Es ist der Text, der vorliegt (Kind, Mutter, Vater). Zu Yasushi Inoues Prosagedicht Februar
Ich kann kein Japanisch. Ich weiß nicht, wie die japanische Sprache funktioniert. Ich habe keine Ahnung von der japanischen Kultur. Dreifache Fremdheit, unüberbrückbar. Eine Assoziation, die zu einem Vergleich führt, von dem ich nicht weiß, ob er irgendwohin führt oder irgendetwas erhellt: Vielleicht sollte ich mir dieses Prosagedicht Februar von Yasushi Inoue so schnappen wie es Freud für Träume anordnete. Das Original aus der Nacht ist nicht erhältlich. Vergessen, Vagheit, oft ahnt man, da war noch was. Was soll dann Grundlage einer Deutung sein? Freud, forsch dezisionistisch. Das, was man aufschreibt, ist der Traum. Ein Original existiert nicht. Und für mich gibt es auch kein Original (japanische Schriftzeichen, Syntax/Semantik, Sprache, japanische Denkweisen).
Dieser Vergleich hinkt nicht bloß, er humpelt auf zwei Holzbeinen. Träume sind innerpsychisches Neuronengewitter, niemand kann Kenntnis davon haben außer dem Träumer: Selbstgespräch. Zweitens: Vergessen ist essentiell. Es gibt kein Original. Bei Februar existiert ein Original, ich könnte mir von Übersetzer(n), Japanologen helfen lassen. Aber würde das das Fremde näher rücken? Ich bezweifle das. Vielleicht verstünde ich „mehr“, aber was wäre das „mehr“? Was, wenn ich nur mehr wüsste, aber nicht mehr verstünde? Und außerdem würde das den Spaß, den Reiz, dass ich diesen „Traum“ lese, nicht verderben? Nein, ich nehme Februar, diesen Text so, wie er da auf Deutsch steht: der aufgeschriebene Traum.
Februar
Meine Mutter, die Vater und mich verlassen hat, – gestern abend wieder stand meine Mutter allein und den Kopf auf der Brust im Eichwald hinterm Haus. Ihr Gesicht, bin ich sicher, so jung und schön wie damals, als sie uns das angetan.
Fröstelnd, mit einem heimlichen Blick in das Dunkel vorm Fenster dann und wann, blätterte ich in dem Buch, aus dem mich Vater vorlesen ließ. Und er auf langem Krankenlager, während er meiner Stimme lauschte, begann wie jeden Abend darüber einzuschlafen.
Später nachts, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß er schlief, kletterte ich leise aus dem Fenster. Lief ich den Weg in die Schlucht hinab; und zwischen den Eichen hier und da waren weiß die Pflaumenblüten aufgegangen. Mutters Gestalt aber sah ich nirgends; nur ungezählte Augen, den Mörderatem angehalten, starrten aus nächtlich kalter Tiefe zu mir herauf. 1
Zuerst, wieder eine Assoziation, wollte ich wissen, ob das autobiographisch ist. Ja sicher, lyrisches Ich nicht identisch mit Autor, kleines Einmaleins der Gedichtinterpretation. Aber lyrisches Ich und Autor sind ja doch wie eineiige Zwillinge: genetisch identisch, phänotypisch unterschiedlich und Leben und Epigenetik modeln rum. Also: Eins-zu-eins-Entsprechung in den Details des Gedichts und in Inoues Biographie? Nein.
Yasushi Inoue wurde 1907 geboren (er starb 1991) und wuchs bei seinen Großeltern auf, da sein Vater als Militärarzt immer wieder an anderen Orten stationiert war. Februar ist von 1934, Inoue war siebenundzwanzig. Er und seine Familie scheinen stets Kontakt zu seiner Mutter gehabt zu haben. In drei Erzählungen, geschrieben zwischen 1964 und 1974, 1987 auf Deutsch als Meine Mutter erschienen, beschreibt Inoue den dementiellen Prozess seiner Mutter. 2 Was fällt – mir, dem Europäer, der die Träumerei, Phantasie, Fiktion, Geistergeschichte eines Japaners von 1934 interpretiert – auf? Was also wäre, wenn das mein Traum, mein Text wäre? Was würde ich assoziieren, phantasieren, deuten?
Die Konstellation ist einfach, das Gedicht ist einfach: Vater-Mutter-Kind-Triade. Weder Alter noch Geschlecht des Erzählers werden erwähnt. Ich habe die Phantasie, dass das erzählende Ich jung ist. Ja, ich bin mir sicher, so um die fünfzehn. Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht. Aber: Die Mutter hat den Vater und das Kind verlassen. Das Kind liest dem Vater vor, muss also lesefähig sein – das Erlernen der japanischen Schriftzeichen scheint einige Jahre in Anspruch zu nehmen. Und würde ein – sagen wir – Zwanzigjähriger das Fortgehen der Mutter so betrauern? Schwer vorstellbar. Muttersöhnchen? Das passt nicht zu diesem Gedicht. Das Kind ist so jung/alt, dass das Verlassensein durch die Mutter noch brennt.
Welches Geschlecht hat das Erzähler-Ich? Ich glaube, es ist männlich, ein Sohn, keine Tochter. Warum phantasiere ich das? Weil Inoue ein Mann ist. Weil ich mich mit dem Ich-Erzähler identifiziere. Läse eine Frau Februar, vielleicht wäre für sie das Erzähler-Ich wie selbstverständlich weiblich.
(Ver-)Bindung, Trennung ist das Hauptthema, räumlich, zeitlich, emotional, sozial. Die Mutter hat Vater und Kind verlassen. Zwei getrennte Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart. Genauer: drei getrennte Zeiten. Das Erzähler-Ich sah die Mutter „gestern abend“. Jetzt ist sie nur noch in seinem Kopf, er ist allein. Trennung der Familie, nach vorherigem selbstverständlichem (auch räumlichem) Zusammensein. Die Generationenverbindung – Mutter, Vater, Kind – wird gekappt. Die Triade, durch Natur, Herkommen und Emotionalität eigentlich behütend, gibt es nicht mehr. Eine gewisse familiale ‚Normalität‘ wird durch eine immer wiederholte Handlung hergestellt, zumindest scheinbar. Der Sohn liest dem Vater jeden Abend vor – das Vorlesen ein zum einen intimer Vorgang, es wird aber die Generationenfolge umgekehrt, eine Parentifizierung? Das Kind liest dem Vater vor, nicht der Vater dem Kind: da kann man schon verlassen sein.
Die Mutter ist weg, den Abend zuvor war sie wieder da: (scheinbares) Wiederherstellen einer Verbindung oder zumindest räumlichen Annäherung. Sie ist aber „allein“ – warum wird das erwähnt? Um Unverbundenheit darzustellen. Sie ist räumlich und so auch emotional, sozial getrennt von Vater und Sohn.
Wie ist die Verbindung zum Vater? Sohn und Vater sind in einem Raum zusammen. Der Vater ist krank, er ist offensichtlich schwach, ein Wegdämmern jeden Abend in den Schlaf. Man wüsste zu gern, was der Sohn dem Vater vorliest. Zuerst ist da also wieder eine Verbindung: zwischen Vater und Kind, die langsam (ver-)schwindet, wenn der Vater einschläft. Ist er moribund? Stirbt er? Wird er also den Sohn auch verlassen? Unklar, jedenfalls ist er schwach, er schläft über dem Vorlesen ein. Da entfernt er sich, der schlafende Vater ist in einem anderen Bewusstseinszustand nicht mehr erreichbar, nur noch räumliches Zusammensein. Aber erst, wenn der Vater sich in den Schlaf entfernt hat, kann der Sohn die Verbindung zur Mutter herstellen, er vergewissert sich, dass der Vater eingeschlafen ist.
Lebt die Mutter noch? Zum einen: Der Sohn sieht sie wie damals (vergangene Zeit=Trennung), jung und schön. Nur so scheint der Sohn sie zu kennen. Weil er sie so in Erinnerung behalten will? Weil er sie nie wieder sah? Und dies, weil die Mutter die Trennung radikal durchführte (oder der Vater?) Oder sah er sie nie wieder, weil sie starb, gestorben ist? Unklar. Zum anderen: Die Mutter steht allein am Fenster – ist sie ein Geist? Einerseits: Nein, sie ist kein Geist – sie ist anwesend, ganz sicher, jedenfalls nimmt der Sohn ihre Präsenz wahr als wäre sie am Leben. Andererseits: warum die Genauigkeit der Beschreibung, dass sie ihren Kopf auf der Brust hat? Heißt das, der Kopf ist auf die Brust gesunken? Die Brust sinkt bei Liegenden auf die Brust, zum Beispiel im Schlaf oder im Tod (die Mutter steht aber). Biege ich hier doppelt falsch ab? Der Kopf sinkt nicht auf die Brust, sondern sie beugt ihren Kopf? Und: hat diese Geste/Haltung in der japanischen Kultur eine ganz andere Bedeutung und ich verstehe die Anspielung nicht? Keine Ahnung.
(Ver-)Bindung, Trennung, Zusammensein, Nähe werden noch über zwei Sinnesqualitäten verschaltet. Optik: Hell/Dunkel-Kontrast; Fühlen: Wärme/Kälte. Im Raum von Vater und Kind muss Licht brennen, das Kind liest ja vor. Es gibt eine scharfe Grenze: Innenraum, Fenster, draußen Dunkel. Eigentlich müsste es dazu, sozusagen parallel, den Kontrast im Fühlen geben: Wärme im Raum, Kälte draußen. Das Kind aber fröstelt. Bildet das nur die japanische Architektur ab, klassische Häuser in Japan scheinen eher zugige Buden zu sein? Jedenfalls gibt es nur eine Temperatur: das Kind fröstelt im Raum, die später beschriebene Tiefe (der Schlucht, dazu gleich mehr) ist „nächtlich kalt“. Das ist merkwürdig, warum muss eine „Tiefe“ „kalt sein“? Konkretistisch: in Tälern ist es kalt, auf Hügel könnte die Sonne scheinen. Vielleicht ist nicht die Nacht kalt, sondern das Dunkel der Nacht?
Jetzt passiert etwas in der Erzählung, der Sohn will zur Mutter, sie suchen. Hier gibt es gleich eine merkwürdige Formulierung. Wieso klettert der Sohn aus dem Fenster? Gibt es keine Haustür? Das ist konkretistisch gefragt. Wann klettert man aus dem Fenster? Assoziationen: (1) Er will den Vater im Auge behalten. (2) Er will nicht auffallen. (3) Er will, was er draußen sieht, die Mutter, im Auge behalten. Oder ist das eine Art (räumlich konkret dargestellte) rite de passage? Wenn er aus dem Fenster steigt, steigt er von einer Wirklichkeit in eine andere, von Geistern bewohnte?
Was erfährt man von dieser Wirklichkeit jenseits des Fensters? Eichen scheinen im Japanischen keine großartige symbolische Bedeutung zu haben. Bäume insgesamt, bei denen gibt es Baumgeister. Pflaumen blühen in Japan Mitte Februar bis Anfang März, das ist also erstmal konkret zu nehmen, ursprünglich waren sie Frühlingsboten und Glücksbringer, die Ankündigung des Frühlings haben sie an die Kirschen verloren, Glücksverheißung scheinen sie immer noch zu liefern. Für mich, den Europäer, sind es aber die weißen, hellen Farbtupfer/-flecken, Lichtkügelchen im Dunkel. Symbolisieren sie irgendwie die Mutter, die Sehnsucht, die (verlorene) Glücksverheißung durch die Mutter? Keine Ahnung.
Dann wird es im Dunkeln spooky. Was bedeutet die Schlucht? Ist in ihr die Mutter verschwunden? Jedenfalls kommt jetzt zur bisherigen Räumlichkeit (Drinnen/Draußen, räumliches Zusammensein/Getrenntsein) noch oben und unten dazu. Wohin ging die Mutter, in die Schlucht? Ins Dunkel sicher – denn der Sohn sieht sie nie mehr. Bei Schlucht, Tiefe muss man bei einem irgendwie diffus christlich geprägten Europäer nur den ersten Domino-Stein stupsen und schon rollt das den Semantik-Abgrund hinunter: Schlucht, Tiefe, Tal, Erde, unter der Erde, Hades, Unterwelt, Jenseits, Hölle. Quatsch für Japaner? Da müsste man deren Jenseitsvorstellungen genauer kennen. Die sind, da es dort verschiedenste religiöse Einflüsse gibt (Buddhismus, Shintoismus undundund), heterogen. Nur so viel: 3 Es gibt Vorstellungen vom Jenseits, das sich in den Bergen befindet, im Meer, im Himmel. Aber es gibt auch die Vorstellung eines „Land(es) der Finsternis“, einer „Totenwelt, in die alle Menschen nach dem Tod gelangen“, egal ob sie moralisch gut oder schlecht waren: „Diese Welt ist dunkel und unrein, aber sie ähnelt auch ein wenig der Erde. Es gibt hier u.a. einen Fluss, einen Abhang, einen Pfirsichbaum.“ Es ist unklar, ob diese Totenwelt unter der Erde liegt, es könnte aber sein. Dann gibt es noch das „Wurzelland“, das unter der Erde liegt – kurz: die Vorstellung einer Unterwelt gibt es durchaus. Ist die Mutter also im japanischen Hades? Ich habe keine Ahnung.
Das Kind entfernt sich vom Haus, vom Vater, geht in die Schlucht. Bisher stellten Blicke und Auge Verbindungen her. Das Kind sah die Mutter (hat sie ihn angesehen? War sie da, um ihn zu sehen?). Das Kind sieht den Vater an. Der Vater ihn? Nur kurz, er ist weg im Hören, dann im Schlaf. Jetzt kommt der böse Blick dazu. Im Dunkeln, weit entfernt von Haus und Vater (und auch der Mutter, sie ist nicht da) starren „ungezählte Augen“ das Kind an. Merkwürdig: Augen können offensichtlich den Atem, hier: den Mörderatem anhalten. Wenn könnten die Augen, die eigentlich schnaufenden, jetzt aber erschreckten (sie halten den Atem an) töten wollen? Das Kind? Jedenfalls wird das Kind angestarrt. Dennoch bleibt das unklar, das Gedicht endet, das Kind spricht nicht über seine Emotionen, sondern notiert nur neutral, dass die „ungezählten Augen“ es aus der Tiefe anstarren.
Beenden wir das hier! Habe ich irgendetwas verstanden? Völlig danebengehauen? War mein Gefrickel bestenfalls Proseminar? Das kann gut sein. Und müsste ich nicht weitermachen? Das ist auf jeden Fall der Fall. Die Deutung eines Traums wie die Deutung eines Gedichts sind nie zu Ende – alles ist überdeterminiert, die Assoziationen können immer weitergehen.
FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN
- Yasushi Inoue: Februar (1934), in: Yasushi Inoue: Eroberungszüge. Übersetzt von Siegfried Schaarschmidt, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1979. ↑
- Yasushi Inoue: Meine Mutter. Erzählungen. Aus dem Japanischen von Oscar Benl. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1987. Hilfreich dazu: Irmela Hijiya-Kirschnereit, Rezension zu Inoue, Yasushi: Meine Mutter, FAZ, 30. Juni 1987, 28. ↑
- Das Folgende habe ich aus: Ulrich Pauly: Die Jenseitsvorstellungen der Japaner, OAG Notizen 5/2014, 11-34. ↑
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