„Was fällt, das soll man auch noch stoßen!“
Das Ende der Mitte als Prozess und Chance. Eine Replik auf Per Leos „Das Ancien Regime der Mitte“
In seinem bemerkenswerten Text „Das Ancien Regime der Mitte“ bezieht sich Per Leo auf die These von Florian Meinel und Maximilian Steinbeis, die Union habe unter Friedrich Merz das Ende der Mitte besiegelt. Daraus leitete Leo noch vor der Bundestagswahl einen Aufruf für die LINKE ab, dem auch ohne Folge geleistet zu haben viel abzugewinnen ist.
(i) Zunächst ist mit Blick auf Meinel und Steinbeis zwar berechtigt, an der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag einen Niedergang der Mitte festzumachen. Allerdings handelt es sich hierbei um ein Ende, das weit früher seinen Anfang genommen hatte und voraussichtlich auch noch länger andauert.
Die für die Mitte laut Meinel und Steinbeis konstitutive, gemeinsame parlamentarische Abgrenzung vom Extremismus war bereits in dem Moment kompromittiert, da sie als parteipolitisches Druckmittel überbeansprucht wurde. Angedeutet hatte sich dieser Missbrauch etwa nach der gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlung, wonach die SPD gegen ihren erklärten Willen in eine Regierung mit der Union gedrängt wurde und die Union im Gegenzug das Wahlprogramm der SPD umzusetzen hatte. Was 2017 begann, vollendete sich spätestens im vergeblichen Versuch von Ampel-Regierung und Union aus dem Oktober des vergangenen Jahres, ein gemeinsames, so genanntes Sicherheitspaket auf den Weg zu bringen. Auch hier ging es den Protagonisten erkennbar darum, sich in vordergründiger Berufung auf staatstragende Verantwortung gegenseitig unter Druck zu setzen.
Sodann ist eine Auslassung zu beanstanden, dass nämlich die Demonstrationen gegen das Vorgehen der Union beim Zustrombegrenzungsgesetz, die Steinbeis und Meinel als Ausweis einer gesellschaftlich noch intakten Mitte heranziehen, selbst keineswegs frei von Extremismus waren. Linkenpolitikerin Heidi Reichinnek hatte in der bezugnehmenden Bundestagsdebatte mit gereckter Faust auf die Barrikaden gerufen. Von dieser Radikalisierung haben bei der Wahl folgerichtig auch nicht SPD oder Grüne profitiert, sondern eben die LINKE.
(ii) Angemessener wäre also eine Darstellung, wonach sich alle untereinander koalitionsfähigen Parteien der Mitte im gleichen Dilemma befinden, und zwar als Getriebene von den politischen Rändern vor die Wahl gestellt, diesen entweder nachzugeben oder sich von ihnen im „Zentrismus“ (Leo) aufreiben zu lassen.
Der Wunsch der Konkurrenz, auch in dieser Konstellation noch von außen über die Wirklichkeitsbeschreibung der Union in der Migration und folglich deren Verhältnis zum rechten Rand verfügen zu können, ist verständlich, aber weder maßgeblich noch berechtigt. Richtig und relevant ist, dass wenn sich die Union dieser Interpretationshoheit entzieht, die Progressiven ihr im Gegenzug nicht mehr zur Kanzlerschaft verhelfen, sondern eine eigene Machtoption anstreben müssten. In dieser Schlussfolgerung ist Meinel und Steinbeis zuzustimmen, an die Leos Ausführungen künftiger Koalitionsstrategien anknüpfen.
(iii) Vor der Strategie sind gleichwohl taktische beziehungsweise technische Details zu berücksichtigen. In der Ampel hat sich das unter Kanzlerin Merkel kultivierte Regime als nicht mehr tragfähig erwiesen, auf Grundlage einmalig für vier Jahre geschlossener Koalitionsverträge zu regieren, um Programmatik gegen Machtansprüche zu tauschen. So auch Leo, der jedoch nicht beleuchtet, welche Modifikationen der „Mitte als System“ in Anlehnung an Vorstellungen der Union denkbar wären. Demnach könnten auch zentristische Koalitionen gemeinsame Vorhaben im Jahreshorizont vereinbaren und im Koalitionsausschuss situativ klären, ob die Abstimmung strittiger Themen im Bundestag freigestellt werden kann, ohne die Regierungsfähigkeit zu gefährden oder Neuwahlen zu riskieren.
Selbst wenn Union und Sozialdemokraten in der 21. Legislaturperiode noch einmal zu einer Regierung der Mitte zusammenfinden, müsste sich noch erweisen, ob allein eine reformierte Arbeitsweise über die Bundestagswahl 2029 hinausträgt. Skepsis ist angezeigt und genau hier verfängt Leos Hinweis auf die inhaltliche Leere des Zentrismus. Was Meinel und Steinbeis an Substanz durchaus vielversprechend als “Bildung eines bis in den Linksliberalismus hinein anschlussfähigen Parteienbündnisses nach dem Vorbild des französischen Nouveau Front Populaire“ avisieren, führt Leo mit Referenz auf die inzwischen tatsächlich erstarkte LINKE näher aus.
Leo appellierte noch vor der Wahl, der LINKEn als einziger parlamentarischer Kraft, die sich einer Wirklichkeitsbeschreibung unter Mitwirkung der AfD kategorisch verweigert, die Führung des linken Spektrums zu übertragen. Das mag insbesondere aus konservativer Sicht empören, ist aber in der Sache zwingend, zumal Leo mittlerweile durch das Wahlergebnis mit der LINKEn als einziger Gewinnerin unter den progressiven Parteien bekräftigt wurde.
Vielmehr fragt sich, ob die Empfindlichkeit der Union, wenn Rot-Rot-Grün zur Sprache kommt, tatsächlich rein intrinsisch motiviert oder nicht auch Ausdruck der Verlustangst einer Machtoption in der Mitte ist. Wie schon bei SPD und Grünen hinsichtlich der Brandmauer kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, mit der Empörung werde der Kontrollverlust über einen politischen Gegner verarbeitet.
(iv) Programmatisch könnte die LINKE jedenfalls für Rot-Grün den bisher selbst durch Merkel versperrten Weg zu einer Fiskalunion weisen. Auch wenn es rechtliche Einzelheiten kompliziert machen: Ein Europa mit eigenem Haushalt, gemeinsamen Schulden und Steuern ist längst ein Desiderat, das lediglich in Geberländern wie Deutschland als linke Abseitigkeit gilt, in Frankreich oder Italien hingegen mehrheitsfähig ist. Ohne diesen Hintergrund zu nennen, arbeitet Leo trotzdem zutreffend den Krieg Russlands gegen die Ukraine als Kompromissfläche zwischen Mitte-Links und linkem Rand heraus. Denn eine Aufrüstung ohne Einschnitte in den Sozialstaat kann nur gegen den Stabilitätspakt und also rechte Austeritätspolitik gelingen. Freilich kommt Leo nicht umhin, im selben Atemzug ein „sicherheitspolitisches Godesberg“ der LINKEn zu fordern.
Von hier aus zeichnet sich sehr wohl eine klare Weichenstellung für 2029 ab. Ein Kompromiss mit der Union in Sachen Euro-Bonds und No-Bail-Out ist kaum vorstellbar. Denn die Überzeugung der Union als Schützerin der Stabilitätskriterien ist es in scharfem Gegensatz dazu, dass die Wehrhaftigkeit Europas neben militärischer auch an wirtschaftlicher Stärke im Sinn von Produktivität hängt und einer soliden Währung im Sinn von hoher Bonität. In so einer materiellen Wirklichkeitsbeschreibung spielte die Migration in der Tat keinesfalls die Hauptrolle.
(v) Noch ist die Mitte nicht tot und man sollte sich hüten, sie ohne Not zu beschädigen. Auch wenn sie weder für SPD noch für die Union langfristig strategisch attraktive Perspektiven bereithält, haben beide Parteien viele Rettungsversuche unternommen. Irgendwann aber ist die Mitte kaputtgerettet. Somit wird ein scharfer Lagerwahlkampf zwischen zwei Blöcken denk- und erwartbar, wobei jeder Block gleichsam seinen linken beziehungsweise rechten ideologischen Hinterhof auf Linie bringen müsste.
Derzeit sieht es danach aus, als sei der Pazifismus der LINKEn weiter entfernt von Putin als der Chauvinismus der AfD. Trotz rechten Momentums liegt damit der langfristige strategische Vorteil eher bei Rot-Rot-Grün – jedenfalls solange die Konservativen nicht selbst bald eine eigene, in der Mitte konkurrenzfähige und trotzdem nach rechts integrierende Erzählung vorlegen.
(v) Eigentümlich erscheint zuletzt die Vorstellung, in welchem Umfang die Politik durch Beschreibung Einfluss auf Realität nehmen könne. Leo sowie Steinbeis und Meinel schlagen nun nicht vor, dass die Migration als Herausforderung ignoriert werden solle, sondern beklagen, dass dabei die Kriminalität von Zuwanderern einen unverhältnismäßig großen Raum einnehmen würde. Stattdessen möchte Leo die Chancen der Zuwanderung in eine wertebasierte Vision für Deutschland und Europa fassen. Meinel und Steinbeis gedenken dies durch „die intermediären, vermittelnden Institutionen des vorpolitischen Raumes, vom Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk über die großen Verbände und Kirchen bis zum Deutschen Landkreistag“ abzusichern.
Abgesehen davon, ob dem ausgerechnet der Landkreistag folgen würde: Allen drei scheint nicht einmal in den Sinn zukommen, dass nichts anderes seit Beginn der Migrationsdebatte 2015 erfolglos unternommen worden sein könnte. Die Wahl zehn Jahre später, die keine Migrationswahl werden sollte und doch eine wurde, war ein rechter Erdrutsch, wobei die Union noch Zulauf aus der Mitte bekam. Daran kann auch keine Schuldzuweisung etwas ändern, wonach die AfD entweder in den Salon gelassen wurde, oder ein Vakuum zur Verfügung gestellt bekam.
(vi) Hieran ließe sich nun einige vergebliche Mühe anschließen, sich gegenseitig zu belehren, zu bekehren oder als Verharmloser von Extremismus zu markieren. Aber das erscheint in dieser Kontroverse unangebracht, in der dem Anschein nach Einigkeit darüber herrscht, dass es in der politischen Kultur Deutschlands von nun an mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr auf Konsens als Selbstzweck hinausläuft.
Wertvoll ist vielmehr, wo der grundlegende Dissens verortet wurde, nämlich an der ideologischen Demarkationslinie entlang des Verhältnisses zwischen Realität und Beschreibung. Von hieraus müssen nunmehr Progressive und Konservative, die im noch andauernden Ende der Mitte eine Chance wittern, ihre jeweils eigenen Hausaufgaben erledigen, ohne sich damit gegenseitig gefallen zu sollen.
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