Der Maßstab der Wirklichkeit – Zur Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella
Der Roman Stella von Takis Würger ist zum Gegenstand eines feuilletonistischen Scherbengerichts geworden. In den extrem feindseligen Besprechungen bemerkt man einen Furor der Kritik, der Rezensent*innen vor allem dann überfällt, wenn man den Eindruck hat, es mit einem Buch zu tun zu haben, das nicht nur misslungen ist, sondern auch auf eine Art misslungen, die auf eine allgemeine literaturhistorische Misere verweist. In der Süddeutschen Zeitung etwa wurde das Buch zum „Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint.“ Und inzwischen ist der Streit um den Roman sogar bildzeitungsnotorisch geworden („Riesenstreit um Nazi-Buch!“) und hat so den esoterischen Bereich des ‚Betriebs‘ endgültig, wenn auch auf eine etwas unglückliche Art, transzendiert. Der Großverriss erscheint als diskursive Bühne, auf der wichtige Fragen der Zeit verhandelt werden können. Das ist unschön für den Autor, dessen Werk unversehens zum Schauplatz einer Debatte wird, die über den konkreten Text und dessen Qualität hinausweist; als diskursives Ereignis erscheint der Großverriss – das zeigt die Rezeption von Stella – allerdings unverzichtbar.
In diesem Fall geht es um die Frage nach den Maßstäben, die an ein literarisches Werk angelegt werden können. Würger lässt den Roman in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft spielen, die titelgebende Figur ist eine reale historischen Person. Beides hat ihm den Vorwurf der unangemessenen Verarbeitung eingebracht. Jan Süselbeck verweist in seiner literaturwissenschaftlich fundierten Besprechung bei Zeit online auf den unangemessenen Stil („verknappten Kinderbuchton“) und die nicht ausreichende Autorisierung des Autors, sich dieses Themas anzunehmen. Insgesamt wird vor allem deutlich, wie stark ästhetische und ethische Einwände gegen das Buch miteinander verbunden werden. Das moralische Versagen des Romans begründet also seine stilistische Katastrophe; und die Unfähigkeit, den richtigen Ton zu finden, führt wiederum zu moralischen Problemen. Der Großverriss von Stella lässt die Konturen einer Wertungskultur erkennen, die Literatur, wenn sie sich einem bestimmten Stoff zuwendet, an Maßstäben misst, die zunächst literaturfern erscheinen: An den Maßstäben der Wahrheit, der Autorisierung und der Angemessenheit des Stils. Im Wesentlichen geht es um die Frage: Wer darf welche Geschichte wie erzählen?
Man kann diese Verschmelzung von Maßstäben dafür kritisieren, dass sie der Autonomie des literarischen Werkes nicht gerecht wird: Sollte eine Autor*in nicht in der Lage sein, in einer fiktionalen Erzählung über alles schreiben zu können, was sie möchte? Sollte sie nicht alle historischen Orte bereisen, alle Personen verkörpern, alle Stimmen einnehmen dürfen? Diese Einstellung gehört zu den einflussreichen literaturtheoretischen Dogmen unserer Zeit und wird gerne verwendet, wenn einem literarischen Werk oder einem Literaten ein reales Fehlverhalten vorgeworfen wird. Erst vor kurzem hat Robert Menasse den Versuch gemacht, die Verbreitung gefälschter Zitate unter Verweis auf die Lizenzen der Literatur zu rechtfertigen. Sein Kommentar: „Für Romane gelten andere Regeln als für Doktorarbeiten.“
Dieser Einwand erscheint zunächst plausibel, vor allem, da er an eine eingeübte Hochschätzung all dessen appelliert, was mit der Freiheit der Kunst zusammenhängt. Kontroversen wie die um Stella zeigen allerdings, dass der routinierte Verweis auf die Lizenzen der Fiktion nicht ausreicht, um die reale Wut und Irritation, die fiktionale Werke auslösen können, zu domestizieren. Literarische Texte stehen fast immer in einem engen dialogischen Verhältnis zu einer gegenwärtigen oder historischen Wirklichkeit; ihre Fiktionalität kann sie niemals vollständig gegen Kritik, die sich auf den Maßstab der Realität bezieht, immunisieren. Und das will sie auch nicht, denn sonst wäre sie kraftlos, wirkungslos, leblos. Literarische Werke, die den Anspruch haben, eine Wirkung auf die Wirklichkeit zu haben, müssen sich auch an der Wirklichkeit messen lassen.
Das gilt im Fall von historischen Romanen bereits auf der Ebene der Wahrheit. Hannah Lühmann verteidigt den Autor in der Welt gegen den Vergleich mit dem Fälscher Claas Relotius („ein unzulässiger und rufschädigender Vorwurf“). Würger habe „in keinem Moment behauptet, dass es sich um eine Annäherung an die reale Mörderin Stella Goldschlag handle.“ Die Gattung des Romans entlastet den Autor also gleichermaßen von dem Vorwurf, ein einfacher Verzerrer der Wirklichkeit zu sein: „Sein Buch basiert auf ihrer Geschichte, aber es handelt sich um Fiktion.“
Es stimmt sicherlich, dass der Schutzraum des Romans den Autor gegen den Vorwurf, die realen Ereignisse falsch dargestellt zu haben, immunisiert, aber eben nur bis zu einem bestimmten Grad. Denn in dem Moment, in dem man reale Personen zum Gegenstand literarischer Texte macht, unterwirft man diese Texte auch den Maßstäben, die an faktuale Texte – wie journalistische und historiografische Erzählungen – angelegt werden. In dem Moment, in dem der Autor seinen Roman Stella genannt hat und reale Personen dort wiedererkennbar auftreten lässt, behauptet er natürlich auch, dass man es mit einer „Annäherung“ an diese Person zu tun hat. Die Vorstellung, man müsste nur „Roman“ auf einen Text schreiben, und könnte dann die Realität nach Gutdünken formen, ohne dafür belangt zu werden, erscheint absurd, wenn man sie zu Ende denkt: Die Leser*innen können ja kaum darauf verzichten, eine reale Person, die sie aufgrund ihres Weltwissens erkennen, auch als real zu lesen. Es gibt im Kopf der Rezipient*innen keinen Schalter, der die Mechanismen der faktualen Lektüre einfach ausschaltet, wenn der Autor nur laut genug „Dies ist Fiktion!“ brüllt.
Das Wort „basiert“ im verheißungsvollen Paratext „Basiert auf einer wahren Geschichte“ zielt zwar darauf ab, der Autor*in gewisse Lizenzen im Umgang mit dieser Geschichte zu geben, aber nur weil etwas auf einer Geschichte „basiert“, heißt das nicht, dass diese Lizenzen – je nach Fall – nicht ähnlichen Einschränkungen unterliegen wie bei einem Text, der eine Geschichte einfach nur wahrheitsgetreu erzählt. Die erfolgreichen Gerichtsprozesse gegen sogenannten Schlüsselromane, wie etwas Maxim Billers Esra, zeigen, dass es auf reale Personen alles andere als besänftigend wirkt, wenn ein Roman auf ihren persönlichen Erfahrungen nur „basiert“. Im Gegenteil wird dieser Aspekt des Fiktiven oft als noch verletzender empfunden als die wahrgenommene Indiskretion, da er die reale Person nicht nur der Öffentlichkeit preisgibt, sondern ihr Bild dabei auch noch verzerrt.
Während es naheliegend erscheint, dass die Freiheit der Fiktion im Fall der Verarbeitung lebender Personen eine Einschränkung findet, ist der Fall Stella vor allem deshalb interessant, da er auf die Grenzen der Verarbeitung im Fall von mehr oder weniger historischen Ereignissen verweist. Denn diese Grenzen sind kulturell variabel; wie streng sie gezogen werden, ist von der politischen und ethischen Bedeutung abhängig, die eine Gesellschaft einem Ereignis zuweist. So werden sich wohl kaum Menschen finden, die die Freiheiten verurteilen, die sich Hilary Mantel in Wolf Hall mit der historischen Person Heinrichs VIII. genommen hat, oder die das Bild Caligulas kritisieren, das Robert Graves in I, Claudis entworfen hat. In beiden Fällen wird die Kritik an den historischen Abweichungen sich auf ein paar schlecht gelaunte Historiker*innen beschränken (wenn überhaupt). Dagegen fordert das historische Faktum der Schoah – das zeigt der Großverriss von Stella – eine viel rigidere Wahrheitstreue, auch in der fiktionalen Verarbeitung. So erklärt sich der Vorwurf, Würger sei „schludrig mit den Namen, den Leben und den Schicksalen der Opfer“ umgegangen – eine Schludrigkeit, die im Fall eines anderen Sujets sicher kaum als Problem wahrgenommen worden wäre.
Das gilt auch für den Stil. Die unzähligen Mittelalterromane, die man in der Auslage einer Bahnhofsbuchhandlung findet, werden sich zum größten Teil nicht vorwerfen lassen müssen, die moralischen Verantwortung an die formale Gestaltung des Stoffes verfehlt zu haben. Politisch und ethische bedeutsame Ereignisse erfordern nicht nur eine strengere Realitätsnähe, sondern offenbar auch eine bestimmte Qualität der Prosa. Konkret verbieten sich demnach alle Formen, die den Roman zu stark an die Konventionen der Unterhaltungsliteratur annähern. Darauf bezieht sich die Klage über den bestsellerkompatiblen „plätschernde Tonfall“ in der Süddeutschen Zeitung oder der Verweis auf Ruth Klügers Kitsch-Verdikt bei Zeit online. Darauf bezieht sich aber auch Lühmanns Bericht über ihr eigenes Leseerlebnis in der Welt. Das Buch ließe sich, schreibt sie, „kaum aus der Hand legen. Man liest es in wenigen Stunden, stehe an, was da wolle: der Wecker um sechs, die lange Autofahrt am nächsten Tag. Keine Chance.“ Das beschreibt die spannungsgeladene, hedonistische Lektüre eines Thrillers, eine Lektüreerfahrung, die – wie Lühmann feststellt – dem Roman als Problem angekreidet wird. Die Lesbarkeit, die durch den in mehreren Besprechungen diagnostizierten „flotten“ Stil erzeugt wird, erscheint – je nach Sujet – auch in einem moralischen Zwielicht, das sich auch auf die Lektüre selbst überträgt. Ähnlich verhält es sich auch mit den dargestellten Gegenständen: der Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und Stella Goldschlag, den Partyexzessen. Das Sujet verbietet nicht nur einen bestimmten Stil, sondern auch bestimmte Genrekonventionen. Der Großverriss macht deutlich, dass diese Vorstellung eines Thrillers oder einer Romanze vor dem Hintergrund der Schoah nach wie vor unerträglich erscheint.
Ein Präzedenzfall für diese Ablehnung wäre die Diskussion um den Roman The Zone of Interest, für den der britische Autor Martin Amis 2014 zunächst keinen deutsche Verleger fand. Der Verlag, der Amis sonst in Deutschland veröffentlichte, sich aber in diesem Fall weigerte, das Buch auf den Markt zu bringen, war ausgerechnet Hanser – wo nun die Verantwortung für die Katastrophe gesucht wird, die Würgers Stella angeblich darstellt. Vermutet wurde damals, dass ethische und ästhetische Gründe gegen die Veröffentlichung eines Romans ins Feld geführt wurden, der einen grotesk-satirischen Ton in der Darstellung anschlägt und eine Liebesgeschichte zwischen einem SS-Mann und der Frau des Lagerkommandanten von Auschwitz in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Es ist bemerkenswert, dass die bewussten ästhetischen Provokationen von Amis viel weniger Empörung hervorriefen als die – zumindest dem Anschein nach – unschuldigen Verarbeitungen Würgers. Aber vielleicht ist es gerade diese vordergründige Unschuld, die den Zorn auf den Roman antreibt, da sie einen Mangel an Reflexion vermuten lässt.
Schließlich verweist der Fall auch auf das Problem der Autorisierung, auf die Frage nach dem narrativen Eigentumsrecht. Der Titel eines buchlangen Essays von Norbert Gstrein bringt diese Frage auf den Punkt: Wem gehört eine Geschichte? Die Kontroverse um dieses Eigentumsrecht wird nicht nur virulent im Fall einer literarischen Verarbeitung der Schoah, sondern spielt gerade im Umfeld der Debatte um die politische Bedeutung des Konzepts einer cultural appropriation eine wichtige Rolle. 2016 hielt die US-amerikanische Schriftstellerin Lionel Shriver eine Brandrede, in der sie die Vorstellung, dass in bestimmten Fällen nur Betroffene bestimmte Erfahrungen verarbeiten dürfen, als gravierende Gefahr für die Freiheit der Literatur beschrieb. Auch Gstrein setzte sich in seinem Essay von 2004 gegen den Vorwurf zur Wehr, er habe sich individuelle und identitätspolitisch besetzte Geschichten widerrechtlich angeeignet. Es erscheine absurd, schrieb er damals, „in Zuständigkeiten zu denken, die sich aus der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben oder aus einem wie auch immer zu definierenden wirklichen oder allein angemaßten Naheverhältnis.“ Allerdings ist dieser Ethik der Erfahrung, die das Erzählen vor allem durch Erleben legitimieren möchte, eine diskursiv Größe, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. Und so steht der Vorwurf einer narrativen Enteignung auch im Fall von Stella wenigstens unterschwellig im Raum. Ob der Autor, der den Roman seinem vom den Nationalsozialisten ermordeten Urgroßvater gewidmet hat, am narrativen Eigentum dieser Geschichte partizipiert, erscheint vor dem Hintergrund der Debatte um Autorisierung und Betroffenheit eine Frage, die auch für die Bewertung des Romans eine Rolle spielt.
Der Großverriss von Stella ist jedenfalls nicht, wie es im Tagesspiegel heißt, Ausdruck von feuilletonistischer „Hysterie“, die durch die Fälle ‚Relotius‘ und ‚Menasse‘ ausgelöst wurde, sondern vor allem ein Anzeichen für die gesteigerte Bedeutung literarischer Maßstäbe, die Ethik und Ästhetik miteinander verbinden. Dabei handelt es sich um eine Verschiebung, die möglicherweise einen Exzess der narrativen Lizenzen korrigiert. Erzählen als Kulturtechnik steht gerade auf dem Prüfstand – zumindest was die allzu triumphalistische Hochschätzung alles Narrativen der letzten Jahrzehnte betrifft. Eine Kontroverse wie die um Stella ist dafür nur ein Indikator. Sie regiert zum einen auf die Angst vor dem Zerfallen stabiler Fakten in Zeiten postfaktischer Bedrohungen und auf die Verengung des narrativen Eigentumsrechtes im Zeichen der cultural appropriation; zum anderen verweist sie auf die Tradition der Skepsis an einer fiktionalen Verarbeitung der Schoah, die das bedeutsamste Beispiel für einen Fall darstellt, in dem Erzählen als verantwortungsvolle und ernste Aufgabe begriffen wird.