Republiken vernünftiger Menschen. Die Kulturgemeinschaft Borussia und das Ermland
iiund jetzt nur in Eile
packen, ständig, täglich
und atemlos fahren nach Lemberg, es ist ja
vorhanden, ruhig und rein wie
ein Pfirsich. Lemberg ist überall.
Adam Zagajewski, Nach Lemberg fahren (übersetzt von Karl Dedecius)
Für viele in Europa ist das Ermland weit weg. Es ist eine überwiegend agrargeprägte Landschaft voller Melancholie und Weite im Norden Polens, eine Region der tiefen Seen und auf- und abschwellender Erdwellen aus Feldern und Wäldern, in der die Backsteintürme jahrhundertealter Kirchen wie Leuchttürme hervorragen. Heute Teil der Woiwodschaft Ermland-Masuren, spielt das Ermland, auf Polnisch Warmia, in der europäischen Geschichte und Gegenwartspolitik keine große Rolle. Es existierte als Bistum ab 1250, zunächst im Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens, dann von 1440 bis zur Ersten Teilung 1772 als Teil Polens und wurde anschließend Teil der preußischen Provinz Ostpreußen, die ab 1871 zum Deutschen Reich gehörte. Seit 1945 ist es wieder Teil von Polen. Gerade für uns Deutsche mag es noch eine zusätzliche Ebene geben, die uns davon abhält uns mit dem Ermland zu befassen. Es war bis 1945 Teil der Provinz Ostpreußen, ein Begriff der im öffentlichen Diskurs, wenn überhaupt, mit einem verlorenen Land, mit muffigem Junkertum und rechtskonservativen Vertriebenenverbänden, mit Erika Steinbach als Vorsitzende der Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD in Verbindung gebracht wird. Die lange und faszinierende Kulturgeschichte dieser Landschaft scheint im deutschen Alltag nicht mehr relevant. Aus dieser Landschaft heraus betrachtet, könnte jedoch der Unterschied nicht größer sein: Man findet hier einen besonderen Ort voller Geschichte und Geschichten, eine der alten Kulturlandschaften Europas, und kann, denn man so will, viel über die Konzepte von Identität und Heimat lernen, insbesondere das was die Polen małą ojczyzną nennen, die kleine, unmittelbare Heimat. Schließlich haben sich hier im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte Menschen aus ganz Europa niedergelassen und mussten sich – im Guten wie im Schlechten – mit den bereits hier lebenden Bewohnern arrangieren. Im 13. Jahrhundert kolonisierte der Deutsche Orden die hier lebenden Stämme der heidnischen Prußen brutal und holte christliche, deutschsprachige Siedler aus dem Westen Europas hierhin. Nach den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts kamen dann polnische Siedler aus Masowien ins Ermland, dass bis in die Neuzeit eine katholische „Insel“ blieb, umgeben von protestantisch geprägten Regionen. Die Sprachen hier vermischten sich und es entstanden ermländische Dialekte und Identitäten. Bei der Volkszählung von 1910 gaben fast 60% der Landbevölkerung des Bezirks Allenstein an, überwiegend Polnisch zu sprechen, und seit 1866 hatte Allenstein/Olsztyn eine eigene polnischsprachige Zeitung, die Gazeta Olsztynska. Die Menschen hier sahen sich – vor allem vor dem 1. Weltkrieg und dem darauf folgendem nationalistischem Fanatismus überall in Europa – als Ermländer. Ermländer, die mit dem einem Nachbarn Deutsch, mit einem anderen im ermländischen Dialekt und mit einem dritten wiederum Polnisch sprachen. Nach 1945 wurden dann polnische Vertriebene hierher umgesiedelt, als die östlichen Regionen Vorkriegspolens nach Entscheidung der Allierten an Litauen, Weißrussland und die Ukraine fielen.
Wir leben in einer Zeit der Zersplitterung und eines überbordenden Nationalismus, in einer Zeit der einfachen und einfachsten Narrative, hunderttausendfach verstärkt durch die sozialen Medien. Komplexe, intereuropäische Geschichten und Verständigung scheinen nur noch wenig Platz zu haben, aber dabei sind es doch die Erinnerung, die Kulturgeschichte und die gemeinsamen Erfahrungen und Traumata von Flucht und Vertreibung die es uns Europäern ermöglichen sollten der Zukunft besser gewappnet entgegen zu treten. Es lohnt sich also auch aus Deutschland ein Blick hierhin. Es gibt im Ermland, fast 80 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, überraschend wenig Berührungsängste, wenn es um die „deutschen Reste“ in Architektur, Kunst oder immateriellem Erbe geht. Man findet in der Bezirkshauptstadt Allenstein/Olsztyn viele restaurierte deutsche Inschriften an Wohnhäusern und Geschäften, und eine neugegründete Brauerei im Ort Lidzbark Warmiński, dem vormals deutschen Heilsberg, trägt den Namen: „Heilsberg“.
Ein großer, vielleicht entscheidender Beitrag zu diesem Selbstverständnis kommt von der Kulturgemeinschaft und Stiftung Borussia. Sie wurde 1990 in Allenstein/Olsztyn gegründet und entstand aus einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die sich nach dem Ende des kalten Krieges der ehrlichen und offenen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der Landschaft verschrieben haben. In ihrem immer noch erstaunlich aktuellen Manifest aus dem Gründungsjahr wird das besonders deutlich:
Dieses Land ist unsere Heimat. Wir sind uns seiner multikulturellen und multinationalen Vergangenheit bewusst, wir möchten für seine Zukunft verantwortlich sein. Während wir eine polnische Identität herausbilden, ein neuartiges, wirkungsvolles Handeln und Denken anstreben, entdecken wir gleichzeitig das hier bestehende preußische, deutsche einheimische Erbe, um – eingedenk der Tragödien des 20. Jahrhunderts – aufzuzeigen, dass wir ein freies und demokratisches Vaterland anstreben und das Wohl anderer Brudernationen achten. Die Andenken jeder nationalen Vergangenheit behandeln wir als die Andenken der Menschheit.
Borussia hat sich wie kaum eine andere Organisation dem deutsch-polnischen, und damit europäischen, Dialog verschrieben – im wahrsten Sinne des Wortes. In der bis 2013 herausgegebenen Zeitschrift Borussia. Kultura. Historia. Literatura („Borussia. Kultur. Geschichte. Literatur“) erschienen historische Texte deutscher Autoren aus dem Ermland und Ostpreußen in polnischer Übersetzung, aber auch Essays, Geschichten und Artikel zu Kultur und Geschichte, unter anderen von Czesław Milosz, Stefan Chwin, Inga Iwasiów, Wlodzimierz Kowalewski und Olga Tokarczuk. Borussia besitzt ebenfalls einen eigenen Verlagsbereich und veröffentlicht Bücher und Lyriksammlungen, etwa Artur Beckers Roman „Wodka und Messer“ in einer polnischen Übersetzung von Joanna Demko und Magdalena Żółtowska-Sikora im Jahr 2013. Aber es ging Borussia von Anfang an nicht nur um eine akademische und literarische Auseinandersetzung mit der Landschaft, sondern immer um die Menschen selber. Ein Hauptteil der Aktivitäten der Kulturgemeinschaft war und ist die Bildungsarbeit: Borussia organisiert seit 1993 internationale Bildungsprojekte für Schüler und Studenten aus Polen, Deutschland, Frankreich, Russland, Litauen, der Ukraine und Weißrussland. In Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in Deutschland und Polen werden Seminare und Tagungen abgehalten, und Borussia veranstaltet Kunst-, Fotografie- und Theaterworkshops zusammen mit lokalen Künstlern wie der Malerin Ewa Pohlke und Schulen in Allenstein/Olsztyn und der Universität von Ermland-Masuren. Borussia ist der lokale Partner von „Generation Europe“, einem internationalen Netzwerk zur Förderung der europäischen Zivilgesellschaft, und veranstaltet Workshops mit jungen Menschen aus ganz Europa. Für all das Engagement wurde Borussia bereits mehrfach international ausgezeichnet: 1996 erhielten die Kulturgemeinschaft und Chefredakteur Kazimierz Brakoniecki den außerordentlichen Preis der legendären polnischen Kulturzeitschrift Kultura für das Literaturmagazin, und im selben Jahr den „Jugend-Oscar“ der Hamburger Körber-Stiftung. 2004 wurde Borussia mit dem Lew Kopelew Preis für Frieden und Menschenrechte ausgezeichnet, und 2021 mit dem Georg-Dehio-Preis des Deutschen Kulturforums östliches Europa.
Wie so häufig geht aber Reputation gesellschaftlich essentieller Arbeit nicht einher mit einer finanziellen Anerkennung oder gesicherter Förderung. Wie viele andere vergleichbare Institutionen hangelt sich Borussia von Jahr zu Jahr, von Haushalt zu Haushalt, und hatte gerade unter der PIS-Regierung in Polen viele Fördergelder verloren. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass der vielleicht wichtigste Aspekt der Arbeit von Borussia seit 2013 die Wiederbelebung des ehemaligen Reinigungshauses „Bet Tahara“ auf dem vormaligen jüdischen Friedhof in Allenstein/Olsztyn als Kultur- und Dialogzentrum ist. Das Gebäude ist die erste Arbeit des weltbekannten, in Allenstein/Olsztyn geborenen Architekten Erich Mendelsohn (1887 – 1953), sein einziges Werk in seinem Heimatort und, dank der Arbeit von Borussia, heute das letzte verbliebene Zeugnis jüdischen Lebens in der Stadt. Bereits 2007 hatte Borussia damit begonnen, das Gebäude, das vorher lange Jahre als Außenstelle des Stadtarchivs gedient hatte, zu renovieren und die ursprünglichen Baumerkmale dort zu restaurieren und konservieren. Aber es geht Borussia nicht darum, im Mendelsohn-Haus, wie das Gebäude jetzt genannt wird, die Vergangenheit einzufrieren.
Das große und einschüchternde Konstrukt Geschichte wird leichter verständlich, wenn wir sie von unten betrachten, aus der Perspektive persönlicher Erlebnisse und Erinnerungen. Deshalb sind Erinnerungen so wichtig für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als etwas, das uns heute den Weg weisen kann. Borussia hat einen Ort erschaffen, an dem genau das möglich ist. Autoren wie Olga Tokarczuk oder Arno Surminski haben im Mendelsohn-Haus Lesungen abgehalten, Musiker aus der Ukraine, Frankreich und Polen spielen regelmäßig hier. Aus einem dem Tod gewidmeten Haus ist ein Haus des Lebens geworden. „Kleine“ Heimaten, Orte und Landschaften fern von Berlin und Warschau sind nicht für immer verloren und von der Geschichte vergessen. Stattdessen kann man von ihnen lernen, die Erinnerungen ihrer Menschen schätzen und hier Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart finden. Der Traum einer für immer friedlichen Welt, den viele in Europa nach 1989 geträumt haben, scheint auf unabsehbare Zeit vorbei. Für den Moment sind es Bürgerinitiativen wie Borussia, die den humanistischen europäischen Gedanken in die Zukunft tragen. Und vielleicht kann Borussia Teil einer gesamteuropäischen Konföderation aus dem sein, was ihr erster Vorsitzende Robert Traba in seiner Dankesrede zum Lew Kopelew-Preis 2004 als Motto beschrieben hat: Eine Republik der vernünftigen Menschen. Wir brauchen mehr davon.
Im April 2025 wird die Kulturgemeinschaft Borussia mit dem Hosenfeld-Szpilman-Preis der Universität und Hansestadt Lüneburg ausgezeichnet.
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