Nach der Freiheit. Die polnische Netflix-Serie „1983“
Während der polnische Präsident im November vor einem Zug mit roten Bengalfeuern und rechtsradikalen Sprechchören den Republik-Geburtstag feierte, machte Netflix überall in Warschaus Innenstadt Werbung mit den Silhouetten junger Protestierender. Schnell sprach sich herum, dass 1983 die erste polnische Eigenproduktion des amerikanische Unterhaltungskonzerns ist, die Ende November gleichzeitig auf Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch zugänglich wurde. Sie zeigt den vergeblichen Aufstand einer Generation von Jugendlichen, die herausfinden, dass sie von einem autoritären polnischen Staat um ihre wahre Identität betrogen wurde. Im (alternativhistorisch) fiktionalen Jahr 2003 entscheiden sie sich dafür, den Freiheits-Kampf ihrer Eltern aus den frühen 1980er Jahren wieder aufzunehmen. Doch nun sehen sie sich einem weitaus mächtigeren Staat gegenüber, in dem jeder Bürger über ein eigenes mobiles Gerät überwacht wird.
Die Regisseurin Agnieszka Holland ist eine der prominentesten Kritiker*innen der Radikalisierung der Warschauer Politik im Jahre 2018. Nun nutzt sie gemeinsam mit drei Kolleginnen die amerikanische Produktion zur internationalen Kritik an der Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“. Dazu verschränkt sie die Ansichten trister Stadtlandschaften des späten Sozialismus mit den Bürogebäuden des frühen Neoliberalismus, in denen stets Sicherheitskameras die Bilder liefern. Das Experiment bietet eine dystopische Deutung der Verschmelzung von Überwachungsstaat und katholischer Kirche: „Was wäre gewesen, wenn die Kommunistische Partei und der Klerus einen Pakt geschlossen hätten,“ lautet die hypothetische Frage der Stunde. Der Drehbuchautor Joshua Long scheint der Kraft der Versuchsanordnung nicht zu trauen und schiebt die Textverweise gepflegter Totalitarismuskritik oft in Form von XXL-Balken aus dem Baumarkt ins Auge des Betrachters. So fragt ein junger Milizionär nach der Lektüre von George Orwells Klassiker 1984 erstaunt: „Ist das wirklich Fiktion?“
Besonders offenkundig ist die Kritik an der Vergangenheitspolitik der derzeitigen Regierung. So zeichnen die Serienmacherinnen in 1983 nach, wie die Erinnerung an die demokratische Opposition systematisch im Zuge staatlicher Digitalisierung ausgelöscht bzw. manipuliert wird und der Aufbruch in eine Zukunft wirtschaftlicher Prosperität alles überstrahlt: „Hier können wir uns von der Vergangenheit lossagen“, gibt der Wirtschaftsminister die Richtung vor. Sein uniformierter Kabinettskollege erklärt hingegen einer amerikanischen Abgesandten: „Waffen verschaffen Souveränität.“ Diese antwortet ihm treuherzig: „Die Stärke eines Landes liegt nicht in seinem Waffenarsenal, sondern in der Seele der Menschen.“ Der Oberste Befehlshaber der polnischen Streitkräfte erwidert: „Eine solche Denkweise kann sich nur ein starkes Land erlauben.“
Das Anknüpfen an das Kino der moralischen Unruhe mit den Mitteln einer amerikanischer Serienstaffel wird in Polen von den einen als beste Serie des Jahres gefeiert. Die anderen kritisieren, dass Hollands Anspielungen allzu direkt seien und der Plot gewöhnliches Tatort-Niveau nicht übersteigt. Zu sehr erinnert die große Verschwörung von 1983 an den Runden Tisch von 1989 und ein Flugzeugabsturz des Ministers für Staatssicherheit – verursacht von seinem eigenen Sohn – spielt geradezu plump auf das Unglück von Smoleńsk des Jahres 2010 an, bei dem ein großer Teil der polnischen Staatsführung ums Leben kam. Die halb ironisch, halb zynisch geführte Diskussion über das Scheitern der Serie lässt selbst in Polen Agnieszka Hollands Anliegen verpuffen, den Jungen die ebenso einfache wie aktuelle Frage zu stellen: „Wie haltet Ihr es mit der Freiheit im Jahre 2018?“
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