres kleines Zelt aus Naturmaterialien (Yakhaar, so lernen wir aus dem Katalog), das von außen mit keiner Markierung seinen Zweck zu erkennen gibt. (mehr …)
  • Meine Irrtümer beim Schreiben über Fehler. Über bellizistischen Autismus und methodischen Populismus

    Erwiderung auf den Artikel von Franziska Davies im Merkur Sept. 2022 Zugegeben: mein Versuch, im Merkur ein wenig über Fehler in der Politik zu räsonieren, ist gescheitert. Er war kein Fehler, den kann man korrigieren; schlim­mer, er war ein Irrtum. Der Irrtum bestand in der Überzeugung, mit jenen Überle­gungen gewisse analytische Unterscheidungen in die Diskussion einführen zu können, die das Denken und Sprechen über den rus­sischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zumindest unter In­tel­lek­tuellen aus der Sphäre des ebenso fruchtlosen wie langweiligen Glaubens und Meinens auf einen Pfad zu lenken, auf dem ein Stück weit die Reflexion über das Glauben und Meinen möglich sei. (mehr …)
  • Ikonografie am Scheideweg. Ein Dialog zur documenta fifteen (31. August 2022)

    .A: Was hat Dich an der ganzen Documenta-Entwicklung dieses Jahres eigentlich so aufgeregt? B: Zuerst der Schrecken, als ich die Bildmotive von Taring Padi zu Gesicht bekam. Einige Wochen später hörte ich von einem befreundeten Indonesienexperten, dass es tatsächlich ein Mitglied von Taring Padi gab, das im übelsten Sinne von Verschwörungstheorien über Juden, die überall auf der Welt die Strippen ziehen, überzeugt war. Es kann gut sein, dass dieses Mitglied, das nicht mehr lebt, die entsprechenden Bildelemente beigesteuert hat. (mehr …)
  • Untaugliche Versuche

    Aus einer rechtswissenschaftlichen Dissertation aus dem Jahr 1913: »So wird z.B. regelmäßig der Tatbestand der versuchten Abtreibung nicht vorliegen, falls der verbrecherische Angriff sich gegen eine nur in der Vorstellung des Täters existierende Leibesfrucht richtet. Das gilt aber nicht ausnahmslos. Wie von Liszt den strafbaren Versuch der Abtreibung dann als gegeben erachtet, ›wenn das Vorhandensein einer Schwangerschaft nicht völlig ausgeschlossen erscheint‹, so kommen auch wir nach unseren obigen Deduktionen zum gleichen Resultat, indem wir das Tatsachenwissen des Täters und das Erfahrungswissen der Allgemeinheit unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles darüber entscheiden lassen, ob die Existenz resp. Tauglichkeit des Objektes gegeben war oder nicht. (mehr …)

  • Vogelfederleichtigkeit

    Im eintönigen Grau der Halle sitzt eine schmale Frau in leuchtend rotem Mantel. Sitzt regungslos, allein, als feuriger Farbfleck in der dämmrigen Zwischenwelt des Flughafens Marco Polo in Venedig. Auch ich bin – wie die Dame – zu früh am Zürich-Gate. Sie ist die Witwe eines Schweizer Schriftstellers, der es noch zu Lebzeiten in den Schulstoff geschafft hatte. Ich setze mich ein paar Reihen hinter die Frau in eine der Hartplastikschalen. Wir beide, zwei Witwen, warten ergeben wie vor dem Altar. (mehr …)

  • Konkurrenz oder Koproduktion. Zur Erinnerung an Holocaust und Kolonialverbrechen

    Die Kritik an der deutschen Holocaust-Erinnerung ist so alt wie diese selbst. Dabei war und ist die Stoßrichtung der Kritik immer auch Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Kontroversen. So wird seit einigen Jahren im Kontext einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft die These geäußert, dass die Aufmerksamkeit auf die Schoah die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit in Deutschland behindert habe. Um dies zu plausibilisieren, verweisen Forscherinnen auf ein Modell der Aufmerksamkeitsökonomie, demzufolge der Holocaust »die Aufmerksamkeit von Historikern und Kulturwissenschaftlern beansprucht [habe] und im Vergleich andere Fluchtlinien der deutschen Geschichte als marginal erscheinen« lasse.1

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  • Die Irrtümer der Soziologie

    Der Zeitraum der Menschheitsgeschichte, in dem man sich in Europa voller Überzeugung als »modern« bezeichnen konnte, umfasst kaum hundert Jahre, von den Umbrüchen der 1870er bis zu denen der 1970er Jahre. Es war eine Ära, in der der bürokratische Nationalstaat das stabile Bauelement geopolitischer Macht, der Wohlfahrtsstaat das Modell sozialer Gerechtigkeit schien. Die liberale Demokratie sollte sich durch die stetige Ausweitung des Wahlrechts und der gesetzlich geschützten Menschenrechte verwirklichen. (mehr …)

  • Post vom Volk. Geschichtskolumne

    er als einfache Staatsbürgerin der eigenen Stimme politisches Gehör verschaffen möchte, hat in der liberalen Demokratie die Qual der Wahl. Sie kann eine Petition an Behörden oder Institutionen richten, eine Demonstration organisieren, eine Initiative ins Leben rufen oder gleich eine Partei, eine Zeitung, eine Online-Plattform oder einen YouTube-Kanal gründen. Die Mittel, die bereitstehen, wenn die Fiktion der Repräsentation durch gewählte Abgeordnete und durch politische Parteien nicht mehr verfängt, erfordern keine Mehrheiten. Doch sie verlangen eine kritische Masse an Mitstreiterinnen, um die Chance auf Resonanz zu erhöhen. (mehr …)

  • „Die DDR hat’s nie gegeben“. Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte

    Im Frühjahr 2020 fand sich Achille Mbembe überraschend im Mittelpunkt einer explosiven Debatte wieder. Dem Kameruner Historiker und postkolonialen Vordenker, der für den Eröffnungsvortrag auf der Ruhrtriennale eingeladen war, wurde vorgeworfen, den Holocaust relativiert zu haben. In den deutschen Feuilletons nahm ein handfester Streit seinen Anfang, der sich weniger um Mbembe selbst und sein Werk drehte, als das Verhältnis von Holocaust-Erinnerung und postkolonialem Gedächtnis neu zu vermessen. Diese Auseinandersetzung, so zeigte zuletzt der Skandal um antisemitische Bilder bei der documenta fifteen, hält weiterhin an. (mehr …)

  • Erfolgsgeschichte Bundesrepublik. Vom Anfang und Ende einer Meistererzählung

    »Wir sind ein sehr erfolgreiches demokratisches Entwicklungsland.« Mit dieser überraschenden Formel brachte Christoph Möllers seine Wahrnehmung der Bundesrepublik im Jahr 2008 auf den Punkt, während die Republik im Schatten der Weltfinanzkrise auf ihr sechzigstes Gründungsjubiläum zusteuerte. »Wir«, die Exportweltmeister; »wir«, die Weltmeister im Bewältigen von Diktaturen; »wir«, der Anker demokratischer Vernunft in der Mitte Europas – ein Entwicklungsland? (mehr …)