Die Hände machen einfach von selbst weiter
Igor Levit spielte die gesamten Vexations von Erik Satie, zwanzig Stunden lang – so war es geplant –, im Aufnahmestudio b-sharp in Berlin-Pankow, am 30. und 31. Mai 2020: »I honestly don’t really know what is going to happen. But I believe I will feel, while doing it, kind of similar to what I go through now. There will be ups, there will be downs, there will be devastation, there will joy, there will be literal pain. Just this monotonic repetition of just the same thing, of a piece which in a way has no apparent musical content—just this staring at a wall, waiting, waiting. At some point, you lose the perspective of time—like now. You lose the perspective of an end—like now. I think at some point I will lose the hope that this will ever end—like now. Maybe I won’t make it. It’s just about surviving. Like now.« (mehr …)Der hässliche Eiffelturm. Ein Jahr mit den Goncourts (XI)
Der Eiffelturm [...] etwas Häßlicheres für das Auge eines alten Stadtbewohners läßt sich nicht erträumen (Bd. IX, S. 62)
Die Pariser Weltausstellung 1889 gilt als ein Krönungsfest der europäischen Moderne des 20. Jahrhunderts: gekrönt wird hier vor allem Paris als europäische Metropole der modernen Kunst. Edmond Goncourt aber ist wenig angetan von diesem Spektakel -- die Aversion gegen obsessiv gutgelaunte Massenveranstaltungen formt hier schon einen Kern moderner Autorenpersönlichkeiten. Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich wurde rund 100 Jahre später David Foster Wallace’ Erzählung über Kreuzfahrtvergnügungen betitelt in der deutschen Übersetzung; und diese Grundskepsis kennzeichnet Autoren der Moderne in der Regel bis heute. Schon bei Goncourt verbindet sich der Rückzug auf die eigenen Kreise -- sei's des Denkens, der Empfindsamkeit, aber auch der Kultur -- mit einer fast angeekelten Abwehr von vermeintlich sinnentleertem und beschleunigtem Treiben der Metropole: (mehr …)Les Goncourts antisémites: Ein Jahr mit den Goncourts (X)
La France juive von Drumont wird, glaube ich, die Auswirkung haben, in ziemlich naher Zukunft das jüdische Geldkapital zum leicht verschwommenen und nicht näher bestimmten Gegenstand des Hasses zu machen. (Bd. VIII, S. 62)
Die Französische Revolution eröffnete für die jüdische Bevölkerung Frankreichs eine konkrete, wenn auch steinige Hoffnung auf Emanzipation: Spätestens seit einer Erklärung der Französischen Nationalversammlung 1791 galten Juden als säkulare Staatsbürger in einem säkularen Staat. Doch das Toleranzprinzip der französischen Aufklärung, das diese Entwicklung ideologisch rahmte, war nicht frei von Widersprüchen: Enzyklopädisten wie Diderot und d’Holbach waren Antisemiten, Voltaires Invektiven gegen Juden prägten die antisemitischen Debatten des 19. Jahrhunderts. 1807 wurden vom französischen Gerichtshof die Menschenrechte zwar ausdrücklich auch für Juden erklärt, doch ein Jahr später nur schränkte Napoleon die Rechte für Juden auf Handel und Freizügigkeit wieder ein. Robert S. Wistrich, der den französischen mit dem deutschen Antisemitismus vergleicht, hebt den Symbolcharakter der jüdischen Emanzipation für die französische Revolution und den Grundsatz der égalité hervor — und damit für die französische Begriffe von citoyen und Nation, die sich — im Gegensatz zum deutschen Volksbegriff — eben nicht ethnisch, sondern streng politisch definieren sollten — bis heute. Im Zuge der Revolution wurde die religiöse, vor allem katholische, Ausprägung des Antisemitismus durch eine säkulare Variante verdrängt. Der Kampf um die gesellschaftliche Rolle der Juden in Frankreich führte aber eindrucksvoll vor, dass verfeindete politische Lager sich im Antisemitismus doch vereint fanden: der katholische Klerus und die Anhänger der Monarchie, das aufsteigende Bürgertum, die Republikaner, die Sozialisten. Das Wort Jude taugte als Container für — je nach Position — antibourgeoise, antikapitalistische, antiprotestantische, antideutsche und antibritische Ressentiments, wie Robert S. Wistrich zeigt: (mehr …)Satztupfer im Salon: Ein Jahr mit den Goncourts (IX)
Seit zwei oder drei Tagen verfolgt mich die Versuchung, eine Reise nach Japan zu machen. Und dabei geht es nicht um Trödelkaufwut: in mir ist der Traum, ein Buch zu schreiben, das in Form eines Tagebuchs hieße: Ein Jahr in Japan — und zwar ein Buch, das mehr empfunden als ausformuliert wäre… (Bd. VI, S. 317)
Edmond de Goncourt sieht seinen Bruder und sich als Vorreiter einer ästhetischen Entdeckung Asiens in Frankreich. Ist es nur die Liebe zu erlesenen Drucken und feinem chinesischem Porzellan? Die Ausgefeiltheit, mit der er seine Zimmer oder das Gartenhaus, den Grenier, eingerichtet und immer wieder stolz beschrieben hat, führt ihn zu Überlegungen zu Stilistik und Poetik — ähnlich wie dies früher auch die Zeichnungen Gavarnis taten. Es ist mehr als bloßer Fetischismus des Sammlers.Ich spreche zum Beispiel vom Japonismus, und sie sehen in einer Vitrine nur irgendwelche lächerlichen Nippes, von denen man ihnen erzählt hat, sie seien der Gipfel des schlechten Geschmacks und des Mangels an Formvollendung. Die Unglücklichen! Sie haben nicht gemerkt, daß heutzutage der ganze Impressionismus — der Untergang des Erdpechs etc. — durch die Betrachtung und Nachahmung der hellen Impressionen Japans entstanden sind. Des weiteren ist ihnen entgangen, daß das Hirn eines westlichen Künstlers bei der Gestaltung eines Tellers oder was es auch immer sei lediglich ein in die Mitte des Gegenstands plaziertes Dekor erdenkt und erschafft, ein Einzeldekor oder eins, das aus zwei, drei, vier oder fünf dekorativen Details besteht, die stets in Entsprechung und Ausgewogenheit stehen, und daß die Nachahmung des seitlich über den Gegenstand geworfenen Dekors, des assymetrischen Dekors durch die heutige Keramik, den Glauben der griechischen Kunst aufgreift, zumindest beim Verzieren. (mehr …)
Was ist literarischer Erfolg? Ein Jahr mit den Goncourts (VIII)
Ich werde nie das Kreuz der Ehrenlegion bekommen, ich werde nie zur Académie gehören, ich werde nie eine dieser Auszeichnungen erhalten, die mein Talent bestätigen. Beim Publikum werde ich immer ein Paria sein, ja, ein Paria! (Émile Zola in: Bd. VI, S. 154)
Im 6. Band der insgesamt 11 Tagebuchbände, der die Jahre 1873-80 nach dem Tod seines Bruders umfasst, wird das Hadern Edmonds mit sich und dem gemeinsamen Werk überdeutlich. Es ist ein Hadern nicht nur mit Resonanz: dem immer auch eitlen und etwas selbstgefälligen Topos des verkannten Schriftstellers kann er sich ebensowenig entziehen wie der eingangs zitierte Émile Zola. Es ist vor allem ein Hadern mit der so schmerzlich vermissten öffentlich bekundeten und institutionell ratifizierten Anerkennung: Ehrenkreuz, Akademie, Preise. Ist es allein das, was Edmond zum Jahresbeginn 1875, fünf Jahre nach dem Tod seines geliebten Bruders, vermisst? Nicht nur. Es ist das gemeinsame Schreiben als solches, wie Edmond erkennt, als er den Titel La Fille Élisa (erschienen im übernächsten Jahr) erstmals notiert: (mehr …)Wir sterben. Ein Jahr mit den Goncourts (VII)
Über lange Strecken ist er nicht bei mir, wenn er neben mir im Zimmer sitzt. "Wo bist du, mein Freund?" habe ich ihn gestern gefragt. Nach kurzem Schweigen hat er mir geantwortet: »Im Weltraum… im leeren." (Bd. V)
"Ich bin traurig, zerstört, ausgelöscht." Der Tod von Jules erwischt uns, die Leser, wie ein Schock. "9 Uhr, 40 Minuten – Er stirbt, eben ist er gestorben. Gott sei gelobt! Er starb nach zwei oder drei Seufzern eines kleinen Kindes, das einschläft." Seit über einem halben Jahr zeigte Jules offenbar schon Symptome einer tödlichen Krankheit, von denen im Tagebuch bis dahin nie gesprochen wurde. Edmond wollte das gemeinsame Protokollprojekt aufgeben. Doch: "Nach Monaten ergreife ich wieder die Feder, die meinem Bruder aus der Hand gefallen ist." Er beginnt vorbildlich die letzten Monate des Leidens, des Schmerzes, des Verlustes durchzuarbeiten, der Neuausrichtung seines gesamten Lebens – ohne significant other. "Ich nehme also dieses Tagebuch und das Geschreibsel der in meinen Tränennächtern hingeworfenen Notizen wieder auf." (mehr …)Verarmung und Verdunkelung. Ein Jahr mit den Goncourts (VI)
Ich komme durch Stellen mit verwüsteten Feldern, herausgerissenen Zäunen, zertrümmerten großen Bäumen, Steinhaufen, Häusern ohne Türen und Fenster, an denen noch das Skelett eines halb herausgerissenen Strauches hängt, durch ganze Straßenzüge ohne ein Licht, ohne einen Passanten, ohne eine lebende Seele. Und immer weiter fahre ich unter dem verlöschenden Himmel, auf dem sich auflösenden Weg durch all diese zerstörten oder verlassenen Dinge, die sich in der finsteren Nacht in den Pfützen spiegeln, so daß ich schließlich den Eindruck bekomme, in einen Weltuntergang getragen zu werden. (Bd. V, S. 241)
Im Laufe des Jahres 1870, im 5. Band der Tagebücher, erzählt Edmond de Goncourt, der ältere der Brüder, wie das Leben und die Kultur in Paris immer deutlicher zerfällt. Die tiefe Freude über die Dinge, ihre Sammlung der Kunststücke, den Hauskauf, der zuletzt ihr Leben für immer nun zu bestimmen schien, diese Freude wird Schritt für Schritt zerstört. Der Tod des jüngeren Bruders am 20. Juni 1870, nach monatelanger Krankheit, ist dabei nur ein erster, unausdenklich schmerzlicher Einschnitt (über den wir in unserer nächsten Lieferung schreiben werden); der große deutsch-französische Krieg, der zunächst wie ein Betriebsunfall aussieht, weckt dagegen alle Erzfeindschaften wieder auf, der alte Hass wird ausgelebt, ganz atavistisch:daß in diesem Jahr 1871 die nackte Gewalt trotz so vieler Jahre der Zivilisation, trotz so vielen Predigens über die Brüderlichkeit der Völker, trotz so vieler Verträge für ein europäisches Gleichgewicht, daß da die nackte Gewalt, sage ich, ebenso uneingeschränkt ausgeübt wird und herrscht wie zu Attilas Zeiten. (Bd. V, S. 315) (mehr …)
Das Empire der Dinge. Ein Jahr mit den Goncourts (V)
Das Schweigen der Rose. Ein Jahr mit den Goncourts (IV)
Die Wirklichkeit: die Wahrheit? Ein Jahr mit den Goncourts (III)
Es ist all diese mit so großer Sorgfalt erlernte, mit soviel Mühe eroberte Wahrheit, die ihn so realistisch macht und unfähig, wie er sagt, zu phantastischen Zeichnungen: ›Das ist mein Fehler. In allem, was ich tue, gibt es ein Senkblei der Realität, das mich an die Dinge des Lebens bindet.‹ (Die Goncourts über Gavarni, Bd. II, S. 428)
1861. Mit dem zehnten Jahr ihres Tagebuches wird der epische Atem ihres Erzählens kraftvoller und mutiger. Die stilistische Beruhigung vergangener Jahre setzt sich fort. Collagen und verstreute Einzelnotate werden mehr zurückgenommen oder eleganter von Erzählpassagen aufgesogen. Serien zusammenhängender Schilderungen ziehen sich durch: Episoden aus dem Schriftsteller- und Journalistenleben von Aurélien Scholl (der immer für einen überspannten Fauxpas gut ist), von Gustave Flaubert (der gut sechs Stunden aus dem nahezu abgeschlossenen Salammbô deklamiert, Bd. III, S. 72-75), vom Tod des Schriftstellers Henri Murger (Bd. III, S. 23-29); dazwischen immer wieder Selbstentblößungen und Verstiegenheiten des Faktotums und Kritikers Paul de Saint-Victor, des Redakteurs Alphonse Gaiffe oder des abgeschmackten Linksextremisten und Chefredakteurs Alphonse Peyrat (mehr …)
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