Meine Irrtümer beim Schreiben über Fehler. Über bellizistischen Autismus und methodischen Populismus

Erwiderung auf den Artikel von Franziska Davies im Merkur Sept. 2022

Zugegeben: mein Versuch, im Merkur ein wenig über Fehler in der Politik zu räsonieren, ist gescheitert. Er war kein Fehler, den kann man korrigieren; schlim­mer, er war ein Irrtum. Der Irrtum bestand in der Überzeugung, mit jenen Überle­gungen gewisse analytische Unterscheidungen in die Diskussion einführen zu können, die das Denken und Sprechen über den rus­sischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zumindest unter In­tel­lek­tuellen aus der Sphäre des ebenso fruchtlosen wie langweiligen Glaubens und Meinens auf einen Pfad zu lenken, auf dem ein Stück weit die Reflexion über das Glauben und Meinen möglich sei. Immer­hin erfahre ich irrtumsfrei, dass ich zu jener Kategorie von „Wissen­schaftlern und Intellektuellen“ gehöre, „die bisher nicht mit eigenen For­schungs­­bei­trägen zu Geschichte und Gegenwart der Ukraine oder Russlands auf­gefallen sind, sich nun aber meinungsstark zu Wort melden“. Hier stoße ich bereits auf meinen ersten Irrtum, nämlich meine beim Schreiben bis hin zum Kor­rek­turlesen des Textes ge­hegte Gewissheit, nicht für ein Fachorgan der deutschen Osteuro­pa­for­schung zu schreiben, sondern für ein Forum geistiger Ausein­andersetzung unter Intellektuellen. Wenn mich meine Erin­ner­ung an die von mir geteilte De­finition Jean-Paul Sartres nicht trügt, gilt für Intellektuelle, dass die Gültigkeit der Aussagen ebenso wie ihre Anfechtbarkeit nicht auf einem fachlichen Expertentum, sondern an den Maßstäben einer hypothetischen allgemeinen Vernunft gemessen wird.

Aber auch in dieser Hinsicht habe ich mich geirrt – ich hatte ge­meint, dass in der Tradition der westlichen politischen und intel­lek­tuellen Kultur die Maßstäbe gelten, wie sie sich zum Beispiel in der Geschichte der politischen Kultur der Europäischen Union entwickelt haben. Das verstand und verstehe ich als „hypothetische allgemeine Vernunft“. Als dann nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukra­ine von einer Zeitenwende gesprochen wurde, da glaubte ich – naiver- und irrtümlicherweise – dass damit die Herausforderung an den Westen gemeint sei, seine bislang für selbstverständlich gehaltenen Vorstellungen von einer friedlichen und gerechten internationalen Ordnung zu verteidigen und sein so oft geprie­se­nes, wenn auch durch die koloniale Erbschaft eingetrüb­tes Ingenium, seine kulturelle Einbildungskraft und politische Phan­tasie zur Geltung zu bringen. So ging ich als Kind dieser europäischen Kultur davon aus, dass, in einer glückli­chen Formulier­ung des italie­nischen Physikers Carlo Rovelli, das Problem von Kriegen nicht darin bestehe, sie zu ge­winnen, sondern sie zu beenden. Die Zeitenwende in der intellek­tuel­len Sphäre scheint jedenfalls – zugegebenermaßen nicht allein in dem Artikel von Franziska Davies – in der Erkenntnis zu bestehen, dass den Ukrainern und dem Westen insgesamt nichts anderes übrig bleibe, als den Krieg zu ge­win­nen, da Putin ihn ja nicht beenden wolle. Das habe ich in meinem Text als phantasielos be­zeich­net, man könnte es auch gewundener ausdrücken: nicht auf der Höhe der intellektuellen und politischen Kultur des Westens. Man darf und sollte doch ein wenig mehr an Problematisierung erwarten. Ich finde sie z.B. bei Karl Schlögel, dem von mir geschätzten, ja bewun­derten exzellenten Vertreter der Osteuropawissenschaft, obwohl ich dessen Meinung zum Ukraine-Krieg keineswegs teile. Man liest bei ihm durchgängig eine geradezu verzweifelte Reflexion über die „Ordnung im Kopf und die Unordnung der Welt“, wenn er seine Reflexionen mit den Worten einleitet: „‚Nie wieder Frieden‘ im Schatten des Krieges in der Ukraine – das klingt wie Hohn, wie eine Provokation, brauchen wir doch nichts dringender als ein Ende des Krieges“. [1. Karl Schlögel Die Ukraine als Kairos. Die Ordnung im Kopf und die Unordnung der Welt, in: osteuropa. Heft 1 – 3/2022] Wegen Beiträ­gen dieser Art lese ich osteuropa mit großem Gewinn.

Was mir den Spaß an der Lektüre des Artikels von Franziska Davies geraubt hat, ist keineswegs die Kritik der Autorin an meiner  Haltung zum Ukraine-Krieg. Was mich irritiert, ist jene unbefangene Selbstsicherheit der Autorin, die man normalerweise dort antrifft, wo Zweifel an der Wahrheit und Richtigkeit einer Mei­nung nicht erlaubt sind und nicht selten geradezu als Zeichen eines Char­ak­termangels gelten. Dabei ist der Duktus ihrer Argumentation kaum geeignet, diese Selbstgewiss­heit zu tragen. Die Grundlage ihrer Selbstgewiss­heit ist ihre Meinung. Die bekräftigt sie dadurch, dass sie meine – mir eher zugeschriebene als explizierte – Meinung bekämpft. Mein Text ist aber gar keine Meinungsäußerung im Sinne eines subjektiven Dafür­haltens. Er ist eine Reflexion über ein Problem, das im Frühjahr dieses Jahres in der deutschen öffentlichen Diskussion auftauchte, ange­stoßen durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es geht in meinem Text um ein demokratietheoretisches Problem.

1.  Wie nimmt Franziska Davies diesen Ausgangspunkt meines Essays wahr? Bei genauer Betrachtung: gar nicht. Obwohl sie ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass die deutsche Russland-Politik des vergangenen Jahrzehnts ein großer Fehler gewesen sei, verliert sie keinen Gedanken zu der von mir vertretenen Unterscheidung zwi­schen einem autoritär-etatistischen und ei­nem zukunftsoffenen, auf Ver­antwortung gerichteten Fehler­begriff und die daraus abgeleitete Fol­gerung, „dass Fehler als Teil der Normalität unseres gesell­schaft­lichen Lebens anerkannt werden, vergleichbar etwa mit Delinquenz oder dem Tod“ – vielleicht betrachtete sie dies ja als eine bloße Mei­nung, während ich in meiner Verblendung meinte, eine sozialstruk­tu­rell und demokratietheoretisch relevante Beobachtung mitzuteilen. Folglich interessiert sie sich auch nicht für die in meinem Text aufge­worfene Frage nach dem Zusammenhang von Fehlerkultur und De­mokratie, den sie als meinen Versuch missversteht, den früheren Außenminister und gegenwär­ti­gen Bundespräsidenten Steinmeier zu verteidigen. Das hängt mit ihrer zum Schluss noch zu besprechenden methodischen Vorliebe für das Konkrete gegenüber dem Abstrakten zusammen, das in ihren Augen freilich gleichbedeutend mit dem Ungefähren, wenn nicht gar mit „intellektuellen Nebelkerzen“ ist.

Ebenfalls reaktionslos blieb der – zugegebenermaßen nur ange­deutete – Hinweis auf die internationale Dimension des Ukraine-Krieges, die in dem vorgespiegelten Tagtraum über die drohende Hun­gerkrise zur Sprache gebracht wurde. Es geht hier nicht um Au­t­oren­eitelkeit. Jene absichtsvoll gewundene Reflexion über Fehler und Fehlerkultur enthielt einen zarten Hinweis darauf, wie man Wichtiges mit schweren Konsequenzen ignorieren kann, wenn man das Pro­blem darin sieht, den Krieg zu gewinnen, statt ihn zu beenden.

2.  Ich kürze ab und gehe nur selektiv auf die Einwände von Franziska Davies ein. Denn ich bemerke, dass wir aneinander vorbei geschrieben haben. Während mein Text von dem aus meiner Sicht wenig reflektierten Verhältnis der deutschen Politik zum Ukraine-Krieg handelt, will Franziska Davies davon nichts wissen. Es gibt da bei ihr nur die Fehler der Vergangenheit, und die stehen fest. Das ist verständlich, denn sie hat nur ein Thema, das zugleich ihr Beruf ist: die Ukraine, Russland und der russische Angriffskrieg. Ihre Kritik an meinem Text: ein Mangel an Fixierung auf ihr Thema. Doch dieses Thema ist doch arg eng. Bei ihr schrumpft die Welt auf die militäri­sche Dimension des russischen Aggres­sions­krieges gegen die Ukraine. Ja, er verengt sich im Grunde auf Russlands Kriegsziele, noch enger: auf Putins Kriegsziele. Davies weist zwar eine Fixierung auf Putin zurück, doch ich lese in ihrem Text „Putin hat mit seiner Entscheidung zum Totalangriff im Februar 2022 …, Putin und seine Entourage zielen darauf ab …“, „erklärte Wladi­mir Putin schon 2014 …“, „2021 publizierte Putin einen pseudo­histo­rischen Essay …“, „Putin sieht sich auf einer historischen Mission …“, „Putins Propagandisten im russischen Staatsfernsehen …“, „… die Grünen, die sich keine Illusionen über den Charakter des Putin-Regi­mes machten …“ – und dann lese ich in ihrer Kritik an meinem Text: Mittels eines rhetorischen Tricks unterstellte ich, „dass sich das aktuelle politische Handeln aus einer Fixierung auf Putin erklären lasse“.

3.  Apropos Sigmund Freud, der sich als Psychoanalytiker nicht zu schade war, sich Gedanken über den Krieg als eine zerstörerische soziale Erscheinung der Politik zu machen: „Weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschen vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit zerstört, u. a. mehr …“. [1. Albert Einstein/Sigmund Freud Warum Krieg? Zürich 1972]

Erstaunlicherweise verliert Franziska Davies, obwohl sie die Fortsetzung des Krieges empfiehlt, weder als mitfüh­lender Mensch noch als professionelle Sozialwissenschaftlerin ein einziges Wort über diese von Freud geschilderte Dimension des Krieges, nicht darüber, wel­che physi­schen und psychischen Verhee­r­ungen der Krieg in den von ihm be­trof­fenen Gesellschaften auslöst – hier also: in der Ukra­ine, ganz zu schweigen von den – nach veröffentlichten Schätzungen – Zehn­tau­senden gefal­lenen russischen Soldaten. Dieses Elend lässt sich so schön in dem zum deutschen Gemeinplatz avancierten Satz verhüllen: „Putin hat absolut keinen Grund, sich auf Verhand­lungen einzulassen, wenn er militärisch nicht dazu gezwungen wird“ [Hervorhebung UKP] – mehr Krieg ist die Antwort auf den Krieg. Was mich erstaunt: diese Antwort kommt nicht von Kriegern, sondern von Intellektuellen. Einer meiner akademischen Lehrer in den 1960er Jahren pflegte, wenn er Sätze dieses Formats aus studentischem Mund (meist aus deren Her­zen) ver­nahm, mit freund­lichem Spott zu äußern: „das ist abendlän­di­sches Einfach­den­ken“. Ich kom­mentiere dieses Zitat etwas gehobener als „bellizisti­sch­en Autis­mus“. Dieser Begriff bezeichnet die Alterna­ti­ve zu dem berühm­ten Clause­witz’schen Dik­tums, dass „der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei.  Die Alter­na­tive des bellizistischen Autismus lautet: Der Krieg ist das Mittel zur Hinhal­tung von Politik.

Das ist natürlich auch eine Spielart von Politik – freilich eine sol­che, die Verstand und Gefühl, Kernelemente des Politischen, aus­schaltet: den Verstand, indem sie die vielfältigen Möglichkeiten der Betrachtung, der Bewertung und der Gestaltung einer internatio­nal im Streit verhakten Konstellation ignoriert, in autistischer Isolierung gar nicht erkennen kann; das Gefühl, indem sie, geimpft mit hoher Dosis an normativer Selbstgewissheit, taub ist gegenüber jenen von Freud benannten uner­mess­lichen Leiden derjenigen, die diesem Krieg ausgesetzt sind. Ge­fühle kommen in dieser Gestalt des bellizistischen Autismus erst zur Geltung, wenn mit Emphase Sätze wie „aber Putin hat doch …“, „Putin will nicht …“ geäußert werden; die Grade und Formen der Erregungszustände in den Diskussionen dieser Fragen einmal beiseitegelassen.

4.  Was nun die kognitiven Defizite jenes bellizistischen Autismus betrifft, so müssen hier einige Stichworte reichen.

Erstens, es ist zwar zutreffend, aber der geschilderten Blickvereng­ung geschuldet, dass es sich bei dem Ukraine-Krieg um einen Vertei­di­gungs­krieg des Westens handelt. Diese Sicht ist auch auf der interna­tio­nalen Bühne ziemlich weit verbreitet. In einer heterogen-pluralen Welt, die schon lange nicht mehr durch die wirtschaftliche, wissen­schaft­liche du kulturelle Dominanz des Westens gekennzeichnet ist, ist diese Wahrnehmung des Krieges aber kein Zeichen von Solidarität, geschweige von Unterstützung, sondern bezeichnet eher einen Ma­kel. In Deutschland sollte spätestens nach dem G-7-Gipfel im Juni auf Schloss Elmau und in der Haltung der dort eingeladenen politischen Führer des glo­ba­len Südens deutlich geworden sein, dass dort der  We­sten selbst unter den dafür noch am ehesten zu interessierenden demokratisch regierten Staaten mit seiner Wahr­nehmung des Ukra­ine­krieges ziemlich ein­sam dasteht. [1. Vgl. Shivshankar Menon The Fantasy of the Free World. Are Democracies Really United Against Russia?, in Foreign Affairs, April 2022] So ist es nicht nur wissen­schafts­methodisch fragwür­dig, son­dern auch politisch unklug, die Analyse des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine im Gehäuse eines westlichen Provinzia­lis­mus vorzunehmen und die Welthaltigkeit der Diskurse unserer Epoche und damit die Realitäten der internatio­nalen Politik zu ignorieren. Es könnten sich daraus hier nicht zu erör­ternde neue Möglich­keiten der Kon­flikt­lösung ergeben, die in der verengten Zuspitzung auf Putin als dem zentralen, letztlich alles entscheidenden Akteur ausgeschlossen sind.

Zweitens, außer für überzeugte Pazifisten – zu denen dieser Autor nicht gehört – bedeutet die Kritik an der Anti-Clausewitz-Praxis des „Krie­ges als das Mittel zur Hinhal­tung von Politik“ durchaus nicht, dass dem Verteidigungskrieg der Ukrainer und dessen militärischen For­men die Legitimität abgesprochen und die Solidarität verweigert wird. Das Problem sind nicht die Ukrainer; das Problem sind die Politiker Westeuropas, die der EU und die ihrer Mitgliedsstaaten, welche gebannt darauf schauen, was Putin tut oder unterlässt, zugleich die Ukrainer inzwischen Krieg führen lassen und die Politik auf die Nach­kriegszeit verschieben. Von Anbeginn des Krieges an hätten sie ihren durchaus möglichen Einfluss ausüben sollen und könnten ihn auch gegenwärtig ausüben, um die USA zu drängen, mit den ihr als Welt­macht zugänglichen Instrumenten auf eine konstruk­tive poli­ti­sche Beglei­tung und Ergänzung des militärischen Vertei­di­gungskrieges der Ukra­iner hinzuwirken – schließlich haben die USA durch ihre Politik nach 1991 einen nicht ganz unerheblichen Anteil an der heutigen  Zuspitzung des Russland-Ukraine-Konfliktes, an dem die Ukraine und ganz Europa heute so schmerzlich leiden. [1. Vgl. die minutiöse historische Rekonstruktion von M. E. Sarotte Not One Inch. America, Russia and the Making of Post-Cold War Stalemate.  New Haven-London (Yale University Press) 2021.]

Drittens, Franziska Davies schreibt (im Tonfall verständnisvoller Ent­rüstung): „Wie kann man einen Staat in eine europäische Sicherheits­ordnung integrieren, der das Fundament dieser Ordnung – die Souv­eränität europäischer Staaten und die territoriale Unverletz­barkeit ihrer Grenzen – eindeutig ablehnt … “ – diese Frage ist wortwörtlich richtig gestellt, mit einer Modifikation der Intonation des ersten Wortes, der zufolge es heißen muss: „Wie kann man einen Staat in eine europäische Sicherheitsordnung integrieren …“ – aus dem Gestus der Empörung wird dadurch ein Modus der Nachdenklichkeit, der Suche, der Mobilisierung des europäischen Ingeniums. So einfach ist das, so schwer ist das.

5.  Zum Schluss noch einige Bemerkungen zu der methodischen Seite unseres Disputes. Franziska Davies nötigt mich dazu, wenn sie mir attestiert, „in einem Jargon der Intellektualität Nebel­kerzen aufzustellen, stets im Abstrakten und Ungefähren zu verblei­ben und sich so der Frage zu entziehen, was denn die konkreten Folgen des Endes westlicher Militärhilfe wäre“.

Oben erklärte ich, dass unser Dissens darauf zurück­zuführen sei, dass wir nicht über dasselbe Thema schrieben. Dies aber folgt letztlich aus einem tiefer liegenden Grund, nämlich der Un­ver­einbarkeit der von uns angewendeten Erkenntnis­me­thoden. Grob vereinfachend könne man sie als den Gegensatz von konkreter An­schauung vs. Abstraktion skizzieren. Es kann und soll hier natürlich keine sozialwissenschaftli­che Methodendiskus­sion geführt werden. Um deutlich zu machen, worum es geht, müssen zwei Zitate aus dem Text von Davies aus­reichen.

Davies beschreibt ihre Methode der konkreten Anschauung ex­emplarisch folgendermaßen: es spreche einiges dafür, dass Emo­tio­nen der Erkenntnis keineswegs grundsätzlich im Weg stünden und macht das am Beispiel der Erkenntnis des genozidalen Charakters des russischen Krieges deutlich. „Das Gespräch vor Ort mit den Betroffe­nen des Kriegs ist zwar aufwühlend, aber vor allem macht diese Orts­kenntnis es sehr viel schwieriger, den genozidalen Charakter dieses Kriegs so beharrlich zu ignorieren, wie es etwa Preuß tut“. Selbst nach dem „Schockerlebnis“ des russischen Angriffskrieges sei es mir und vielen anderen nicht gelungen, „das Ziel des Kriegs zu erkennen“, nämlich Russlands Versuch, die Ukraine als Nation zu vernichten. Ge­ne­rell.

Was genau sie mit einem „Jargon der Intellektualität“ und dem Verbleiben im Abstrakten meint, wird nicht recht klar. Ich vermute, sie zielt damit auf die für die Sozialwis­sen­schaften konstitutive Me­thode, jenen sozialen Sachverhalten, die zu­nächst rein sinnfreie kausale Ereig­nisse sind, Sinn und Bedeutung bei­zumessen und bestimm­ten Akteuren zuzurechnen, um diese als technisch, politisch, moralisch oder juristisch relevante Verursacher zu identifizieren. [1. Hierzu nach wie vor erhellend Max Weber Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (hrsgg. v. Johannes Winckelmann). 3. Aufl. Tübingen 1968] Dies aber setzt bestimmte, Sinn konstituierende Begrifflich­keiten voraus, im Recht z.B. die Begriffe Handlung, Freiheit, Verant­wor­tung, Schuld. [1. J. Hruschka. Strukturen der Zurechnung. Berlin 1976] In meinem Text ging es um die Verantwortungszu­rechnung vergan­gener politischer Entschei­dungen unter der normati­ven Prämisse der Demokratie. Die Kau­sali­täten – welcher Politiker welche Entscheidung z.B. bei der Errichtung von NordStream getroffen hatte – waren klar und erforderten keinen hohen intellektuellen Aufwand. Dagegen verlangte die Zurechnung des Ergebnisses der kausalen Kette, d.h. die Frage der Bedeutung der Ereignisse, eine Reflexion ver­wick­el­­ter Fra­gen der Demokratietheorie. Wenn ich Davies‘ Kritik richtig verstan­den habe, so war auch ihr die Kausalität z.B. für die Er­richtung von Nordstream klar. Das genügte ihr aber schon. Kausa­lität, Sinn, Bedeutung und Zurechnung fielen bei ihr ineins. Alles Weitere interessierte sie nicht. Der Inhalt dieses Weiteren aber war Gegen­stand meines von ihr kritisierten Textes.

Ihre Intervention handelt noch von einer anderen Zurech­nung – der Zurechnung der Urheberschaft für den Krieg zu Putin. Für Diskus­sionen in einer demokrati­schen Öffentlich­keit wird jedoch mehr als die Präsentation einer für jedermann er­kenn­baren eindimensionalen Kausalbeziehung verlangt. Denn kein von Menschen bewirktes kausa­les Ereignis spricht für sich selbst, trägt keineswegs seine Bedeu­tung gewissermaßen auf der Stirn.

Zum Bei­spiel: Welche Bedeutung hat der auch von Davies bestätigend verwendete Begriff der „Zeitenwende“ im Zusam­menhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – worin besteht dieser behauptete Epochenwechsel, für wen gilt er (nur für Europa? für den „Westen“? global?), was hat sich verändert? Es kann ja wohl nicht der Schock über die bloße Tatsache dieses zweifellos verwerflichen und völkerrechtlich geächteten Angriffs sein. Dieser Krieg löst nicht nur Empörung und Schrecken aus, sondern vor allem Fragen – dafür sind intellektuelle Debatten notwendig. Wer bereits alle Antworten kennt, für den ist die Teilnahme an ihnen allenfalls eine Gelegenheit, seine/ihre Antwort als einen Rocher de bronze zu setzen. Welche Fragen? Nun, zum Beispiel die nach den struk­turellen, im Unterschied zu den kontingenten Ursachen des Krieges, nach dessen Dynamik und den sich daraus entwickelnden Erschei­nungs­formen von menschlicher Grausamkeit, den tatsäch­lichen und mög­lichen Folgen des Krieges nicht nur für das eigene Land, sondern für die durch Globali­sierung geschrumpfte, dadurch komplexer gewor­de­ne Welt. Zu all diesen und weiteren Fragen gibt es seriöse wissen­schaft­liche Literatur. Die Perspektive der exzel­len­ten Zeitschrift „osteuropa“ gehört dazu – sie bietet ihre Perspektive auf die Welt. Doch die Welt besteht nicht nur aus Osteuropa.

Auch mein Text erfüllt keines­wegs diese Kriterien. Sein Focus ist das eher marginale, im politischen Kontext der deutschen Diskussion aber vorübergehend in den Mittelpunkt gerückte Thema der Fehler­verant­wortlichkeit in der Demokratie. Doch immerhin spiegelt sich da­rin das darin geltend gemachte Desiderat, dass diese Fragen bei der Behandlung des Ukraine-Krieges nicht übergangen werden soll­ten – jedenfalls nicht in dem Essay einer „Zeitschrift für europäisches Denken“, in der nach meiner Vermutung im­mer­hin erstmals seit de­ren Gründung der Krieg als Mittel der Politik empfohlen wird.

Vor knapp zwei Jahrzehnten veröffentlichte der MERKUR ein Doppelheft unter dem Titel „Wirklichkeit! Wege in die Realität“, in dem die damaligen Herausgeber den von ihnen beobachteten For­men des „Wirklichkeitverlustes“ nachspüren wollten. Den Auftakt der Beiträge bildete ein Essay von Hans Ulrich Gumbrecht unter dem Ti­tel „Diesseits des Sinns. Über eine neue Sehnsucht nach Substan­tia­li­tät“. [1. Merkur, Nr. 677/678 Sept./Okt. 2005k] Mit der Suche nach Substantialität meinte er die Suche nach der „Ge­gen­ständlichkeit des Lebens in der modernen Welt“. Ich deute das als die Sehnsucht nach dem Konkreten, Greifbaren. Mir scheint, dass diese Sehnsucht nach dem Konkreten die Intervention von Franziska Davies geleitet hat. Ihr nachzugeben ist eine be­son­ders verführeri­sche Form des Wirklichkeitsverlusts. Man könnte, im Geiste Gum­brechts, diesen Suchvorgang auch als einen „methodischen Popu­lis­mus“ bezeichnen.