• Das Schweigen der Rose. Ein Jahr mit den Goncourts (IV)

     
    Im neunzehnten Jahrhundert lebend, in einer Zeit des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, des Liberalismus, haben wir uns gefragt, ob die, die man die »unteren Klassen« nennt, nicht ein Anrecht auf Darstellung im Roman haben, ob die unter der "Gesellschaft" stehende Schicht, das Volk, noch weiter dem Druck des literarischen Interdikts und der Mißachtung durch die Schriftsteller unterworfen sein sollen, die bisher Seele und Herz dieser Menschen mit Schweigen übergangen haben.Edmond und Jules de Goncourt, Germinie Lacerteux, Ü: Curt Noch, Fkft./M. 1987, S. 9
    Am 16. August des Jahres 1862 stirbt Malingre Rosalie (genannt: Rose), Dienstmädchen und Amme der beiden Brüder. Noch einen halben Monat zuvor, am 31. Juli, harrten die Brüder des endgültigen Urteils ihres Mediziners: "Ich erwarte diesen schrecklichen Klingelton, wie jenen der Geschworenen, die zur Sitzung zurückkehren." Das Urteil wird im nächsten Absatz und Satz gefällt: "Alles ist zu Ende." (mehr …)
  • Tagung von (und mit) Merkur-Autoren

    Unter dem Titel "Geist im Buch" spürt eine von Carlos Spoerhase (HU Berlin) und Caspar Hirschi (Universität St. Gallen) konzipierte und organisierte Tagung von heute bis Samstag  historischen Formen und Funktionen des Buches in den Geisteswissenschaften nach. Nicht nur die beiden Veranstalter, auch einige der Referenten und Kommentatoren haben schon für den Merkur geschrieben. Veranstaltungsort ist das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Programm und alle Rahmeninformationen sind hier online abrufbar.
  • Fundsache zur aktuellen Nord-Süd-Rhetorik

    Am Rande der Arbeit an meiner Designkolumne für das Aprilheft, die dem amerikanischen Designer Norman Bel Geddes gewidmet ist (hier das Link zum gebührenpflichtigen Pdf), habe ich diesmal allerlei Literatur zur und um die Great Exhibition in London 1851 durchstöbert. Dabei bin ich unter anderem ein weiteres Mal auf den prächtigen Band mit den Originallithographien gestoßen, der im Jahr nach der Weltausstellung unter dem Titel "Dickinsons' comprehensive Pictures of the Great Exhibition of 1851" erschien und den man, der New Yorker Metropolitan Library sei Dank, gebührenfrei online einsehen kann. Ich hatte ihn vor Jahren schon einmal in der Bibliothek in Händen gehalten, mich aber seinerzeit ausschließlich mit den Illustrationen beschäftigt, die Aufbau und Atmosphäre der Schau in sehenswerten puppenhausartigen Tableaus festgehalten haben. Diesmal hatte ich die Zeit, mich ein wenig in die beigefügten Kommentare und Erklärungen zu vertiefen, die in vielerlei Hinsicht ebenso bemerkenswert sind wie die Abbildungen. Aus tagesaktueller Perspektive sticht dabei besonders der Eingangstext hervor, der über den Beitrag Griechenlands in einer Mischung aus Resignation und Fassungslosigkeit berichtet, bei der bereits alle Topoi heutiger Nord-Süd-Gefälle-Schelten aufgerufen werden. (Mehr zum rhetorischen Arsenal dieses Kampfdiskurses auch in Philip Manows Politikkolumne in der Februarausgabe "Rentabilität im Süden".) Die von allerlei mythologischen Anspielungen gerahmte Erzählung von der Ablösung der griechischen durch die nordeuropäische, sprich: britische Zivilisation gipfelt in Sätzen wie: "It is Commerce which has put into the hands of Northern Europe, whose inhabitants clothed themselves in skins and painted their naked bodies with woad, all the arts, the inventions and the comforts which then exclusively flourished in the south, and were enjoyed by it’s people alone." Der gesamte chauvinistische Hymnus findet sich hier.