Die Hände machen einfach von selbst weiter
Igor Levit spielte die gesamten Vexations von Erik Satie, zwanzig Stunden lang – so war es geplant –, im Aufnahmestudio b-sharp in Berlin-Pankow, am 30. und 31. Mai 2020:
Ein zarter Nebel
Drei Kameras filmten ihn, die Bildregie wechselte durchaus behende. Kräcker, Früchte und Getränke standen auf dem Klavier und einem Beistelltisch linker Hand. Ein hoher Packen mit den Vexations auf einer Seite lag rechter Hand auf dem Klavier. Die einzelnen Notenblätter waren nummeriert bis zur Ziffer 840; Vorbild war hier die Aufführung durch Richard Toop im Oktober 1967, im Arts Lab in der Drury Lane, London (cf. Gavin Bryars, »Vexations and its Performers«, in: Contact: A Journal for Contemporary Music, No. 26, p. 13). Nach zwei Minuten ungefähr, nach jeder durchgespielten Partitur nahm er sie fort und liess sie auf den Boden gleiten. Die Blätter bedeckten schon nach kurzer Zeit mehr und mehr Fläche des Parketts.
Nach etwa 80 Minuten biss er erstmals in einen Kräcker. Nach etwa 165 Minuten, als er das Motiv der Vexations bis zu einem deutlichen Forte, ja Vivace hinausgetrieben hatte, legte er sich einen neuen Packen von Motivpartituren auf. Mit dem neuen Packen liess er sein Spiel drastisch ins Pianissimo und Lento stürzen. Kurz darauf verliess er das Klavier für knapp eine Minute. Vermutlich zum Austreten.
Die Müdigkeit und die zunehmende Erschöpfung waren ihm nun langsam mehr und mehr anzumerken. Wie er weicher in den Lehnstuhl rutschte, auf dem er sass; wie er teils nur noch leicht mit einer Hand aufgelegt spielte, um Kraft zu sparen. Ihm war anzusehen, nach gut 210 Minuten, dass er nun wirklich ahnte, wie schwer die verbleibenden über 16 Stunden tatsächlich noch werden würden. Auch die Einsamkeit, Verlorenheit, auch der Mangel eines Publikums vor Ort, einer direkten Resonanz waren nun zu spüren. Er würde da noch zwei Arbeitstage lang seine Aufgabe ausführen. Das Experiment wurde nun mehr und mehr eines der Beobachtung dieses Performers – weniger nur das Experiment des Performers. Ich beobachtete, wie oft er zu Snacks griff, wie er seine Beine in immer neuen Lagen oder Verschränkungen zu entspannen suchte, wie er den Oberkörper anders entspannte, ausspannte, eine pausierende Hand am lackierten Holz des Instruments abstützte oder auch abkühlte; wie er die Augen ganz schloss.
Die Musik erfüllte tatsächlich unser Haus als Möbelmusik, als die berühmte musique d’ameublement, von der ihr Komponist stets geträumt hatte. Das offene, driftende tonale Zentrum dieses Stückes – das alles andere als atonal ist, wie es manchmal heisst – trug dazu bei. Es prädeterminierte nicht die Raum- oder Situationswahrnehmung durch fixe Akkordschritte und Motivarbeit. Es legte sich tatsächlich als zarter Nebel, als sanfter Filter, als begleitender Duft über diesen Spätnachmittag, durch die Zimmer unseres bescheidenen Hauses. Es war im umfassendsten und durchdringendsten Sinne: ubiquitäre Musik (Anahid Kassabian).
Der Pianist gähnte. Sein Blick schweifte in immer erstaunlichere Richtungen ab. Die fallenden Blätter schienen immer lauter auf das Parkett zu donnern. Lachte er jetzt? Oder war sein Gesicht schmerzverzerrt? Immer öfter wählte er die regelmäßige Selbstversicherung durch Selbstberührung: er strich sich langsam durchs Haar, berührte sich selbst am Unterarm, legte die Hand auf den Bauch. Er streckte und räkelte seine Arme in die unwahrscheinlichsten Richtungen; eine pausierende Hand spielte verlegen auf dem Korpus des Klaviers oder dirigierte schwingend in der Luft.
Unverwandt, doch gelegentlich auch etwas angewidert schaute er den immer noch beachtlichen Reststapel der Noten oder auch die zahlreich gefallenen Noten am Boden an. Immer wieder, schon seit Stunden, nahm er Schlucke aus dem Wasserglas.
Durch den Schmerz hindurch
Sein Spiel versuchte mehr und mehr auch eine gymnastische Übung zu sein. Immer länger schloss er beide Augen, lehnte sich zurück, als würde er bald im Schlaf spielen wollen, nach nunmehr fünfeinhalb Stunden. Ein Viertel der Strecke lag hinter ihm.
Ich musste unwillkürlich ans Tanzen über viele Stunden hinweg denken: wer fünf, zehn, zwanzig Stunden durchtanzt, der hält eine ausladende und publikumsorientierte Anspannung der Bewegung nie über die gesamte Zeit aufrecht. Sobald Tänzerinnen und Tänzer ein Bewusstsein davon entwickeln, dass sie auf genau diese Weise kaum viele Stunden werden tanzen können, setzt üblicherweise eine etwas ökonomischere und vor allem dem Selbsterhalt dienende Reduktion der Bewegungen ein. Bella figura ist dann schlicht nicht mehr wichtig (Leistungsdrogen modifizieren freilich das Tanzverhalten, aber eine Einnahme derselben scheint mir für Levits Performance kaum offensichtlich). In anderen Worten: »10 hours in and you know you’re running low on energy but you still wanna dance«
Nach fast sechseinhalb Stunden folgte eine weitere Pause – vermutlich aber hatte ich weitere schon verpasst. Bevor Levit wieder einsetzte, musste er sich aber erst wieder anregen: mit beiden Fäusten schlug er sich motivierend, mit geschlossenen Augen etliche Male auf die Oberschenkel. Es schmerzte, das zu sehen. Das Wasser trank er jetzt direkt aus der Flasche. Gelegentlich schien es, er würde innerlich mitsingen.
Nach sieben Stunden sah ich erstmals, wie er aufstand und im Stehen spielte. Es war erkennbar, wie er nun vor allem seine ganze Kraft aufwenden musste, um überhaupt diese Performance durchzustehen. Sein Spiel war nun definitiv vor allem von diesem Durchhalten geprägt. Der Schweiss des Pianisten war zu sehen; zum zusätzlichen Atmen musste der Mund stets leicht geöffnet sein. Wieder stand er auf. Die Differenzierung und Subtilität der Darbietung war nun wirklich nicht mehr wichtig. Es ging ums schiere Durchbrettern, Weitermachen, Ankommen. Noch einmal das Motiv; und noch einmal. Dann noch einmal. Und noch einmal. Eine weitere Pause. Sie dauerte deutlich länger als frühere, gut sechs Minuten. Techniker brachten neue Getränke, Überlebensmittel; der Boden zu seinen Füßen wurde etwas freigeräumt von Noten.
Zum Beginn der nächsten Serie brach ein »Oh Mann.« aus ihm: halb sich erleichterend und halb sich wundernd, was er sich damit wohl eingebrockt haben mag und warum eigentlich? Doch weiter ging’s.
Sein Blick wirkte auf mich immer leerer. Die achte Stunde war bald vorüber. Immer längere Perioden spielte er nur noch mit geschlossenen Augen.
Ich fragte mich: wie lange würde ich das, als bloßer Zuhörer, nun noch durchhalten? Irgendwann würde ich einschlafen, er würde weiterspielen, ganz sicher; später würde ich aufwachen, er würde wohl immer noch weitergespielt haben. Ich frühstückte dann am morgen, eher spät vermutlich, und er würde genau dann wohl vollkommen ausgelaugt zusammensinken, davonwanken, die Schnauze voll. Keine Kraft für höfliche Verabschiedungen. Vielleicht gelänge es mir sogar, wenn ich des nachts einmal kurz aufwachte, in den Stream hineinzuschauen?
Er brauchte eine weitere Pause, nach achteinhalb Stunden. Die 418. von 840 Wiederholungen. Er liegt also sehr gut in der Zeit: etwa 60 Wiederholungen schneller als geplant oder nötig. Es ist nun wieder ein ganz sanftes, ganz unendlich leises, ruhiges, von grenzenloser Zartheit getragenes Stück. Alles Durchballern ist weg. Hingabe. Völlige Hingabe. Sein von sich selbst erstauntes Glück darüber ist sichtbar, sein Verwundern; und immer noch der Schmerz darin. Die Überwindung ist nicht verschwunden, sie ist lediglich zur Gewohnheit geworden, eine gute Gewohnheit.
Fast wird sein Spiel nun wieder kokett. Er probiert das Stück wieder aus: was steckt da noch drin? Was geht hier noch? Er legt seinen Kopf kurz auf dem Klavier ab beim Weiterspielen. Er atmet durch und spielt als wärs ein Hochzeitsmarsch, ein wagnerianischer Ritus.
Er zieht nun das linke Bein auf den Stuhl, legt seinen Kopf auf das Knie beim Spielen. Die 432. von 840 Wiederholungen nun. Später bettete er immer öfter seinen Kopf fast auf die spielenden Hände. Ich merke, wie ich bald schlafen muss. Noch eine halbe Stunde vielleicht, dann hat er zehn Stunden gespielt. Wenn er aber in diesem Tempo etwa weiterspielt, wäre er schon nach 17 Stunden bei Wiederholung 840 angelangt: also gegen sieben Uhr morgens. Vielleicht muss ich morgen dann doch schon um sechs Uhr aufstehen? Um ihn wenigstens in der allerletzten Stunde nicht alleinzulassen?
Ob ich wohl gleich von Levit und seinen Vexations träumen würde?
A White Noise of Sorts
Als ich gegen sechs Uhr morgens aufgewacht bin, lese ich von einer Freundin, dass es wohl doch schon um um 5:30 vollbracht war? Nach 15 1/2 Stunden? Gut. Den Reststream von fünfeinhalb Stunden werde ich mir dann später zeitversetzt anhören.
Ich hatte tatsächlich nicht von Levit geträumt, aber doch etwas unruhig geschlafen. Gegen zwei und halb fünf am morgen war ich kurz wach und beim ersten Mal hatte ich auch kurz in den Stream geschaut: Levit spielt weiter beharrlich, weiterhin im Modus des Schlafliedes. Ich konnte also beruhigt weiterschlafen. Halb fünf hätte ich tatsächlich aufstehen können, um – wie ich ja später erst erfuhr – die letzten Stunde zu verfolgen. Aber bevor ich noch hierüber eine ernsthafte Entscheidung zur Aufstehhandlung treffen konnte, war ich schon wieder eingeschlafen. Ich schaute mir am folgenden Mittag also die letzten drei Stunden an, ab zwei Uhr morgens. Er spielte nun vollkommen allein durch seinen Körper. Die Töne ergaben kaum mehr die chromatische Drift, die ansonsten mit Satie assoziiert wurde, nicht mehr diesen flirrenden Nebel aus Interferenzen und Obertönen, der seine einfachsten Stücke so anregend, komplex und spektral klingen liess. Die Vexations waren nun ein Kinderlied. Ganz vereinfacht, reduziert auf den schlichten Kern, ganz ökonomisch und direkt gespielt.
Levit war nun der Arbeiter, der am Fließband die Noten runterriss. Ordentlich, sauber, hie und da machte seine Kennerschaft und Erfahrung ganz lakonisch sich geltend. Doch für Abstufungen, Verspieltheiten und melodramatische Akzente war nun, in der zwölften Stunde weder Kraft noch Interesse aufzubringen. Die Noten mussten produziert werden. Das war das Ziel.
Nach der nächsten Pause, zur dreizehnten Stunde, wurde das Spiel wieder weicher; Levit swingte mit, wie in Trance und wenig auf Aussenwirkung bedacht bewegte er sich hin und her. Interniert in Saties Vexations. Das Stück ist zur Traummelodie geworden: halbbewusste Drift durch die Notensysteme. Ganz sanft wieder. Weicher weiter, und weiter hindurch. Auch eine Studie von 2003 setzt den Beginn eines längeren Trancezustandes beim Spielen dieses Stückes nach etwa dreizehneinhalb Stunden an (cf. Christine Kohlmetz, Reinhard Kopiez, Eckart Altenmüller, »Stability of motor programs during a state of meditation: electrocortical activity in a pianist playing ‘Vexations’ by Erik Satie continuously for 28 hours«, in: Psychology of Music 31(2), p. 182) Länger strich Levit sich nun mit der Hand übers Gesicht, sie blieb an der rechten Backe liegen. Die Augen wieder lange geschlossen, als spielte er wirklich im Halbschlaf. Der motorische Automatismus schien ihn durch die Nacht und die Aufführung zu geleiten. Nur ganz kurz stolpert er vielleicht in einen Sekundenschlaf: dann hält sein Spiel inne, aber nur knapp eine Sekundelang.
Währenddessen transformiert sich auch das Hören: ich höre selbst wie in Trance. Es fällt mir immer schwerer, eine differenziertere Struktur und mögliche Abstufungen seines Spiels zu erkennen und in Beziehung zueinander zu bringen. Oder wie es Matt Berninger, Sänger von The National, nach einem Sechsstundenkonzert des insgesamt 100 Mal wiederholten Stückes (»Sorrow«, aufgeführt am 5. Mai 2013) ausdrückte: »No I like it all… it’s a white noise of sorts in my brain«.
Kurz vor Vollendung der dreizehnten Stunde nahm er sich nochmal eine längere Pause und sortierte die Notenpacken neu. Einige Kommentatorinnen des Streams fragten sich, wann er wohl die drei neben ihm wartenden Bananen äße. Eine sei ja doch schon ganz schwarzbraun. Die vierzehnte Stunde begann dann zunehmend wieder beschwingter und differenzierungsfroher im Spiel. Weiterhin schwang sein Oberkörper mit; die Augen weiter geschlossen oder wenigstens halbgeschlossen.
Bald schon endete dann auch die vierzehnte Stunde, es war vier Uhr morgens. Nach der nächsten Pause schäkerte Levit etwas mit den anwesenden Personen, bevor er sich wieder setzte. Der Pianist ließ sich anmerken, dass er sich nun, endlich, in der Zielgeraden befand. Neue Kraft, das Ziel jetzt wieder vor Augen. Er ließ sich wieder Zeit für Explorationen, Verspieltheiten; klar, die kleinsten Spielfehler wurden nicht weniger, aber das gehörte zum Vorhaben dazu. Die Komposition verzieh das durchaus. Zwischendrin musste der Kopf des Pianisten sich wieder auf der Handfläche ausruhen beim Spiel. Er lehnte sich wieder zurück, bequemer, müder, weicher wurde alles. Besonders die linke Hand spielte öfters weitgehend alleine, unbeaufsichtigt, so wollte es scheinen.
Die letzte Stunde war angebrochen, halb fünf Uhr morgens. Sanfter und zarter, müder und noch hingegebener spielte er. Die Zartheit einer allmählich zuendegehenden Komposition. Immer leiser, manchmal leiser als erwartbar. Fünf Uhr: die letzte halbe Stunde, die letzte Pause.
Beschwingt und donnernd begann Levit die letzte Serie der Vexations. Dann richtete er sich wieder häuslich ein. In den letzten zehn Minuten machte er es sich nochmal richtig gemütlich. Er wohnte nun in dieser Komposition und in dieser unausgesetzt durchstreiften, gargantuesken Landschaft aus 840 Saties, 840 Vexations, 840 Wiederholungen.
Nun spielte er das vorletzte Blatt. Schaute unverwandt und befremdlich erstaunt auf seine recht Hand, als sie gerade nicht spielte. Spielte das letzte Blatt. Viel zu langsam, nochmals sehr erstaunt, wie verstört. Als wär’s sein allerletztes Stück jemals, Finale. Jede Note klang nach, tropfte herab. Unerwartet, fast. Als lernte er das Stück jetzt erst. Erstmals. Er genoss diese allerletzte Wiederholung, in aller Betäubung, in aller Enthobenheit.
Dann kuckte er staunend auf die Tasten, nahm das letzte Notenblatt weg. Schloss zögernd, als fiele es ihm unendlich schwer, das Klavier. Legte seinen Kopf auf das Klavier. Er nahm sein Handy und seinen Schlüsselbund von einem Hocker und ging aus dem Studio.
Die 1217. Wiederholung
Nach dem Ende, nach der Verabschiedungsmail des Pianisten, beginne ich zu zweifeln. Ich lese von seiner Erleichterung und Dankbarkeit. Ich spüre meine eigene Erleichterung, ich lasse meine Faszination und mein Staunen, mein Mitfiebern und meinen Respekt nachwirken. Ich spüre und ahne allerdings auch etwas fast Unaussprechliches, etwas fast Beleidigendes und Respektloses – nach Ende der Performance.
Denn plötzlich war alles einfach vorbei. Beendet ohne großen Beifall, ohne Blumen, ohne tränenreiche Umarmungen, ohne Jubel. Einfach so. Eine Leere blieb. Nutzlosigkeit, Tragik, vielleicht auch Verlorenheit nach dem Ende. Für einen Pianisten, der etliche Gesamteinspielungen, tägliche Hauskonzerte und ohnehin tägliches Üben zum Teil seines professionellen Leben gemacht hat, ist diese Erfahrung vermutlich banal. Vermutlich ist er ohnehin nun schon wieder ausgerichtet auf ein anderes Aufnahmeprojekt, die Erarbeitung eines neuen Repertoires, weiterer spielerischer Herausforderungen. Doch die Erschöpfung nach 15 1/2 Stunden hinterlässt einen ganz leicht auch schalen Nachgeschmack, eine ganz zarte, doch scharfe metallische Note. Warum? Ist wirklich mehr erreicht worden als Erschöpfung? Aber warum auch erreichen? Vielleicht ist genug erreicht mit all den tausenden Zuhörerinnen und Zuschauern, die seine Performance verfolgten, nicht wenige tatsächlich über die gesamte Zeitstrecke hinweg. Der Schmerz des Durchhaltens, des Durchgehaltenhabens, des Erfahrenhabens, ein Glück des Angekommenseins. Womöglich muss das schon genug sein. Für ein professionelles Leben, für ein privates Leben?
Gut acht Stunden nach Ende der Performance filmte Levit seine Hände, wie sie weiterhin die Vexations spielten, am Tisch. Er schrieb dazu:
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