Der destruktive Charakter

„Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass.“ (Walter Benjamin: Der destruktive Charakter) Diese ausgestellte Unumwundenheit beeindruckt ja schon. An Formen theatraler Politik denken – und an ihre äußerst realen Folgen.

Minus 1 Grad, feels like minus 7. Seit dem 2. Februar bin ich in New York. Die Aussicht aus dem 15. Stock in Richtung Downtown ist gut, andere Aussichten sind das weniger. Ich komme nicht nach. Staatsstreich oder Bürokratieabbau?, fragt die ARD. Staatsstreich, ARD, du depater Heimatsender! Was ist das denn nur für eine Frage? Sane washing auf der einen Seite, insanity auf der anderen. I just can’t get my head around it, und muss es deswegen immer und immer wieder versuchen. Purge ist das englische Wort für Säuberung, es wird in diesen Tagen häufig im Zusammenhang mit den Entlassungen hoher Militärs und den Ersetzungen im JAG Corps (Army Judge Advocate General’s Corps, also der obersten Justizinstanz der Streitkräfte der Vereinigten Staaten) gebraucht. Oder auch hierfür: BREAKING: Head of FBI’s New York office is forced out after questioning President Trump’s pursuit of agents who investigated Jan. 6 cases, sources say, am 3. März 2025.

Welche anderen Worte benötige ich jetzt? Sind es spontane Neuübersetzungen der Anfang Februar sanktionierten wissenschaftlichen Forschungsbegriffe? Aus einem noch zu schreibenden klandestinen Wörterbuch der Neologismen? Ein linguistischer Dictionnaire der Sprachcamouflage? Natürlich braucht die Wissenschaft begriffliche Stabilität und Trennschärfe, aber vielleicht kann eine babylonische Sprachvermehrung dazu führen, dass datengestützte Sprachsäuberungen nicht mehr ohne Weiteres vollzogen werden können, oder zumindest weniger effizient werden. Also unwahrscheinliche Findungen und Kombinationen genau da einzusetzen, wo KI-gestützte Suchprogramme auf Wahrscheinlichkeit angewiesen sind. The Germans have a word for it, les Français ont un autre mot pour ça – und das Wort heißt: Federlesen.

Um Zuflucht bei anderen Sprachen zu suchen, bei Sprachen, deren Dreiklang, Vierklang und Fünfklang usf. wie ein Dickicht vor dem einzelnen Begriff steht, auf den es die automatisierte, monolinguale Suchfunktion abgesehen hat. „Gib mir den Löffel, nimm du den Schlüssel“, so heißt es in einem Gedicht von Orsolya Kalász mit dem Titel Die Sprache gibt den Löffel ab, in dem die Rettung genau darin besteht, dass die beiden jeweils einzelsprachspezifischen metaphorischen Attribute des Sterbens, die am Ende des Lebens abgegeben werden müssen (der Löffel im Deutschen und der Schlüssel im Ungarischen) einfach ausgetauscht werden, und so ihre tödliche Wirkung womöglich gemildert ist. Oder so wie im Iran seit Jahrzehnten der metaphorische Reichtum der persischen Sprache zur verdeckten Übertragung genutzt wird. Als das Wort „küssen“ auf der Bühne nicht mehr ausgesprochen werden durfte, wurde es, sozusagen metonymisch, durch ein Wort ersetzt, das auf Farsi sehr ähnlich lautet: zwanzig. Ich zwanzige dich!, „und der Bazbin [der Beauftragte von der Theater fördernden und zensierenden Behörde] ließ das, warum auch immer, durchgehen.“ (Charlotte Wiedemann: Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten. München 2017. Seite 74)

Die Sprache auffalten, die Phänomene aufhalten. Jedoch nicht nachkommen. Einfach nicht nachkommen. Was immer ich seit zwei, seit drei, seit vier Wochen zu dem politischen Disaster in den USA lese, scheint die Distanz zu vergrößern. Obwohl ich vor Ort bin, verstärkt die Lektüre das Bedürfnis, mich zunächst zu informieren (oder zu imprägnieren), sie steht zwischen Tag und Text wie eine sehr nervöse Wand. Oder ich gehe stundenlang durch die Stadt, it’s another man, help me understand. Indes scheint es mit jedem Tag schlimmer zu werden, oder zumindest nicht besser. Zu Wort zu kommen, bevor man in der Lage ist, zu einem klaren Gedanken zu kommen – es geht ja nicht anders. Lustig: Nach der ersten Sitzung des Kurses „Exploring Poetic Space“, die ich Anfang Februar unterrichtet habe, laufe ich, als ich das Gebäude verlassen will, mit Karacho gegen die Glaswand neben der Drehtür. Kawatz. Eis auf Stirn und Knie und drei Tage hinken. So much about „Exploring Poetic Space“.

Ich werde diesen Text datieren müssen, aber ich kann nicht chronologisch vorgehen, in der unsortierten Gleichzeitigkeit dieser Tage, in die ganz unterschiedliche Zeitspannen, neue politische Erschütterungen und Lektüren hereinragen. „We are paralyzed“, sagte mir die freundliche Juristin in Baltimore, vor wenigen Tagen, beim Dinner. Und: Sie sei es nicht gewohnt, so viel verdrängen zu müssen, um zu funktionieren. „I don’t know yet what this is going to do to my body.“ Dem rasenden und destruktiven Entscheidungsfuror entspricht auf der anderen Seite eine weirde Duldungsstarre, die sich nur ganz langsam löst, die ich aber auch gut verstehen kann. Vorletzte Woche wurde in Deutschland gewählt. Als die ersten Prognosen kamen, war es früher Nachmittag und mir schien, als bewahrheiteten sie sich erst dann, wenn es auch hier in New York 18 Uhr würde und dunkel. Eine Schonfrist aus Licht. Zu denken: Darum kümmere ich mich, wenn ich wieder in Deutschland bin. Und noch nicht zu wissen, wie genau.

Treibsand. Ich bin nicht in der Lage, den Moment festzuhalten, von dem aus ich beschreiben könnte, was passiert. Diedrich Diederichsen kriegt es hin: „Über das zu schreiben, was alle gerade umtreibt, ohne selbst mehr zu wissen, ist eine komische Übung. Früher hätte dieser Autor sich das als den Job der Ideologiekritik erklärt: nicht basierend auf besonderem Faktenwissen sprechen, sondern anhand von Kenntnissen über die Verbindung von Wissensformen und ihren politischen Zwecken. Ideologiekritik erscheint aber schon länger wie ein stumpfes Schwert.“ 17. Februar 2025, Präambel zu einem Text mit dem Titel Das Rohe und das Kettengesägte von Diedrich Diederichsen in der Berlin Review.

Das Tempo, in dem der Umbau vor sich geht, ist essenziell. Es gehört dazu, zu den Entscheidungen, die getroffen werden, und zwar auch inhaltlich. Die neuen Machthaber (oder Ausüber?) inszenieren mit großer Verve das Gegenteil einer zeitaufwändigen demokratischen Entscheidungsfindung und stehen schon dadurch in Verbindung mit den maschinellen entscheidungs-unterstützenden Systemen, die unter dem Namen KI firmieren. Ausgeübt. Schluss, aus. Umbau und Aushöhlung staatlicher Institutionen auf Kosten der Menschen und ihrer Sprache. 1. Februar 2025: „Their actions last week amount to a hostile takeover of the US government, by those who are loyal to Trump, rather than to the US Constitution. The only word that accurately describes that situation is ‚coup.‘ Any other description is a sign of fear, submission, or surrender.“ Robert B. Hubbell: Call it by its name: A coup. Das wissen wir ja längst. Aber wissen wir es wirklich?

„Stop the Coup“ und: „Trump must go“ rufen ein paar Hundert Leute am Vormittag des 17. Februar auf dem Washington Square, und: No Trump, no KKK, no Fascist USA. Es sind nicht sehr viele. Eine Demonstrantin erklärt mir ihr Schild: Wenn DOGE wirklich effizient wäre, hieße es nicht DOGE sondern ETH. Eidgenössische Technische Hochschule? Nein, ETH sei eine Kryptowährung, die wirklich funktioniert. Ah verstehe. Good sign, wenn auch etwas kleinteilig vielleicht. Es ist wirklich keine große Gruppe. Auf dem Bürgersteig viele Passanten, die zeigen, dass sie die Proteste begrüßen. „Hands off my SSN!“ Für den 7. März 2025 ist am selben Ort eine große Demo des Netzwerks StandUpForScience geplant. Das ist in drei Tagen.

Seit ich hier bin, geht alles so schnell. „What’s happening to the US government right now is bad. What comes next is worse. Brian Barrett, 27. Februar 2025, in Wired. Ein Trick der Macht mag sein, dass einem das eigene Entsetzen wie die reine Naivität vorkommen soll und sich daher nicht versprachlichen lässt, oder verspätet, wie etwas, das sich jetzt auch nicht mehr zu formulieren lohnt, weil das alles ja inzwischen offen zu Tage liegt. In beiden Fällen ist Selbstentmündigung die Folge. Stattdessen ist das Entsetzen zu verteidigen, ganz gleich, ob es sich seiner Naivität schämt. Es muss sich aber selbstredend auch informieren. Das dauert. Es braucht eine andere Begrifflichkeit. Natürlich reicht es nicht aus, entsetzt zu sein, aber zumindest erkenne ich das Phänomen und seine Wirkung an. Ich habe inzwischen so viele Newsletter abonniert, dass ich morgens beim ersten Blick in die Mailbox schier irre werde. Verunsicherung zulassen? Leichter gesagt als getan, nein, umgekehrt: Leichter getan als gesagt. Nicht darum herumkommen. Dann: das Tempo. Zu spät. Vorbei. Ich glaube, ich erwähnte es bereits. Es wäre gestern gewesen. Late comers will have missed the boat. Bereits jetzt die Überforderung in die Zukunft expedieren, um ihr dort gleich morgen wieder zu begegnen.

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