Die Republik der Außenseiterin
(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Die Klagen über ihren »undemokratischen« Regierungsstil füllen inzwischen Bände. Doch was damit gemeint ist, ist merkwürdig unklar geblieben. Von Verschwörungstheorien und abstrusen Behauptungen wie dem Umvolkungsnarrativ einmal abgesehen, konkurrieren im Wesentlichen zwei Deutungen. Für die einen besteht das demokratische Problem dieser Kanzlerschaft vor allem in der Logik des Sachzwangs und einer unpolitischen Technokratie. Als Sündenfall der Merkel-Ära gilt neuerdings ihre Sprache, jenes Ensemble aus »toxischen Phrasen« einer vermeintlichen Alternativlosigkeit (»TINA«), die jede demokratische Entscheidung unterlaufen. [2. Astrid Séville, Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft. München: Beck 2018.] Die Bundeskanzlerin wäre dann die Volkstribunin einer Wohlstandsgesellschaft mit abnehmendem politischen Orientierungsbedarf: Lebt euer Leben, ich kümmere mich um den Rest. Nur trifft das Urteil aber spezifisch weder auf die Person der Bundeskanzlerin noch auf die Politik ihrer Zeit, sondern auf eine ganze Epoche zu. In den Nullerjahren sprachen ja auch Unternehmensberater, Politikwissenschaftler und Lebensratgeber im weichen Sound der Technokratie. Gerhard Schröders Interpretation der Richtlinienkompetenz (»Basta-Politik«), die er seit dem Frühjahr 2003 praktizierte, stand jedenfalls in schlechtem Ansehen. Wer wollte der Politik aber verübeln, dass sie zu einer Gesellschaft, die die Macht verachtet, in einer Sprache spricht, die sie dezent verschweigt und durch Management ersetzt? Dass diese Sprache heute niemand mehr hören kann und sie trotzdem bei Wahlen gelegentlich honoriert wird, kann man schwerlich der Politik in die Schuhe schieben.

Anderen gilt gerade das Gegenteil von Sachzwang als undemokratisch, nämlich hochgradig kontingente, disruptive Politikwechsel: Wehrpflicht, Atomausstieg, Euro-Rettung, Flüchtlingskrise und Ehe für alle sind Stichworte einer Politik, mit der Partei und Parlament gezielt überrumpelt wurden. Niemand würde es heute mehr – wie noch Arnulf Baring kurz nach der Wiederwahl der rot-grünen Regierung und ein halbes Jahr vor Beginn der Agenda-Reformen – für bedauerlich halten, dass das Grundgesetz keinen Artikel 48 kennt und deswegen »erforderliche, schmerzliche Reformen ohne das Parlament […] mit Hilfe präsidialer Notverordnungen« unmöglich sind. [3. Arnulf Baring, Bürger, auf die Barrikaden! Deutschland auf dem Weg zu einer westlichen DDR. In: FAZ vom 19. November 2002.] Die fundamentalen politischen Entscheidungen seit 2005 wurden meist ganz und gar nicht technokratisch, sondern, jeweils mit den Mitteln demografischer Feinsteuerung, ziemlich explizit moralisch begründet. Darauf hat Christoph Möllers vor kurzem aufmerksam gemacht: »In vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gilt die Verbindung von Sparsamkeit gegenüber Griechenland, einem Mitglied der EU, und Offenheit gegenüber außereuropäischen (lesen ...)
It’s Over. Begegnungen in Hongkong
Auf den ersten Blick ist alles wie immer. Die Hochhäuser ragen in den Himmel wie die stumpfen Stacheln eines versteinerten Igels. In der Lockhart Road, wo alte, biertrinkende, weiße Männer in Bars mit jungen, cocktailtrinkenden, asiatischen Prostituierten und Escort-Damen tändeln, wabert der gewohnte süßsäuerliche Fäulnisgeruch. Geschäftsmänner steigen in ihre Teslas ein, Geschäftsmänner steigen aus ihren Teslas aus. Auf den Märkten zappelt Meeresgetier in flachen Becken seinem kulinarischen Ende entgegen, und in den Boutiquen boomt das Luxus-Shopping. Am Wochenende treffen sich in den Parks die immer noch in prekärer rechtlicher und finanzieller Lage darbenden »domestic helpers« von den Philippinen, aus Malaysia, Indonesien, während ihre Arbeitgeber im Happy Valley Pferderennen verfolgen. In den Häuserschluchten, zwischen den Leuchtreklamen und den Imbissbuden, begegnet man weiterhin jenen älteren Frauen, die mit Handkarren im Gewimmel umhermanövrieren; die Blicke starr, die Rücken krumm, der Gang eine unverwechselbare Mischung aus Tippeln und Schlurfen. Und doch ist etwas anders im Hongkong des Jahres 2018. Ein Narrativ kursiert in der Sonderverwaltungszone, wird unablässig wiederholt und weitergegeben. Bei Tischgesprächen in den Cafés. In den Medien. Unter Studierenden an Hochschulen. Auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken. Es lautet: It’s over.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
»Mainlandization«
In einem Restaurant bei North Point entspinnt sich im Januar 2018 ein spontanes Gespräch mit einem Geschäftsmann aus der Finanzbranche. Er ist Anfang vierzig, wacher Blick, ausgezeichnetes Englisch, Familienvater, seit dreizehn Jahren im Business und dies augenscheinlich sehr erfolgreich. Hongkong sei jahrzehntelang ein Leuchtturm in der Region gewesen, erzählt er, während er sich seine Steamed Pork Dumplings munden lässt. Nicht nur als Labor der Finanzindustrie. Sondern auch als Hort einer eigenständigen, hybriden Gesellschaft, die weder chinesisch noch westlich im engeren Sinne sei. Seit ein paar Jahren sehe er jedoch schwarz für sie: »Hongkong ist im Niedergang.« Der ehemaligen britischen Kronkolonie war 1997 bei der Rückgabe an die Volksrepublik China bis zum Jahr 2047 weitreichende Autonomie zugestanden worden. Das Motto lautete: »Ein Land, zwei Systeme«. Dessen ungeachtet greift die Kommunistische Partei der Volksrepublik unter Staatspräsident Xi Jinping immer stärker, immer unverhohlener in Politik, Wirtschaft, Bildung und Justiz Hongkongs ein.
Aussichten für Ambazonien
Am 5. Januar 2018 entführten nigerianische Sicherheitskräfte zwölf Männer aus einem Hotel in Abuja, der Hauptstadt von Nigeria. Alle gehörten der selbsternannten Regierung der Republik Ambazonien an, Afrikas jüngster Sezessionsbewegung im Nachbarland Kamerun, und alle waren als Flüchtlinge nach Nigeria gekommen. Einige von ihnen lebten schon eine ganze Weile im Land, darunter Sisiku Julius Ayuk Tabe, der »Präsident in spe« des aufstrebenden Ambazonien und, sollte es je dazu kommen, eines Volks von ungefähr fünf Millionen Menschen. Zunächst machte die nigerianische Presse viel Wirbel um die Entführung, seither aber hat man kaum mehr etwas von der Sache gehört. Der leitende Redakteur einer führenden nigerianischen Tageszeitung erklärte mir gegenüber, er scheue sich keineswegs, die Story anzugehen: Es sei ihm einfach nicht in den Sinn gekommen, dass man darüber berichten müsse.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Die Frage, die die Abspaltung Ambazoniens unvermeidlich aufwirft, lautet: Sind afrikanische Staaten, die ihre Grenzen der Kolonialzeit verdanken, in der Form, wie sie vom europäischen Imperialismus geschaffen wurden, überhaupt noch lebensfähig? Die afrikanischen Staatschefs, die Afrikanische Union und ihr Vorgänger, die Organisation für Afrikanische Einheit, haben sich stets gegen die Idee ausgesprochen, Staatsgrenzen neu zu ziehen. Die alten Kolonialgrenzen, so unbefriedigend sie auch sein mochten, sollten bleiben, wie sie sind. Eine Neuordnung moderner Staaten nach dem Modell der vorkolonialen Vereinbarungen zwischen religiösen Gruppen und Völkern (oder »Stämmen«, wie man uns nannte) würde noch mehr Chaos verursachen. Dass sich die Gründung des Südsudan im Jahr 2011 zur Katastrophe auswuchs, schien den Beweis dafür zu liefern. Doch auch Rohstoffvorkommen spielen bei diesen Überlegungen eine Rolle: Der neue Staat Ambazonien würde über fast alle Öl- und Gasreserven vor der kamerunischen Küste verfügen sowie über wertvolle Hochwälder im Landesinneren. Mich, einen Nigerianer, erinnert die aufkeimende separatistische Bewegung im benachbarten Kamerun daran, dass die Grenzprobleme des Kontinents mehr mit der Unfähigkeit seiner Regierungen zu tun haben, riesige Territorien zu verwalten, als damit, dass Grenzen tatsächlich unklar oder Landstriche umkämpft wären. Kamerun und Nigeria haben zwar langwierige und kostspielige Grenzstreitigkeiten miteinander geführt, aber viel bedeutsamer ist jetzt, dass beide Länder sich inzwischen in die lange Liste der afrikanischen Staaten – darunter die Zentralafrikanische Republik, Tschad, Niger, Sudan und Somalia – eingereiht haben, in denen die Macht des Regimes nicht bis in die Randgebiete reicht. Boko Haram machte sich diese Situation in Nigeria zunutze und verschärfte sie noch. In Kamerun entstand der Wunsch nach einem unabhängigen englischsprachigen Ambazonien, weitab von der französischsprachigen Hauptstadt Yaoundé, nachdem die Region von der Zentralregierung jahrelang durch Repressalien drangsaliert, ansonsten aber vollkommen vernachlässigt worden war.
Héberts Tod
..Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit. Robespierre
Der Kopf von Jacques-René Hébert (1757–1794) kann nicht mehr besichtigt werden. Im April 2016 schloss die Chamber of Horrors von Madame Tussauds in London; die Beschwerden besorgter Eltern waren zu zahlreich und zu vehement geworden. Damit verbannte das Unternehmen seine Gründungsgeschichte in den Keller. Die Wachsköpfe der guillotinierten Revolutionäre waren das Startkapital, das die Straßburgerin Marie Grosholtz 1802 nach England mitbrachte und dem sie den Erfolg ihrer Ausstellung verdankte. Noch immer kommt das Publikum in Scharen zu Madame Tussauds, doch die Faszination für den Gesichtsausdruck im Augenblick des Todes hat sich offenbar nicht gehalten.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Bis dahin war der aufgespießte Kopf Héberts zwischen den Häuptern Jean-Baptiste Carriers und Maximilien Robespierres aufgereiht. Die schlechte Gesellschaft spricht für Héberts üblen Ruf. Und man kann in der Platzierung eine Art Hierarchie der Erinnerung erkennen: Wenn Carrier nur mehr als barbarischer »Schlächter von Nantes« bekannt ist und Robespierre die schillernde Inkarnation der terreur, rangiert Hébert dazwischen, als »monstre subalterne« (Louis-Sébastien Mercier). Der Journalist und Politiker ist eine prominente Nebenfigur der Revolution. Er trug den fiesen Teil zum Martyrium Marie-Antoinettes bei und begründete mit seiner vulgären Zeitung, dem Père Duchesne, den populistischen, ultraradikalen Hébertismus. In Frankreich taugen die großen Revolutionäre immer noch zur politischen Identifikation: Hält man zu Robespierre oder Danton, zu den Jakobinern oder den Girondisten, den Radikalen, den Gemäßigten oder gar den Monarchisten? Hébert spielt bei diesen historischen Selbstverortungen keine Rolle, weder als Held noch als finsterer Gegenspieler. Denn Hébert gilt als »charakterlos« (Albert Soboul), und das liegt an seinem Tod. Die Anekdote seines jämmerlichen Sterbens ist immer wieder erzählt worden: Am 24. März 1794 wurden die Hébertisten verurteilt und noch am gleichen Tag guillotiniert. Auf dem Weg zur Place de la Révolution kamen Hébert die Tränen. Die Sansculotten verspotteten ihn, und er hatte schreckliche Angst, weinte, zitterte, taumelte, fiel in Ohnmacht und schrie vergeblich um sein Leben. Dazu passen die letzten Worte, die ihm der Henker Sanson in seinen (apokryphen) Memoiren in den Mund gelegt hat: »Pas encore«.
Die Verhaftung
In der Nacht vom 13. auf den 14. März 1794 wurde Jacques-René Hébert zusammen mit François-Nicolas Vincent, bis kurz zuvor erster Sekretär des Kriegsministeriums, Charles-Philippe Ronsin, General der Pariser Armée Révolutionnaire , und Antoine-François Momoro, Präsident des Club des Cordeliers, auf Anordnung des Wohlfahrtsausschusses festgenommen. Hintergrund der Verhaftung war ein politischer Machtkampf, den die Gruppe um Robespierre erst gegen die »Ultraradikalen«, wenige Wochen später gegen die »Nachsichtigen« um Danton und Desmoulins führte. Die vier Verhafteten waren namhafte und einflussreiche Wortführer der Sansculotten und verfochten das vage Programm einer direkten Demokratie, eine radikale Politik für die sozioökonomische Gleichheit aller (nichtaristokratischen) Bürger, eine expansive Kriegspolitik, den »Kult der Vernunft« und die unnachgiebige Verfolgung aller Wucherer und Konterrevolutionäre. Sie waren die selbsternannten Advokaten des Volks, und insbesondere Hébert verfügte mit dem populären und auflagenstarken Père (lesen ...)Ostküste. Popkolumne
Und jetzt sind sie wirklich überall und nicht mehr zu übersehen. Feine Sahne Fischfilet finden sich nicht mehr nur auf den Partys und Sweatshirts von Antifa, vorpommerscher Jugend und linken Studierenden. Als im September 2018 in Chemnitz innerhalb kürzester Zeit auf Initiative der Band Kraftklub ein Musikfestival unter dem Hashtag #WirSindMehr die Straßen und Plätze der Stadt vom rassistischen Mob zurückerobert, ist das Provokationspotential von Feine Sahne Fischfilet so hoch, dass der Bundespräsident für seinen via Facebook geteilten Hinweis auf das Konzert massiv kritisiert wird. (mehr …)Das Autonomieproblem digitaler Gesellschaften. Digitalkolumne
Die Frage nach der Autonomie ist brisant. Wer kann aus dem Einsatz von Rechnern, Software und Netzwerken Autonomiegewinne ziehen, wo werden Autonomieansprüche algorithmisch beschnitten? Datenschutz und Überwachung, die Diskussionen um Big Data und Algorithmen sowie die Auseinandersetzungen um soziale Medien, filter bubbles und politische Manipulation kehren immer wieder an den Punkt zurück, wo es um bedrohte Selbstbestimmung oder um erhoffte Autonomie geht. Autonomie ist ein Hochwertwort der Gegenwart. Neu ist nur, dass es in letzter Zeit gerne in den Zusammenhang mit Algorithmen gebracht wird. Tag für Tag scheiden sich die Geister an der im Google Car erfahrbar gewordenen algorithmischen Autonomie von Automobilen. Letztlich geht es dabei um die Frage nach dem Verhältnis von Freiheitsermöglichung und Freiheitsbeschränkung in der Konsumwelt, im Gesundheitswesen, ja selbst in der Demokratie und der Spielwelt.Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.
Soll man angesichts dieser Veränderungen zum Apologeten des Technischen werden und verharmlosen, wo Skepsis angebracht ist? Oder muss man zum Apokalyptiker werden und übertreiben, wo die Technik das Malaise schon antrifft? Ein technikhistorisch informierter Blick auf die Erscheinungsformen der Autonomie in der Epoche der digitalen Wirklichkeit löst das Dilemma, wenn Autonomie nicht normativ oder begriffsgeschichtlich umzingelt, sondern als Aushandlungszone für verständigungsorientiertes Handeln verstanden wird. Das Beispiel der rechnergestützten Verwaltung ist schon lange ein gutes Beispiel, um das Verhältnis von Computer und Gesellschaft besser beobachten und verstehen zu können und über Prozesse soziotechnischer Selbstvergewisserung und Verständigung nachzudenken.Autonomie in der digitalen Wirklichkeit
Kommerziell einsetzbare elektronische Rechner, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum ersten Mal entstanden sind, zeichneten sich in den Augen ihrer Anwender durch eine hohe Sortierleistung bei maximaler Sturheit aus. Das eine war ein attraktives Versprechen, das andere eine Tatsache, mit der man gleich nach der Auslieferung einer Anlage auf unliebsame Weise konfrontiert wurde. Rechner taten einfach gar nichts, wenn man es ihnen nicht mühsam, Schritt für Schritt und immer schriftlich beibrachte. Danach wurden Rechner wie vor ihnen bereits Automaten vollkommen fremdgesteuert – von Programmen, die Programmierer aufgrund der Anweisungen der Maschinenbauer in Maschinensprache geschrieben hatten. Man musste sie bedienen und in den Gehorsam zwingen, und das ging nur, wenn der Disziplinierung des Rechners eine Disziplinierung seiner Mannschaft vorausging.
Clan gegen Staat
Die politischen Gegner Donald Trumps konnten dem langen Sündenregister, das sie seit seinem Amtsantritt über seine Verfehlungen führen, unlängst einen weiteren Punkt hinzufügen. Einem Bericht der New York Times zufolge sollen der Präsident und seine Geschwister vor mehr als zwanzig Jahren ihren Eltern durch Überschreibungen und Schenkungen dabei geholfen haben, mehrere hundert Millionen Dollar an Steuern zu hinterziehen. Bekanntlich werden in den USA solche Vergehen mit drakonischen Strafen belegt. Steuerbetrug gilt als ein Verbrechen gegen den Staat. Der Vorwurf müsste unter diesem Gesichtspunkt eigentlich schwerer wiegen als vieles, was gegen Donald Trump bisher vorgebracht worden ist. Wie aber ist es dann zu erklären, dass sich die öffentliche Entrüstung darüber bislang eher in Grenzen hielt?Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.
Patriarchale Politik
In einer berühmten Szene in Der Pate wird dem alten Don Corleone von den Heldentaten und den vielen Tapferkeitsauszeichnungen erzählt, die sich sein jüngster Sohn in den Schlachten des Zweiten Weltkriegs erworben hat. Geduldig hört er zunächst zu, schüttelt aber nach einigem Nachdenken den Kopf und fragt schließlich verwundert: »Und das alles tut er für Fremde?« In einem Aufsatz über Sophokles’ Antigone hat der britische Verwandtschaftsethnologe Robin Fox diese Filmsequenz als einen Beleg dafür genommen, dass der Grundwiderspruch zwischen den Ansprüchen des Staates und den Verpflichtungen gegenüber den nächsten Verwandten, der im Zentrum des Stückes steht, auch heute noch nicht erledigt ist. Damit bezieht er eine Gegenposition zu der seit Hobbes, Rousseau und den schottischen Moralphilosophen immer wieder vertretenen Auffassung, derzufolge Staat und Individuum die eigentlichen Antagonisten seien. Er weist sie zwar nicht zurück, misst diesem Konflikt aber heute nur noch geringe Bedeutung zu.
Die Vernunft ist stärker als der Tod – Leben und Sterben des Anacharsis Cloots
Er wurde am 24. Juni 1755 als Johann Baptist Cloots auf Schloss Gnadenthal bei Kleve geboren und starb am 4. Germinal des Jahres II der Republik im Alter von achtunddreißig Jahren als Anacharsis Cloots in Paris unter der Guillotine. Der Vater, Thomas Fransiskus Cloots, reicher katholischer Reeder aus Amsterdam und Bankier diverser europäischer Adelshäuser, verließ 1748 nach der Heirat mit Adelaida de Pauw die calvinistischen Niederlande, um sich kurz hinter der preußischen Grenze in Schloss Gnadenthal niederzulassen. Noch im selben Jahr wurde er von Friedrich dem Großen zum preußischen Geheimrat ernannt, 1756 von Maria Theresia in den Baronsstand erhoben. Aktien und Fonds in England, Frankreich, Spanien und Österreich, Ländereien in Preußen und Häuser in Holland sicherten den herrschaftlichen Lebensstil der Familie. Die Mutter kam aus einem der führenden Patriziergeschlechter Hollands, das im Goldenen Zeitalter der Niederlande höchste politische Ämter innehatte. Ihr Bruder Cornelis de Pauw war Chorherr in der Xantener Stiftskirche Sankt Viktor und leitete die dortige Bibliothek. Friedrich der Große versuchte vergebens, den hochgebildeten und geistreichen Gelehrten mit Geld und Ämtern an sich zu binden. Der zog es vor, philosophische Schriften über die Indianer, die Ägypter und Chinesen sowie die Griechen zu verfassen, und wurde von Diderot und d’Alembert zur Mitarbeit an den Supplementbänden der Encyclopédie eingeladen.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
An der preußischen Zivil- und Militärakademie, wo junge Adlige auf eine Offiziers- oder Diplomatenlaufbahn vorbereitet wurden, war deutsch zu sprechen bei Strafe verboten. Jean Baptiste de Cloots – Baron du Val-de-Grâce, wie er sich nun nannte – lief keine Gefahr, das Reglement zu übertreten. Die Sprache seiner Landsleute war ihm so verhasst, wie er ihre Kultur als minderwertig und ihr Benehmen als barbarisch empfand. Bei der Entscheidung, ihn nach Abschluss des Jesuitenkollegs zum weiteren Studium nach Berlin zu schicken, wird die Mutter ihren Bruder zu Rate gezogen haben, denn ihr Mann war vier Jahre zuvor verstorben und hatte dem ältesten Sohn das Gut und Jean Baptiste Vermögenswerte hinterlassen. Cornelis de Pauw kannte die Akademie und ihre Unterrichtsziele, die vom König selbst stammten: Vernunft entwickeln, Urteile kräftigen, klare Begriffe bilden.
Das Wunder des Daseins
»Wir werden sterben, deshalb können wir uns glücklich schätzen.« Das ist der verblüffende erste Satz in Richard Dawkins’ philosophischstem Buch Der entzauberte Regenbogen. Er fügt hinzu: »Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden«, und zeigt, wie unwahrscheinlich unsere Existenz ist. Die potentiziellen Menschen, die an unserer Stelle hätten geboren werden können, sind größer an Zahl als die Atome des Universums. »Und unter diesen ungeborenen Geistwesen sind größere Dichter als Keats, größere Wissenschaftler als Newton. Das wissen wir, weil die Menge an Menschen, die aus unserer DNA entstehen könnten, bei weitem größer ist als die Menge der tatsächlichen Menschen. Und entgegen dieser gewaltigen Wahrscheinlichkeit gibt es gerade Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.«(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Schriebe ich je eine Autobiografie, ich würde mit der Beschreibung eines Zufalls beginnen, der ebenso gut nicht hätte stattfinden können: meiner Zeugung. Ein unerwartetes Klopfen an der Tür, eine abweichende Bewegung meiner künftigen Mutter, ein etwas anders laufender Gedanke im Kopf meines künftigen Vaters: Alles hätte mein Leben zerstören können, bevor es hätte beginnen können. Und keiner der Ungeborenen bekommt auch nur die Chance, sich zu beschweren; schließlich kann sich niemand über seine eigene Nichtexistenz beklagen. Behalten wir das also im Kopf, die Lotterie begann vor unserer Zeugung. »Unsere Eltern mussten sich kennenlernen, und ihre Empfängnis war ebenso unwahrscheinlich wie unsere eigene. Und so weiter rückwärts in die Vergangenheit über unsere vier Großeltern …« Bis ganz zurück an den Anfang des Lebens, zu den ersten sich selbst reproduzierenden Molekülen, die vor rund vier Millionen Jahren auf diesem Planeten erschienen sind.
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Ich bin jetzt öfter in Berlin-Britz. Meine Wanderung ist immer zwei Kilometer lang, vom Bahnhof Hermannstraße nach Süden, jedes Mal an die Straßenecke, wo sich unlängst die berühmte Schießerei zwischen zwei arabischen Clans ereignet hat, aus der abgeleitet wurde, eine bestimmte deutsche Fernsehserie, die gerade beworben werden musste, sei sehr realistisch. Britz ist eine No-go-Zone, in der mir noch nie etwas Böses passiert ist, und nichts erinnert mich hier an eine Fernsehserie.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Das Grundgefühl im Viertel ist Erschöpfung, Erschöpfung durch Armut. Die ständige Anstrengung, es irgendwie schaffen zu müssen, ohne es jemals schaffen zu können, macht die Menschen müde und aggressiv zugleich. Außerdem ist Armut schlecht für die Haut. Manchmal nehme ich auch den Bus. Die Fahrt führt erst an einem Geschäft für »Wurst-Sonderposten« vorbei, dann am »Billig-Bestatter«, das hat eine gewisse Logik. Es gibt kaum eine Busfahrt ohne Zwischenfälle, Auseinandersetzungen am Rande der Schlägerei. Auch die Busfahrer sind erschöpft. Aber wir kommen jedes Mal an den Betriebshof Britz der Berliner Verkehrsbetriebe, und oft dürfen sie dort Feierabend machen.
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