FOR REAL? Vernunft und Paranoia in trautem Zwiegespräch

Jetzt noch eine knappe Woche. Und die Frage: Werde ich jemals in dieses Land zurückkehren? Gerade dachte ich: nein. Oh! Aber was hat das zu bedeuten? Was sollte ich dann alles in den wenigen kommenden Tagen zum letzten Mal sehen? Spüre eine deutliche Endzeitspannung, die mich nervös macht. Am Ende werde ich heute das Haus gar nicht verlassen. Es ist auch Sonntag, ich muss mich sortieren. Den Übergang denken. Augen brennen. Ist das eine Allergie? Frühblüher, superfrüh in diesem Jahr. Das weite Land, immerzu in überhitzten Räumen weiteratmen. Komischer Körper. Was weiß ich. In die Zurückhaltung gehen. Gegangen sein. Zu nervös, um zu lesen, it feels. Fuchskadaver! Vögel im freien Fall. I-do-Bird-Sequenzen. [Inzwischen bin ich zurück in Deutschland und vieles, von dem, was ich vor wenigen Wochen beschrieben habe, ist schon wieder überholt, aber vielleicht nicht vollkommen obsolet.]

Werden jetzt auch aus den Universitätsbibliotheken Bücher aussortiert? Die Hauptbibliothek der NYU, Bobst Library, wirkt wie ein großer hoher Bunker, Foodtrucks parken davor. Nahezu alles, was ich suche, finde ich darin. Sie erscheint wehrhaft, eine Festung, von Campus Safety bewacht. Die in den Boden hineingestandene Zeit der Wachmänner. Eingang und Ausgang nicht verwechseln. Auf der Demo anlässlich des Frauentags am 8. März machte eine sehr energetische Sprecherin, während der Abschlusskundgebung auf dem Union Square, darauf aufmerksam, dass das erste, was der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer gefallen sei, die Institutsbibliothek des Instituts für Sexualwissenschaften gewesen sei, am 6. Mai 1933, als Studenten der Deutschen Hochschule für Leibesübungen [ich spüre einen leisen Widerwillen, diese Akteure zu gendern, obwohl es natürlich sehr gut sein kann, dass auch Studentinnen darunter waren], Funktionäre und Mitglieder der NS-Organisation Deutsche Studentenschaft das Institut plünderten und zerstörten. Die Sprecherin ruft den Demonstrant:innen zu: „This is just the beginning! We won’t let them erase trans kids!“ Und alle rufen zurück: No!, ich auch. 

Schon am 1. Februar 2025 hatten die Betreiber von Ubu-Web bekanntgegeben hat, dass sie die Seite wieder zurück ins Leben rufen würden, mit folgender Begründung: „A year ago, we decided to shutter UbuWeb. Not really shutter it, per se, but instead to consider it complete. After nearly 30 years, it felt right. But now, with the political changes in America and elsewhere around the world, we have decided to restart our archiving and regrow Ubu. In a moment when our collective memory is being systematically eradicated, archiving reemerges as a strong form of resistance, a way of preserving crucial, subversive, and marginalized forms of expression. We encourage you to do the same. All rivers lead to the same ocean: find your form of resistance, no matter how small, and go hard. It’s now or never. Together we can prevent the annihilation of the memory of the world.“ Ubu Web

„side notes from the archivist“ – so heißt der Lyrikband aus dem Jahr 2023 von anastacia-renée, den ich für nur $ 4,99 im Odyssey Bookstore in Ithaca gekauft habe, an einem sehr schönen Tag, zusammen mit E.S., wo wir nicht nur diesen immens idyllischen nachgerade protoypischen Buchladen besuchten, sondern auch die eingefrorenen Wasserfälle (warum läuft das oben nicht über, wenn der Ablauf eingefroren ist?) und den großen See – ach, und das in einem großartigen, sehr schönen und zweckmäßigen brutalistischen Gebäude untergebrachte Herbert F. Johnson Museum of Art (designed by I. M. Pei & Partners), an einem hellen Wintermorgen, bei zweistelligen Minusgraden, über den Campus auf knirschendem Eis. Und die große Umgebung von Upstate New York, aus Space, echtem, großem Space. Lustigerweise begrüßt mich der Band „side notes from the archivist“ gleich zu Anfang, auf der dem Titel gegenüberliegenden Seite, mit dem Hinweis: „Also by Anastacia-Renée: Forget It.“ Doch in „side notes from the archivist“ geht es nicht um die Aufforderung, etwas zu vergessen, sondern um das Erinnern: „readers follow the aptly named archivist as she preserves Black cultural inheritance. Poem after poem is situated in media reas beginning in the pre-Funk `80s, flowing between presend and future.“ Anerkennung der Geschichte, und gerade der Geschichte, die quer zum Mainstream steht, die so leicht in Vergessenheit gerät. Vernunft und Paranoia. Etwas kippt. Das eine ist das Bewahren, das andere das Verwischen der Spuren. 

Was jetzt? Don Moynihan, Professor of Public Policy, Ford School of Public Policy, University of Michigan, berichtet am 9. März 2025 in seinem Newsletter, dass er von Studierenden gebeten worden sei, die einzelnen Sitzung nicht mehr aufzuzeichnen (was er bislang getan hatte, um sie verhinderten oder erkrankten Seminarteilnehmer:innen zur Verfügung zu stellen), aus Angst, man könne das, was die Studierenden zu den Diskussionen beitragen, gegen sie verwenden. „It’s a small example of how fear is creeping into American life. The right to say what we want, to choose our topics of study, is essentially American. But we don’t live in America any longer. The truth is, we live in a foreign country now.“ Don Moynihan: Real chilling effects. A extraordinary pattern of government censorship and threats to speech

[Seit Ende März gibt es eigentlich gar keine Rechtssicherheit mehr für internationale Studierende, deren Visa-Status jederzeit willkürlich geändert werden kann. „On behalf of the United States Department of State, the Bureau of Consular Affairs Visa Office hereby informs you that additional information became available after your visa was issued. As a result, your F-1 visa with expiration date XXXXX was revoked in accordance with Section 221(i) of the United States Immigration and Nationality Act, as amended. (…) Remaining in the United States without a lawful immigration status can result in fines, detention, and/or deportation. It may also make you ineligible for a future U.S. visa. Please note that deportation can take place at a time that does not allow the person being deported to secure possessions or conclude affairs in the United States. Persons being deported may be sent to countries other than their countries of origin.“

Hundreds of international students have just received an email telling them their visas have been revoked.]

Manchmal frage ich mich ganz pessimistisch, welche Steigerungen noch möglich sind. Feuerwehr nur noch für diejenigen, die dafür bezahlen, wie die privaten Feuerwehren der Hollywood-Stars im tiefen Malibu. Abschaffung des Wahlrechts für Frauen. Frauen zu betäuben und zu vergewaltigen, ist kein Hindernis mehr für eine höhere Beamtenlaufbahn. Ah, ne, gibt ja keine Beamten mehr, sorry. „Rape and support for rapists are now key aspects of US federal government policy“, schrieb Faine Greenwood am 27. Februar 2025 auf bluesky. Jede nicht mit einem weißen Mann besetzte Stelle, für die sich auch ein weißer Mann beworben hat, gibt den Anlass für ein Gerichtsverfahren. Die Ur-US-amerikanische Tradition des Town Hall Meetings wird eingestellt. Fahrradwege werden verboten. Wenn paramilitärische Truppen die Universitäten umstellen, wird der Unterricht auf Zoom umgestellt, vielleicht werden dann auch die Abgabefristen für Prüfungsleistungen verlängert. An staatlichen Universitäten werden die Geisteswissenschaften durch KI-Apps ersetzt. Elon Musk stellt seine digitale Infrastruktur gegen die Ukraine Putins Russland zur Verfügung. Mehr und mehr Menschen verschwinden, und man weiß nicht, wohin. Stopp! Aufhören. Manches davon scheint mir doch eher unwahrscheinlich zu sein. Aber für optimistische Einschätzungen dürfte es auch zu spät sein. [Data against Fascism hat Ende März eine Seite aufgesetzt, auf der Informationen zu verschwundenen Personen eingeholt, gebündelt und bereitgestellt werden: United States Disappeared Tracker.]

Man muss nicht paranoid sein, um zu sehen, welche Entscheidungen wen stärken und wen schwächen. Das Warum interessiert hier weniger als das Wie. Denn das Wie verbindet das, was noch zu retten ist, mit dem, was schon verloren scheint. Es braucht einen hellsichtigen Pessimismus, der nicht auf kraftraubende Verschwörungstheorien angewiesen ist. Ich muss an die Worte von Cindy Patton denken, die Eve Kosofsky-Sedgwick am Anfang ihres bekannten Essays über Paranoid Reading and Reparative Reading zitiert, dass sich politische Motivationen nämlich auch dann kenntlich machen lassen, wenn man keine geheime unterdrückte Narration dahinter vermutet, weil die Tatsachen für sich sprechen. In diesem Fall ging es um die Verschwörungstheorien rund um den Ursprung des Aids-Virus, aus einem biologischen Kampfstofflabor des US-Militärs, um homophobe und rassistische Überzeugungen und die Gleichgültigkeit von Verantwortlichen gegenüber katastrophischen Veränderungen, die sie nicht betreffen. Und sie fragt: Nur mal angenommen, dies träfe zu, was wüssten wir dann, was wir nicht jetzt schon wissen? 

Und Eve Kosofsky-Sedgwick antwortet: „Aside from a certain congenial, stony pessimism, I think what I’ve found enabling about it is, that it suggests the possibility of unpacking, of disentangling from their impacted and overdetermined historical relation to each other some of the separate elements of the intellectual baggage that many of us carry around under a label such as ‚hermeneutics of suspicion‘.“ Und weiter: „What does knowledge do – the pursuit of it, the having and exposing of it, the receiving again of knowledge of what one already knows?“ (Eve Kosofsky-Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading, Or, You’re so Paranoid, You Probably Think This Essay is About you, in: Touching Feeling. Durham & London 2003. Seite 123f.) Ja, what does knowledge do? Was macht das Wissen mit mir? Vor allem dann, wenn ich ein Pessimist bin? So dass ich mich gegenüber jeder Überraschung immunisieren kann, weil es nichts gibt, das so schlecht ist, dass ich es mir nicht schon längst vorgestellt habe. Ich bin vorbereitet! Das kommt mir jetzt allerdings wie eine sehr beklemmende, wenn nicht sogar immobilisierende Form der Vorbereitung vor. Was für ein Realismus soll das sein? Weiter darüber nachdenken, was hier an die Stelle des Begriffs des Reparativen treten könnte. Vielleicht etwas aus den 20 Lektionen, die Timothy Snyder in seinem Büchlein On Tyranny zusammenstellt. Nr. 13: Practice corporeal politics. Nr. 14: Establish a Private Life. Nr. 15: Contribute to good causes. [Timothy Snyder, Marci Shore und Jason Stanley haben inzwischen die Yale University verlassen und Stellenangebote der Universtät Toronto angenommen.]

Gerade heute morgen, am 10.03.2025, kam unter dem Titel The Paranoid Style in MAGA Policy ein neuer Newsletter von Paul Krugman, der die Frage stellt, warum es ungut ist, wenn verrückte Verschwörungstheoretiker die Regierung bilden: „First, it means that the people in charge won’t learn from failure. When things go wrong — when planes crash, or forests burn, or children die of preventable diseases, or the economy enters stagflation — it won’t be because policies should be reconsidered. It will be because sinister globalists are plotting against America. And the beatings will continue until morale improves. // Second, there will be a search for scapegoats. Much of the federal government is already in the midst of a de facto political purge, with professional civil servants replaced by apparatchiks and job cuts falling most heavily on agencies perceived as liberal. These purges will intensify and broaden, increasingly extending to the private sector, as the administration proves itself incapable of governing effectively.“ 

Plötzliche Sehnsucht nach Maria Lassnigs Gemälden, nach ihren Aufzeichungen. Ah, es gibt ganz viel von Maria Lassnig in der Bobst Library. Die Sonne scheint hinein. Studierende flirten offensiv miteinander, im hellen Licht. Ich wechsele den Platz und schreibe in mein grünes Heft langsam folgende Passage ab, weil Abschreiben eigentlich immer hilft, gegen das fahrige Ausweichen der Gedanken, das Herzjagen und das Hetzgefühl. 

„als ich in meiner malerei müde wurde, die natur analysierend darzustellen, suchte ich nach einer realität, die mehr in meinem besitz wäre als die außenwelt und fand als solche das von mir bewohnte körpergehäuse, die realste realität am deutlichsten vor, ich hatte ihrer nur gewahr zu werden, um ihren abdruck in fixen schwerpunkten auf die bildebene projizieren zu können. das gewahrwerden des körpers kann entweder durch druck, spannung oder überbeanspruchung eines körperteils in einer bestimmten körperlage entstehen, sich also in druck oder spannungsgefühlen, in gefühlen der völle oder leere etc. äußern.

die frage ist nun, ob:
1) realistische erinnerungsassoziationen ausgeschaltet oder angewendet werden, das heißt, ob ich das bein oder die hand realistisch, wie ich es gesehen, male oder als stab, wie ich es fühle, oder als draht, bindfaden, wurst oder gar nicht.
2) ich mich teilweise nur gegen die außenwelt abschirme, das heißt, wenn ich vor einem tisch mit äpfeln sitze, ich ihn auch wirklich sehe und ihn male, mich selbst aber nur als eisenzange, die sich an ihm festhält, also die gefühlsschulterblätter in den optischen tisch als zange hineinragen lasse.
3) ich die realistischen erinnerungsassoziationen mit den frei gefundenen sensationen innerhalb eines bildes mische, zum beispiel den körper wie einen ofenschirm male, an dem die realistischen schamteile angebracht sind. (New York 1970).“ (Maria Lassnig: Werke, Tagebücher & Schriften. London, Köln 2015) 

Und da fällt mir wieder ein, wie ich am zweiten Tag in New York, vollkommen übermüdet, zu Fuß nach Chinatown ging, um Sojasauce zu kaufen, denn wie soll man leben, ohne Sojasauce?, und in dem großen chinesischen Supermarkt auf der Mott Street meinen blauen Geldbeutel mit allem, wirklich allem, like everything, darin, liegenließ und es erst eine Viertelstunde später merkte, dann zurückrannte, und ankommend schon im Blick der freundlichen Kassiererin sah, dass alles in Ordnung war, die mich erkannte und an die Geschäftsführung verwies, wo ich nach Nennung meines Namens und der Beschreibung seines Inhalts den Geldbeutel komplett wieder ausgehändigt bekam, und mir nicht einmal erlaubt wurde, mich mit einem Finderlohn erkenntlich zu zeigen – um dann kopfschüttelnd, sehr erleichtert und nachhaltig überrascht, angesichts dieses Glückes, das jeder Form der Paranoia Hohn lachte, nachhause zu gehen. Da sah ich mit meinen flatternden Gefühlsschulterblättern aus wie von Lassnig gemalt. Dann Sobanudeln mit Sojasauce und Sesamöl. Das war am 3. Februar 2025.

(Teil 1 | Teil 2 | Teil 3| Teil 4| Teil 5)