Der Sensor blinkt, aber die Poesie ist kaputt. Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung
Agathe Novak-Lechevalier ist maître de conférences (in etwa: Assistenzprofessorin) an der Université Paris X Nanterre. Sie ist Chefredakteurin des Magasin du XIXe sciècle, ihre Interessen umfassen dabei Roman und Spektakel, außerdem beforscht sie Stendhal und Balzac. Aus diesem sauber kuratierten Portfolio fallen ihre Arbeiten zu Michel Houellebecq etwas heraus. Dieser Forscherpersönlichkeit dankt der Autor am Ende seines neuesten Romans Unterwerfung, der im Jahr 2022 spielt und von den Problemen eines abgehalfterten Literaturwissenschaftlers in einem Frankreich unter islamischer Regierung handelt. Direkt am Erscheinungstag wurde Unterwerfung (deutsch für: Islam) auf eine Art notorisch, die zu wiederholen hier überflüssig ist. Von dem Terror-Anschlag auf Charlie Hebdo ist Houellebecq nicht nur persönlich hart getroffen worden, sondern er durchkreuzt auch das Anliegen seines Romans. Worin dieses besteht, wird in dem kurzen Paratext auf der letzten Seite deutlich. Hier liegt gewissermaßen das punctum des ganzen Buches, die Danksagung legt offen, was die Bedingung der Möglichkeit dieses Romans ist: nämlich dass das, was er beschreibt, eine unrealisierte Fiktion bleibt. Damit ist viel weniger eine wie auch immer geartete Islamisierung gemeint, sondern ein ästhetisches Programm. Davon sprechen wir hier. In Unterwerfung werden Frauen aus dem akademischen Leben herausgeschrieben. Mit Agathe Novak-Lechevalier wird aber nun eine Frau angeblich als einzige Quelle für alle Informationen zuständig, die Houellebecq für seine Schilderung des akademischen Lebens braucht. Es ist nicht so wichtig, ob das stimmt oder nicht: Deutlich wird, dass hier von einer Literatur die Rede ist, die allein auf Hörensagen beruhen darf, die sich aus abgefrühstückten Ideen und Phrasen zusammensetzen darf, wenn sie nur einen bestimmten Zweck erfüllt. Und der besteht hier primär in der Besetzung einer literaturhistorischen Position und nur sekundär in Houellebecqs lange bekannter Opposition gegen den Islam. (mehr …)Merkur-Relaunch in den Medien
"Es wird ohnehin längst aus allen Rohren geschossen. Unter merkur-blog.de findet sich eine Chronik der laufenden Ereignisse rund um das Heft." Schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel (vom 18. Januar, nicht jetzt online), in dem er unter der Überschrift "Der Himmel über der Bleiwüste" über unseren Relaunch berichtet. Recht hat er, und Selbstreferenzialität können wir auch. Ansonsten stellt Dotzauer fest: "Dennoch ist der Relaunch eher eine Retusche. Man hat ... nicht den Eindruck, eine andere Zeitschrift in der Hand zu halten, wohl aber eine deutlich besser lesbare." Skeptischer ist er, ob das mit der im neuen Erklärtext geforderten "Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften" gelingen kann, beziehungsweise ob es auch "zurück in eine Debattenkultur führt, die unter den agents provocateurs Bohrer und Scheel auch der bundesrepublikanischen Medienökologie vor der Netzdämmerung geschuldet war". Wenn er hinzufügt, dass selbst die Redaktion das bezweifelt, hat er sicherlich recht. Die Frage ist allerdings auch, ob die Redaktion von dergleichen überhaupt träumt. Gustav Seibt hält in der Süddeutschen (vom 14. Januar, leider auch nicht online) in Sachen Layoutreform fest: "Am wichtigsten für den Leser ist der etwas lichtere, freundlichere Satz der Texte. Die Anmutung ist insgesamt weniger bleiern." Eigentlich - und da sind wir natürlich völlig d'accord - komme es aber auf etwas anderes an: "Entscheidend ist, dass sich am Anspruch der Zeitschrift nichts geändert hat." Und damit zum Schwerpunkt "Die Gegenwart des Digitalen": "Die sechs damit befassten Texte wechseln sich in gründlicher Information und spekulativer Erörterung ab, und wer sich ohne medienphilosophisches Tamtam auf den Stand der Dinge bringen möchte, wird ausgezeichnet versorgt." Wenn das also die Alternative wäre - "Stand der Dinge ohne medienphilosophisches Tamtam" versus "zurück zur Debattenkultur vor der Netzdämmerung" - dann hat die Redaktion eine entschiedene Präferenz. Auch die FR bzw. Berliner Zeitung hat berichtet, Autor ist Harry Nutt. In Sachen Layout wertet er nicht, hebt inhaltlich als "den interessantesten Beitrag" den von Dirk Baecker heraus, der bei Seibt als "spekulativster, darum auch anfechtbarster" Text des Januarhefts figuriert. In Bezug auf die im Essay von Carlos Spoerhase und Caspar Hirschi genannten Summen, die man für akademische Zeitschriften heute oft hinblättern muss, meint Seibt im übrigen: "Wer die dort üblichen fünfstelligen Summen wahrnimmt, kann die 120 Euro für ein Jahresabonnement des Merkur schwerlich übertrieben finden." Stimmt natürlich. Und für Studierende sind es ja jetzt schon nur 80. (Mehr dazu hier.) Darüber hinaus werden wir ab März aber den nicht so begüterten potenziellen LeserInnen ein Angebot unterbreiten, das man nicht so einfach ablehnen kann. Dazu dann zu gegebener Zeit aber mehr. shemales schweiz P.S.: Hier Christian Demands Gespräch im Deutschlandradio zum aktuellen Heft.Hélène Cixous im Winter
Man kennt Hélène Cixous in der Brasserie Zeyer, und sie wird unter freundlichem Fragen nach dem werten Befinden an ihren Platz geführt. Noch ist das messinghelle Lokal fast leer, es wird sich im Laufe unseres Essens mit lebhaften Gästen füllen, die sich vor allem den Früchten der Austernsaison widmen. Auch wir beginnen mit einer Platte Fines de Claires verschiedener Größe, deren Herkunft und Qualitäten der maître d’hotel erklärt. Letztes Jahr, anlässlich des hundertsten Geburtstags des Restaurants, habe es ein Austernfest gegeben, bei dem die Züchter aus der Normandie ihre Austern vorgestellt hätten. „Hundert Jahre seid ihr alt!“, sagt Hélène, und der maître nickt stolz. Als er gegangen ist, sagt sie: "Drei Jahre jünger als Eve." Eve war Hélènes Mutter. Letztes Jahr ist sie im Alter von 103 Jahren gestorben. Ihren Hundertsten feierten die beiden noch mit einem Spaziergang und einem Kaffee auf der Terrasse des Pavillon Montsouris; die Fotos zeigen die alte Dame, gebeugt und fragil, mit ihrem verhaltenen Lächeln und einer kessen Ballonmütze. Da wohnte Eve noch in ihrer kleinen Wohnung unweit des Parks und versorgte sich selbst. Wenig später aber wollte oder konnte sie nicht mehr aufstehen, und wurde in Hélènes Wohnung, am Ende mit Hilfe zweier Pfleger, in den Tod begleitet. Der lange Weg des Verfalls, des zwischenzeitlichen Auflebens, des Ringens um Sprache und Orientierung und des endlichen Verdämmerns ist von Cixous in Homère est morte (Paris: éditions galilée 2014) in schwer zu lesender Intensität dargestellt worden. (mehr …)Januarheft: Relaunch
