• Unfälle der Digitalisierung

    In vielen Bereichen meiner Universität, die Opfer eines Angriffs auf ihre digitale Infrastruktur geworden ist, kann man derzeit die Wiederkehr des Analogen, des Präsentischen innerhalb der Ära der Digitalisierung beobachten. Es ist die Wiederkehr der prädigitalen Universitätskommunikation. Die Universität ist wie früher: Sprechstunden werden über Zettel an der Bürotür bekanntgegeben, der Lehrkörper ist bis auf die geforderte Präsenz in den Lehrveranstaltungen und in den Sprechstunden nicht erreichbar, korrigierte Hausarbeiten werden per Post versendet, aus PDFs in digitalen Semesterapparaten, auf die man von überall aus Zugriff hatte, werden Kopiervorlagen in Aktenordern, die in Regalen in der Bibliothek stehen. Die Dauerkommunikation der digitalisierten Universität scheint für wenige Augenblicke angehalten worden zu sein. (mehr …)
  • Rechtsstaat und Terrorismus. Eine Notiz zum Engagement von Annie Ernaux

    Im deutschen Feuilleton gibt mitunter das Halbwissen die Marschroute vor, sobald Annie Ernaux’ politisches Denken zur Sprache kommt: Hilmar Klute hat am Samstag in der Süddeutschen Zeitung zwei engagierte Schriftsteller nebeneinandergestellt und kam dabei zu eindeutigen Kurzschlüssen. Während er Heinrich Böll in gleißendem Licht erstrahlen lässt, wirkt Ernaux nur wie ein müder, opportunistischer, politischer unappetitlicher Abklatsch des streitfreudigen Intellektuellen. (mehr …)
  • Zum Hauptwerk des Sprachkritikers Werner Böhm

    Jetzt nicht nachlassen. Auch die Startnummer sieben muss ordnungsgemäß anmoderiert werden. Dass es korrekt zugehen soll, macht Dieter Thomas Heck in dieser 1981er Folge der ZDF-Hitparade schon dadurch deutlich, dass er den zweiten Vornamen von Gottlieb Wendehals nennt: Viele wissen gar nicht, dass er Herbert lautet. Das kann ja auch leicht untergehen, denn schließlich, so zitiert Heck unmittelbar Wendehals, fliegen hier gleich die Löcher aus dem Käse. In einem Ausschnitt der Sendung, den »mdftrasher« auf YouTube eingestellt hat, kann man verfolgen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. (mehr …)

  • Spiegelerlebnis mit Zeugen

    Walter Cronkite war bei CBS über Jahrzehnte hinweg der Moderator, der aus besonders aufregenden oder heillos verwickelten Lagen eine verständliche Geschichte machen konnte. Virtuos reduzierte er die Komplexität großer Ereignisse auf ein handliches und allgemein anschlussfähiges Deutungsangebot. Das war auch am 27. Dezember 1968 der Fall. Soeben hatten drei Menschen die Rückseite des Mondes mit eigenen Augen gesehen. Frank Borman, William Anders und James Lovell konnten sogar vom Sonnenaufgang auf dem Mond berichten. Und sie zeigten einem globalen Fernsehpublikum, wie sich die Erde von außen präsentierte. (mehr …)

  • Tod, wo ist dein Stachel? Über den Krieg in der Ukraine und anderswo

    Der Film erzählt, historisch informiert, die Geschichte eines französischen Majors, den man dazu abgestellt hat, Gefallene des Ersten Weltkriegs zu administrieren. Er führt deren Akten, ordnet ihre Überbleibsel, macht trauernde Hinterbliebene ausfindig. Seine Leben dreht sich um den Tod und nichts anderes. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, als man ihm den Auftrag erteilt, eine Leiche aufzutreiben, die alle Voraussetzungen mitbringt (französisch, männlich, weiß, komplett), um als »unbekannter Soldat« französisches Heldentum zu verewigen. Nach dieser Erfahrung quittiert er frustriert den Dienst.1

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  • Der Philosoph in der twitterisierten Öffentlichkeit

    Die Philosophie hat seit ihren Anfängen ein angespanntes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass sie sich als eigenes Projekt erst in Abgrenzung zu einer in den Frühformen der Öffentlichkeit um sich greifenden Vielrederei definiert: Das Gegenmodell zum Philosophen ist bei Platon der Sophist. Und was zeichnet diesen aus? Dass er behauptet, über alles reden zu können, auch wenn er nicht wirklich etwas von der Sache versteht. Diese Omnikompetenz kann nur eine Pseudokompetenz sein, so Platon. Der Philosoph besitzt wahres Wissen (episteme), der Sophist nur einen unsortierten Haufen Meinungen (doxa). (mehr …)
  • Europa-Kolumne. Ein Lehrstück in europäischer Solidarität

    Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine eingeleitete Serie europäischer Gipfel- und Fachministertreffen ist lang und geht weiter. Die meisten der Treffen sind schnell vergessen. Eines davon lohnt die genauere Betrachtung, weil auf ihm eine Konfliktkonstellation sichtbar wurde, die normalerweise unter der Oberfläche des Beobachtbaren verbleibt. Gemeint ist der 26. Juli 2022, an dem der Rat der EU den Gasnotfallplan beschloss. Was da geschah, war eigentümlich: Deutschland, vom russischen Gaslieferstopp schwerer getroffen als alle Nachbarn, trat ungewöhnlicherweise als Bittsteller auf – und erhielt eine schmerzhafte Lektion in europäischer Solidarität. (mehr …)

  • „Musicking“. Musikkolumne

    Phasen des Umbruchs in der Musikgeschichte gehen oft mit subtilen Verschiebungen in der musikalischen Terminologie einher. Als würde der Wortgebrauch intuitiv registrieren, was sich zusammenhängend erst mit dem Abstand von Jahrzehnten überblicken lässt. Eine zukünftige Musikgeschichte wird sich mit der beachtlichen Karriere des aus dem Englischen stammenden Wortes »Musicking« beschäftigen müssen, das vor kaum einem Vierteljahrhundert zunächst vereinzelt in akademischen Diskussionen auftauchte und sich heute als weithin akzeptierte terminologische Alternative zum Musikbegriff anbietet. (mehr …)

  • Reparationen der Republik. Champollion vor dem Collège de France

    Zum Jubiläum strahlt sie wieder in blütenreinem Weiß im Innenhof des Collège de France: die Statue von Jean-François Champollion. Frankreich feiert den Helden der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen, die sich im Herbst 2022 zum zweihundertsten Mal jährte. Von ein paar Erinnerungsveranstaltungen abgesehen, hatte die Skulptur jahrzehntelang zunehmend unbemerkt im Vorhof der prestigereichsten Bildungseinrichtung Frankreichs gestanden. (mehr …)

  • Ein Kampf um Potsdam. Vergangenheit zwischen Aufklärung und Austreibung

    Schon der Klang des Ortsnamens »Potsdam« löst widersprechende Assoziationen aus, und seine vielfache historische Besetzung tut es zumal. Friedrich der Große und Karl Liebknecht, Sanssouci und Exerzierplatz, preußisches Sparta gegen Spree-Athen: Potsdam war seit seinem Aufblühen als preußische Residenzstadt ein Ort der Zuschreibungen und Bemächtigungen. Nach 1918 unterschied man zwischen den Weimar-Deutschen und den Potsdam-Deutschen, Erstere standen für die Deutsche Republik, Letztere für das Deutsche Reich, die einen für den Fortschritt, die anderen für die Reaktion. (mehr …)