• Illusionen auf dem Heiratsmarkt (Archiv)

    Dieser Text war nur bis zum 23.6. 2014 gratis online zu lesen, aus Anlass von Jürgen Habermas' 85. Geburtstag. Den vollständigen, im Oktober 1956 im Merkur erschienenen Artikel finden Sie kostenpflichtig (für 2 Euro) im Merkur-Volltextarchiv. Von Jürgen Habermas Woche für Woche, Seite um Seite lehnt sich Kolonne an Kolonne — jener merkwürdigen Inserate, von denen jedes durch reizkräftigen Umbruch, profilierten Rand oder großspurige Type ein besonders dringliches, originelles, persönliches Anliegen vor allen anderen behaupten möchte, den Wunsch nämlich: zu heiraten. Balkenüberschriften "Von Herz zu Herz . . . " , "Habt Vertrauen zueinander", "Deine große Chance", "Lebenswende" oder auch schlicht "Eheanbahnung" verraten die reißerische, mütterliche oder bürokratische Regie. Der Heiratsmarkt zeigt viele Gesichter: für den einen letzter, verzweifelter Ausweg aus echter Bedrängnis; für einen anderen eine Behörde, der man ein 'Heiratsgesuch' einreicht; für den dritten Börse, auf der man mit einigem Geschick im Spekulieren sein Glück machen kann; und für viele ein Versuchsfeld der Resignation mit unverbindlichem Einsatz für die "vorletzte" Lösung; von den "Artisten" zu schweigen, die sich der abenteuerlichen Pfade des Heiratsmarktes bedienen, so wie Kinder an den Automaten der Erwachsenen spielen. Und den Wochenend-Magazinen vom Typ "Soraya und der geheimnisvolle Bernstein" machen die Tageszeitungen manierliche Konkurrenz. Der heiratswillige Andrang der mittleren Jahrgänge wird durch jung und alt erstaunlich verstärkt. Hauptmotiv für die Witwen und Witwer, für die Junggesellen und die jüngferliche Nachhut, die noch mit 70 Jahren und mehr nach einer Ehe oder, wenn nur so die Rente erhalten bleibt, nach einer gesetzlich nicht ausdrücklich sanktionierten Lebensgemeinschaft verlangen, ist die Furcht vor dem Alleinsein und die Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit. So spiegelt sich in dem hohen Altersindex des Heiratsmarktes ein Prozeß, der seit Generationen im Gang ist: der Zerfall der Großfamilie, der Sippe; denn in der Gattenfamilie der Eltern mit ihren unmündigen Kindern ist zumeist kein Platz mehr für Großeltern und alleinstehende Verwandte. Für die Alten verschärft sich die Situation oft zu der Alternative: Altersheim oder Heirat. Die Jungen hingegen, die ganz Jungen von 17 Jahren an aufwärts, die manchmal ein Mädchen zwischen 15 und 17, vielfach auch ältere Frauen suchen, haben andere Motive. Zunächst einmal liegt es im Zuge unserer industriegesellschaftlichen Entwicklung, daß die Heiratshäufigkeit steigt, während das Heiratsalter immer weiter sinkt. In den vorindustriellen Gesellschaften wurde der Umfang der Bevölkerung durch rechtliche, politische und moralisch-konventionelle Heiratsbeschränkung auf den gegebenen Nahrungsspielraum abgestimmt: man heiratete nicht, bevor man nicht Frau und Kinder ernähren konnte; heute erwartet jeder Erwachsene bereits in frühen Jahren eine Heiratschance, und wo es die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Lage nicht zu gestatten scheinen, nimmt er sie einfach; denn der Druck von außen kann durch eine planmäßige Beschränkung der Kinderzahl ausbalanciert werden. So ist denn der Bundesbeamte, der mit seinen 21 Jahren "Ehegemeinschaft wünscht", ebensowenig eine Ausnahme wie die 17 jährige Oberschülerin oder der 18 1/2 Jahre alte Industriekaufmann, der noch sein Lebensalter nach Halbjahren taxiert. Dieses Bild wird ergänzt und bestätigt durch häufige Studentenehen, die ja nicht, wie man erst annahm, eine Verspätungserscheinung der Kriegsgeneration blieb. Dabei mag das angstvolle Bedürfnis mitspielen, den Weg aus dem Elternhaus zum eigenen Heim möglichst kurz und risikolos zu gestalten: eine frühe Ehe fängt dieses Bedürfnis institutionell auf. Im Universitätsleben spielen ja die Korporationen eine ähnliche Rolle. Den vollständigen, im Oktober 1956 im Merkur erschienenen Artikel finden Sie kostenpflichtig (für 2 Euro) im Merkur-Volltextarchiv.
  • Das Empire der Dinge. Ein Jahr mit den Goncourts (V)

     
    Porzellan mit einem Sprung klingt für mich nach etwas Verletztem.
    (Bd. IV, S. 322)
    Der vierte Band der Tagebücher umfasst die Jahre 1866-1868: es sind Jahre, in denen sie regelmäßig den Salon der Prinzessin Mathilde besuchen, sowie das Magny-Diner, einen Kreis einschlägiger Literaten, an dem neben Saint-Beuve und Flaubert hin und wieder auch George Sand teilnimmt. Fast mag es scheinen, nichts könne diesem Leben der Diners und Causerien etwas anhaben — Heaven is a place where nothing ever happens. Ihr Name ist etabliert: Man merkt, wie sie sich beim Ausformulieren von Zoten in den Notizen zurücknehmen, auch, dass sie zunehmend die trunkenen Pöbeleien anderer Schriftsteller und Künstler rügen (Bd. IV, S. 224: "als führen Kanalarbeiter über ein Frauenkleid"): eine Entwicklung zur Reife oder der Dünkel arrivierter Literaten? Ist es der Einfluss der Mathilde Bonaparte, als deren enge, distinguierte Freunde sie sich betrachten? Es sind auch hochstehende Personen des Kaiserreichs wie Mathilde und der Louvre-Direktor Nieuwekerke, die sie oben schwimmen lassen. Selbst der Staatsanwalt, der sie vor Jahren wegen ihrer libertären Texte hatte verurteilen wollen, macht den Kratzfuß vor ihnen: (mehr …)
  • Virtuelle Realität. Der Friedenspreis für Jaron Lanier – und die Missverständnisse, auf denen er beruht

    Einen "der Pioniere in der Entwicklung des Internets" und "wichtigsten Konstrukteure der digitalen Welt", der "als führender Wissenschaftler ein Projekt mehrerer Universitäten zur Erforschung des 'Internets 2'" leitet, glaubt der Börsenverein des deutschen Buchhandels zu ehren. Frank Schirrmacher nennt ihn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den "Informatiker, der das Internet mitentwickelte", Die Zeit einen einstigen "Evangelisten des Silicon Valley", der wie ein moderner Saulus "gewissermaßen ein Dissident seiner selbst" geworden sei. Der Schönheitsfehler: Nichts davon stimmt. Und alle Missverständnisse hätten sich mit minimalem Rechercheaufwand vermeiden lassen. In ihren Angstgefechten mit dem Internet sind die Qualitäts-Printmedien unzuverlässige Quellen geworden. Jaron Lanier war in seiner (für neue Medien nicht ungewöhnlichen) eklektischen Selfmade-Karriere unter anderem Musiker und Softwareentwickler. 1982 schrieb er das heute legendäre experimentell-audiovisuelle Computerspiel Moondust für den Commodore C64-Heimcomputer, arbeitete für Atari und gründete 1985, nachdem die Firma in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war und ihn entlassen hatte, mit einem Kompagnon die Firma VPL Research, die Virtual Reality-Technik markttauglich zu machen versuchte. "Virtuelle Realität" bedeutete: Datenbrillen, Datenhandschuhe und Computersoftware, die simulierte 3D-Welten für die Brille generiert. Mit dem Internet hatte diese Technologie, die ursprünglich - ohne Laniers Beteiligung - in NASA- und Air Force-Forschungslabors entwickelt worden war, nichts zu tun. "Virtual Reality" wurde zum Modewort in Popkultur und Medientheorie. In seiner Kurzbiografie lässt Lanier offen, ob er den Begriff erfunden oder nur popularisiert habe; doch schon 1982 war der Neologismus im Science Fiction-Roman Judas Mandala des Australiers Damien Broderick aufgetaucht. (mehr …)
  • Et in Hildesheim ego: Prosanova 14

    Florian Kessler war da, und damit stand der Elefant auch im Raum: die Frühjahrsschreibschuldebatte. In seiner durchaus inspirierten Polemik "Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!" hatte Kessler in der Zeit die deutsche Mittelschichtshomogenität der deutschen Schreibschüler am Beispiel von Hildesheim beklagt. Der oberflächliche Blick auf das Soziotop, das sich zum vierten Hildesheimer Schreibschulliteraturfestival Prosanova versammelte, führt Kesslers Diagnosen jedenfalls nicht sofort ad absurdum. Sehr weiß, sehr mittelschicht, sehr lässig postmaterialistisch gekleidet im Ulf-Poschardt-Herzkaschper-Stil. Der Mann im Anzug: Schreibschulprofessor Hanns-Josef Ortheil. An der Festivalfrittenbude keine Fritten, sondern Chili sin carne. Umgangsformen: rempeliges Hier-komm-ich auf den Gängen, ansonsten gepflegt. (mehr …)

  • Juniheft

    Im Aufmacher schildert der Rechtswissenschaftler Martin Nettesheim, wie dem Bundesverfassungsgericht der Geist der Utopie abhanden kam. Sebastian Conrad erklärt in seiner Geschichtskolumne, welchen Herausforderungen sich eine Geschichtsschreibung stellen muss, die in Äonen denkt. Edith Lynn Beer (frei lesbar) erzählt von den sonntäglichen Treffen ihrer Familie in den 1940er Jahren, bei denen es vor allem um die Bukowina, die verlorene Heimat ihrer Familie, ging. Carlos Spoerhase beschreibt, wie die Literaturarchive zusehends nicht nur Nachlass-, sondern auch Vorlassverwaltung betreiben. In seiner Sprachkolumne widmet sich Daniel Scholten (frei lesbar im pdf) ein zweites und letztes Mal dem "Gendersprech". Annette Vowinckel staunt über die scharfe Kritik der Interdisziplinarität in einem unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck. Die Übersicht über den gesamten Inhalt finden Sie hier. Dort auch die Print-Kaufmöglichkeit, alles Digitale im Volltextarchiv, die Ebook-Varianten aber auch zum Beispiel bei Amazon und Itunes.

    dk