Europa-Kolumne. Ein Lehrstück in europäischer Solidarität
Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine eingeleitete Serie europäischer Gipfel- und Fachministertreffen ist lang und geht weiter. Die meisten der Treffen sind schnell vergessen. Eines davon lohnt die genauere Betrachtung, weil auf ihm eine Konfliktkonstellation sichtbar wurde, die normalerweise unter der Oberfläche des Beobachtbaren verbleibt. Gemeint ist der 26. Juli 2022, an dem der Rat der EU den Gasnotfallplan beschloss. Was da geschah, war eigentümlich: Deutschland, vom russischen Gaslieferstopp schwerer getroffen als alle Nachbarn, trat ungewöhnlicherweise als Bittsteller auf – und erhielt eine schmerzhafte Lektion in europäischer Solidarität.
(Dieser Text ist im Dezemberheft 2022, Merkur # 883, erschienen.)
Deutschland scheitert im Rat
Deutschland wollte die EU-Länder für umfassende Gaseinsparungen in Höhe von 15 Prozent des Gesamtverbrauchs bis Ende März 2023 gewinnen, was 45 Milliarden Kubikmeter Erdgas entspricht. Würden alle ihren Gasverbrauch entsprechend reduzieren, so die Idee, könnten die Länder im Fall von Notlagen füreinander einstehen. Zunächst sollte es freiwillige, an der Zielgröße orientierte Sparpläne geben. Im Fall von Zwangslagen oder ungenügenden Umsetzungen sollte die Kommission dann einen Unions-Alarm aktivieren und Einsparungen administrieren können.
Deutschland scheiterte auf ganzer Linie. Es solle sich, so die unverblümte Antwort, um seine Probleme selbst kümmern. Die letztlich verabschiedete »Verordnung über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage« unterstellt einen etwaigen Unions-Alarm der qualifizierten Mehrheit im Rat. Die wird niemals zustande kommen. Und auch die Einzelheiten zu den freiwilligen Nachfragesenkungen um 15 Prozent, um die sich – so der Wortlaut des Artikels 3 der Verordnung – alle »nach Kräften bemühen« sollen, haben es in sich. Sie sind um derart viele Qualifizierungen, Ausnahmen und Sonderregeln für einzelne Länder, besondere Konstellationen und Kategorien von Gasverbrauch ergänzt, dass man schon genau überlegen muss, wer zu den Einsparungen in Höhe von 15 Prozent überhaupt noch aufgefordert wird. Für Deutschland war dieses Ergebnis nicht einmal gesichtswahrend. Es war eine schallende Ohrfeige.
Der Widerstand zog sich quer über den Kontinent. Spanien, das seine Energieversorgung schnell diversifiziert und in sechs LNG-Terminals investiert hatte, führte die Opposition gegen Deutschland an, unterstützt von Portugal und Griechenland. Auch Italien, das seine vergleichsweise hohe Abhängigkeit von russischem Gas frühzeitig reduziert hatte, lehnte Einsparungen in Höhe von 15 Prozent des Verbrauchs der letzten Jahre ab. Polen und Ungarn sahen es genauso, stimmten darüber hinaus aber auch der verwässerten Verordnung nicht zu und zweifeln an der Existenz einer passenden europäischen Kompetenznorm. In Nordeuropa bestritt besonders Finnland, das seinen Gasverbrauch in den letzten zehn Jahren bereits halbieren konnte, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen. Vor allem aber konnte Deutschland auch die französischen Nachbarn mit ihren vier LNG-Terminals nicht als Unterstützer gewinnen.
Das deutsche Exportmodell zehrt von der Nachfrage der Partner
Das war ein merkwürdiges Ergebnis. Hatte Deutschland nicht jedes Recht, nun einmal selbst um Solidarität zu bitten? Fungierte es nicht im Tandem mit Frankreich seit langem als vorbildlicher Ideengeber und Motor der europäischen Integration? Hatte es sich nicht im Gegensatz zu vielen anderen stets – gewiss, mit Ausnahmen unter Schröder – an die europäischen Regeln gehalten, sprich: seine Hausaufgaben gemacht? Hatte es sich nicht mit taumelnden Euro-Ländern solidarisch gezeigt und zu diesem Zweck großzügig die eigene Kasse geöffnet, mit den Stützungsmaßnahmen für Griechenland und zuletzt mit dem Aufbaufonds? Die traurige Wahrheit ist: Zwischen Deutschlands Selbst- und Fremdwahrnehmung klafft eine eklatante Lücke. Unsere Nachbarn empfinden Deutschland nicht als europäisch-solidarisches Land. Sie haben Recht.
In der Diktion der Forschung über Wachstumsmodelle ist Deutschland ein Unterbewertungsregime: ein Land, das sich expansiver Finanz- und Lohnpolitik gewöhnlich enthält und entsprechend Inflationszurückhaltung betreibt, sich damit einen vorteilhaften realen Wechselkurs verschafft, über diesen Wettbewerbskanal im Ausland geschaffene Nachfrage absorbiert und die Handelspartner im Ergebnis mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen überzieht. Durch die Orientierung auf Exportüberschüsse koppelt Deutschland sich vom säkularen Trend der De-Industrialisierung ab und beschleunigt im Gegenzug die De-Industrialisierung anderer, für die die deutschen Exportüberschüsse Importschwemmen sind. Seit dem Eintritt in den Euro ist der deutsche Industriesektor praktisch nicht mehr geschrumpft, im eklatanten Gegensatz zu allen anderen westlichen Industrieländern.
Wegen seiner Handelsüberschüsse gilt Deutschland als Alptraum der Weltwirtschaft. Was den Deutschen als Ergebnis harter Arbeit und gesunder Sparsamkeit erscheint, empfinden die Nachbarn und Handelspartner als parasitär. Schon lange drängen die europäischen Institutionen auf Wandel der einseitigen Ausrichtung des deutschen Wirtschaftsmodells. Seit 2011, bis einschließlich 2021, liegt der deutsche Leistungsbilanzüberschuss oberhalb jener 6 Prozent, die das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren der EU als exzessiv kennzeichnet. Seit 2014 konstatiert die Europäische Kommission offiziell, Jahr für Jahr, ein makroökonomisches Ungleichgewicht und mahnt Änderungen an, was Deutschland aber regelmäßig ignoriert.
Energieintensive Exportbranchen
Zu den Eigenschaften des deutschen Wirtschaftsmodells gehört neben der kompetitiven Disinflationierung mittels restriktiver Finanz- und Lohnpolitik der ausgeprägte Hunger nach billiger Energie. Es ist bemerkenswert, wie ungleich der Energieverzehr über Wirtschaftssektoren verteilt ist. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts benötigten im Jahr 2020 die fünf energieintensivsten deutschen Industriebranchen 76 Prozent des gesamten industriellen Energieverbrauchs, obwohl ihr Anteil an der gesamten industriellen Bruttowertschöpfung lediglich 21 Prozent betrug. Genau in diesen Branchen wie Chemie sowie Metallerzeugung und -verarbeitung ist der deutsche Export stark.
So verwundert es nicht, dass Deutschland auch mehr Gas verbraucht als fast alle seiner Nachbarn, absolut und pro Kopf: 90,5 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021, wie den Daten der Statistical Review of World Energy zu entnehmen ist. Entsprechend hoch ist dann auch der deutsche Anteil an den europäischen Gasimporten. Deutschland allein verbraucht mehr als ein Drittel des nach Europa gelieferten Gases, obwohl es nur 19 Prozent der EU-Bevölkerung beherbergt. Sein Bedarf an billiger Energie und sein Merkantilismus, darauf hat Wolfgang Münchau auf EuroIntelligence.com immer wieder hingewiesen, sind zwei Seiten derselben Medaille.
Seinen Gasbedarf deckte Deutschland vor allem durch langfristige Lieferverträge mit Russland. Die Daten der europäischen Agency for the Cooperation of Energy Regulators erlauben den internationalen Vergleich der Grade an Diversifizierung der Einfuhrquellen. Demnach hat sich kein anderes Land so sehr auf Russland verlassen wie Deutschland, der Anteil russischer Gasimporte an allen Gasimporten betrug 49 Prozent im Jahr 2020. Mit etwas Abstand folgt Italien, das seinerzeit immerhin noch 38 Prozent des importierten Gases aus Russland bezog. Anders Frankreich, für das Russland (mit 15 Prozent) – nach Norwegen – überhaupt nur die zweitgrößte Quelle war. Und Spanien hatte Algerien als Hauptlieferanten, danach kamen Katar, die USA, Nigeria, dann erst Russland.
Für Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen gilt als ausgemacht, dass die deutsche Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in besonderem Maße wirtschaftlich (statt sicherheitspolitisch oder gar »werteorientiert«) getrieben war. Exportfixierung schafft Abhängigkeiten. Eine gute Außenpolitik bedeutete für Deutschland: billige Energieversorgung sicherstellen (Russland); die Märkte für die deutschen Ausfuhren erschließen und offenhalten (China); dafür sorgen, dass das Ausland ohne Murren die eigenen Leistungsbilanz- und Sparüberschüsse absorbiert (weltweit). Es ist wohl fair zu konstatieren, dass Deutschland insbesondere geopolitische Empfindsamkeiten seiner Partner effektiv hintanstellte, um sein Exportmodell zu stützen.
Abwerbung von Fachkräften
Auch auf den Arbeitsmärkten zehrt Deutschland von den Leistungen anderer. Nicht nur exportiert es durch seine chronisch positive Handelsbilanz Arbeitslosigkeit. Auch geht die Budgetzurückhaltung in Kombination mit einem überproportionierten Industriesektor mit einer Vernachlässigung der tertiären Sektoren einher. Das lässt sich besonders im Gesundheits- und Pflegewesen beobachten, wo Deutschland weniger Arbeitskräfte ausbildet, als es selbst braucht, und niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen bietet, als notwendig wäre, um die frustrierten Beschäftigten im Sektor zu halten. Die Priorität liegt woanders. Deutschland braucht seine Arbeitskräfte, um seine Exportüberschüsse zu produzieren.
Die Lösung erkennt man im gezielten, staatlich organisierten Abwerben ausländischer Fachkräfte, und zwar weltweit, besonders aber in Osteuropa. Auf den dortigen Arbeitsmärkten organisiert die Bundesregierung insbesondere seit 2012 regelrechte Raubzüge und verschärft damit die dortigen Knappheiten (brain drain). Aber damit nicht genug, denn Deutschland verschiebt durch die systematische Aneignung fremder Qualifizierungsleistungen auch die Ausbildungskosten in das ärmere Ausland. Da es hierfür keinerlei Kompensationszahlungen gibt, lässt sich auch diese Strategie leider nur als parasitär bezeichnen. Auch andere Gesellschaften altern und brauchen daher qualifiziertes Pflegepersonal.
Für dieses Vorgehen werden wir von anderen EU-Ländern, gelinde gesagt, kritisch beäugt. Einwände lassen wir milde an uns abperlen – sind nicht gerade unsere offenen Arbeitsmärkte Ausweis moralischer Überlegenheit? Die betroffenen Länder sehen es anders. Interessant wurde es im Februar 2020, als eines jener Länder, nämlich Serbien, sich wehrte. Da verdeutlichte der noch heute amtierende Staatspräsident Vučić dem damaligen Gesundheitsminister Spahn, dass er in Serbien nicht willkommen war: Unsere Pflegekräfte, Herr Spahn, kriegen Sie nicht. Wirklich irritiert hat uns das nicht.
Solidarische Energiepolitik?
Haben die Deutschen ihre Ellenbogen im Zeichen der Energiekrise eingefahren und Solidarität nicht nur eingefordert, sondern auch praktiziert? Keiner unserer Nachbarn glaubt das. Im Sommer und Herbst 2022 lief etwa die Hälfte der französischen Atomkraftwerke gedrosselt oder gar nicht. Deutschland, im Winter möglicherweise selbst auf Gashilfen angewiesen, hätte signalisieren können, durch maximale Stromproduktion zu helfen. Das hätte eine Verschiebung des AKW-Ausstiegs erfordert. Den Entscheidungsträgern kam das über den gesamten Sommer hinweg abwegig vor: Wir haben ein Gasproblem, kein Stromproblem (Robert Habeck). Quälende Monate dauerte es, bis der Wirtschaftsminister bereit war, von dieser Haltung abzurücken.
Auch wenn wir den Strom ausklammern und uns auf die Gasknappheit konzentrieren, wird es nicht besser. Bereits im März 2022 schlug die Europäische Kommission gemeinsame Gasankäufe mit anschließender Zuteilung an die beteiligten Länder vor. Auf diese Weise, so die Kommission, könne verhindert werden, dass die EU-Länder sich bei den Zukäufen gegenseitig überbieten und die Preise im Ergebnis zum allseitigen Schaden zusätzlich hochtreiben. Dabei ging es nicht nur um das Erdgas selbst, sondern auch um die Schiffe, mit denen kurzfristig Anladekapazitäten geschaffen werden können.
Deutschland zeigte daran kein Interesse, wohl wissend, dass man aufgrund der ausgeprägten Verschuldungskapazität – die ja ihrerseits nichts anderes ist als ein Reflex der Leistungsbilanzüberschüsse – am Ende die Nase vorn haben würde. Man fühlt sich an den März des Jahres 2020 erinnert, als die Bundesregierung zum Unmut der Nachbarn einen Exportstopp für Schutzmasken und andere Medizinprodukte verhängte, statt – wie bei den Impfstoffen – auf gemeinsame europäische Beschaffungen hinzuwirken. Ebenso ging damals freilich Frankreich vor.
Seither sehen wir Habeck und Scholz um die Welt reisen, um mit prall gefülltem Portemonnaie zuerst den Gashunger der deutschen Wirtschaft zu stillen: USA, Kanada, Norwegen, Katar, Emirate, Saudi-Arabien. Deutschland tritt dabei in Konkurrenz zu Ländern wie Italien und anderen, die ebenfalls händeringend nach Ersatz für das russische Gas suchen, und betreibt genau das, was die Kommission verhindern wollte: Es treibt die Preise nach oben. Da Deutschland bisher kein Hafenterminal hat, an dem sich Flüssiggas anlanden lässt, bleibt es bis auf weiteres darauf angewiesen, dass die Nachbarn das deutsche Vorgehen schulterzuckend hinnehmen. In anderen Ländern und in Brüssel rufen diese Alleingänge zu Recht Verärgerung hervor.
Wut auf den Doppelwumms
Anfang Oktober 2022, nachdem die Bundesregierung ihren Plan zur Bereitstellung von 200 Milliarden Euro zur Finanzierung eines nationalen Gaspreisdeckels bekanntgegeben hatte, transformierte sich der stille Unmut über die deutschen Alleingänge in offen geäußerte Wut. Den gesamten Sommer über hatten zahlreiche EU-Länder auf Reformen des europäischen Energiemarkts gedrängt und für einen europäisch koordinierten Gaspreisdeckel plädiert, aber Deutschland blieb stur. Für die Partner kam das 200-Milliarden-Programm aus dem absoluten Nichts. Keine Koordination war erfolgt, selbst entlang der deutsch-französischen Achse hatte es keine Konsultationen gegeben, wie der französische Wirtschafts- und Finanzminister Le Maire verdeutlichte.
Hätte Deutschland mit einem solchen Programm die Binnenkonjunktur stabilisiert, wäre das aus europäischer Perspektive willkommen gewesen. Hier aber ging es um eine Beihilfe nicht nur für die Haushalte, sondern vor allem für die energieintensive Exportindustrie, die zweifellos hemmend auf die Exportpreise durchschlagen und dem deutschen Exportsektor daher abermals einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würde. Auch hier, wie bei den allein getätigten Gaseinkäufen, spielte Deutschland seinen fiskalischen Handlungsspielraum aus, der seinerseits eine Folge der Leistungsbilanzüberschüsse war.
Jeder Versuch, hier mitzuhalten, würde Länder wie Italien durch steigende Spreads an die Grenzen ihrer Refinanzierungsfähigkeit bringen, gerade vor dem Hintergrund der Abkehr von der Nullzinspolitik vonseiten der EZB. Die Bundesregierung hörte sich den Unmut anderer EU-Mitgliedstaaten eine gute Woche lang an und eröffnete ihnen auf dem Treffen der EU-Energieminister am 12. Oktober 2022 als Geste des Entgegenkommens, künftig nun doch auf gemeinsame Gaseinkäufe hinwirken zu wollen – nachdem sie die deutschen Speicher im Alleingang zu 95 Prozent gefüllt hatte.
Wenn Sie diese Kolumne lesen, werden Sie bereits wissen, wie sich die Pirouetten weitergedreht haben. Wird Deutschland den Unmut über sein selbstbezogenes Vorgehen wieder einfangen, zumindest aber eindämmen können? Dass Deutschland, um seine Reputation zu wahren, am Ende einer gewissen Verstetigung des Aufbaufonds zustimmt, um anderen EU-Ländern die Finanzierung eines am deutschen Vorbild orientierten Preisdeckels zu ermöglichen, erscheint zumindest denkbar. Das würde aber eine 180-Grad-Wende des deutschen Finanzministers voraussetzen, der weitere gemeinsame Schuldenaufnahmen bisher abgelehnt hatte. Nicht völlig ausgeschlossen (wenn auch nicht sehr wahrscheinlich) ist aber auch, dass der deutsche Alleingang am Ende am EU-Beihilferecht scheitert.
So oder so – der Schaden ist erst einmal angerichtet. In den Augen der anderen EU-Mitgliedsländer stehen die deutschen Antworten auf die Energiekrise gerade nicht für gemeinsames Handeln, auch nicht für Koordination und Konsultation, sondern für einen unilateralen Energienationalismus, der dem Schutz des deutschen Exportmodells dient.
Das deutsche Modell lässt sich nicht abwählen
An irgendeinem Punkt zwischen Euro- und Ukrainekrise haben die EU-Partner ihre Hoffnungen aufgegeben, Deutschland könne sich in Einsicht in die von ihm erzeugten Schäden ändern. Wahrscheinlich war das im Jahr 2017. Die größten Schübe an interner Abwertung fanden in der frühen Mitte des erstens Jahrzehnts der gemeinsamen Währung statt, noch unter Kanzler Schröder, aber freilich in einer besonderen Konstellation: Deutschland galt vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten beim Aufbau Ost und einer für das Land zu straffen (!) Geldpolitik der EZB als kranker Mann Europas. Die ausbleibende Korrektur der auf Überschüsse zielenden makroökonomischen Politik wurde im Anschluss besonders mit Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble identifiziert. Macron, zunächst Wirtschaftsminister der französischen Sozialisten und am 7. Mai 2017 zum französischen Staatspräsidenten gewählt, hoffte auf einen Regierungswechsel in Deutschland und machte den deutschen Sozialdemokraten Gesprächsangebote.
Tags darauf, am 8. Mai 2017, hielt SPD-Kanzlerkandidat Schulz eine wirtschaftspolitische Grundsatzrede. »Wir werden auch wegen unserem hohen Handelsbilanzüberschuss kritisiert«, führte er aus. »Das – das betone ich auch im Lichte des Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich und der Debatten, die dort darüber geführt worden sind – die Kritik an unseren hohen Handelsbilanzüberschüssen halte ich für falsch. Wir müssen uns nicht dafür schämen, erfolgreich zu sein.« Und weiter: »Deshalb wird meine Antwort auf den Vorwurf des deutschen Handelsbilanzüberschusses heißen: Wir werden noch stärker werden.« Selten hat man den französischen Nachbarn die Tür so brüsk vor der Nase zugeschlagen. Deutschlands Merkantilismus, so die Ansage an die Nachbarn, ist nicht verhandelbar. Dass die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ihre Anfang Oktober 2022 angekündigte gigantische Beihilfe an die Industrie nicht europäisch koordinierte, ist ganz auf der von Schulz vorgezeichneten Linie.
Gestörtes Selbstbild
Die deutsche Selbstwahrnehmung als vorbildliche Pro-Europäer liegt komplett daneben. Sie deckt sich weder mit den Fakten noch mit der Wahrnehmung anderer Teilnehmer an der europäischen Integration. Dass Deutsche im Eurobarometer häufiger als andere angeben, sie hielten die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache – darauf ist man hierzulande regelmäßig stolz –, sagt über Deutschlands Wirken auf dem Kontinent nichts aus. Deutschland betreibt ein Wirtschaftsmodell, das die Wachstumstreiber anderer Länder auszehrt, und lässt jegliche Rücksicht vermissen, wenn es darum geht, die Operationen des Modells zu perpetuieren. Alle internationalen Klarstellungen, dass Deutschland erheblichen Anteil an der Entstehung der Ungleichgewichte hatte, die schließlich in die Eurokrise mündeten, ließ Deutschland an sich abperlen und nutzte seine Machtressourcen, um die entstandenen Anpassungslasten einseitig auf Südeuropa abzuwälzen. Der internationalen Öffentlichkeit ist das nicht verborgen geblieben.
Außerhalb normaler Standards ist darüber hinaus, wie Deutschland seine Interessen in Europa vertritt: selbstherrlich, aber stets im Gewand des moralisch Erhabenen, als Oberlehrer und wahlweise, wenn die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, als Zuchtmeister. Seit Deutschland sich aus der Rolle als kranker Mann Europas durch exzeptionelle reale Abwertung freigeschwommen hat, belehrt es seine Nachbarn. Worum es auch geht, immer wissen wir es besser: wie man ein Budget organisiert, wie viel Einwanderung man wollen soll, wie eine zeitgemäße Familienpolitik auszusehen hat, was gute und was schlechte Energiegewinnung ist, wie man Richter an oberste Gerichte beruft.
Die Uneinsichtigkeit gegenüber den transnationalen Folgewirkungen der deutschen Wirtschaftsweise führt in Kombination mit dem Hochmut bei der Belehrung anderer zu stillen Absetzbewegungen, die jedenfalls kein guter Nährboden für Solidarität sind, wenn Deutschland sie braucht. In der jüngeren Vergangenheit brauchte Deutschland solche Solidarität selten, aber diese Zeiten könnten vorüber sein.
Deutschland muss sich ändern
Die Herausforderungen, den Ressourcen- und Energieverbrauch zu senken und die Abhängigkeiten von Gaslieferanten wie Russland und Absatzmärkten wie China zu reduzieren, lassen sich nicht durch Operationen an der Peripherie des an Leistungsbilanzüberschüssen orientierten und überindustrialisierten deutschen Wirtschaftsmodells bewerkstelligen. Es geht um die Tiefengrammatik, um die basalen Logiken des Wachstumsmodells. Aus Sicht der europäischen Partner ist eine Ausbalancierung der deutschen Spielart des Kapitalismus überfällig: eine Transition, die die Überfixierung auf Industrie und Export aufgibt, die der Entwicklung von Binnennachfrage und tertiärem Sektor eine höhere Priorität einräumt als in der Vergangenheit und die weniger außenwirtschaftliche Schäden anrichtet.
Hätte man bei den Ratsverhandlungen über den Gasnotfallplan in die Köpfe der anwesenden Fachminister schauen können, als Deutschland alle zu Einsparungen in Höhe von 15 Prozent bewegen wollte, hätte sich wahrscheinlich beobachten lassen, wie all die belehrenden frames, mit denen Deutschland die EU-Mitglieder seit Jahren überzieht, sich nunmehr gegen Deutschland selbst richteten: Regeln müssen eingehalten werden! Solidarität ja, aber sie darf keine Einbahnstraße sein! Wer über seine Verhältnisse lebt, muss lernen, den Gürtel enger zu schnallen! Bisher erwiesen sich alle Hoffnungen, Deutschland könne sich wandeln, als fehlgeleitet. Bleibt es so, könnte es in künftigen Krisen erfahren, dass ihm niemand mehr beisteht – wie an jenem 26. Juli 2022, der genau deshalb in die deutschen und europäischen Geschichtsbücher gehört.