Das Ancien Régime der Mitte

Die Idee der politischen Mitte ist wenn nicht tot, dann doch so schwer beschädigt, dass sie dringend der Revision bedarf. Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl haben Florian Meinel und Max Steinbeis diese Idee im Verfassungsblog kürzlich plausibel umrissen. In meiner freien, historisch erweiterten Paraphrase lautet sie so:

Die politische Kultur der Bundesrepublik hat sich an der Maxime der allgemeinen Koalitionsfähigkeit orientiert. Das aber setzte voraus, dass die politische Leitunterscheidung neu formuliert wurde. Statt ideologisch zwischen links/rechts (oder sozialistisch/konservativ) zu unterscheiden, etablierte sich in der Bundesrepublik ein System, das eine breite Zone des demokratisch Normalen auf beiden Seiten vom Extremen abgrenzte. Weil parlamentarische Mehrheiten in diesem System nur im mittleren Spektrum gefunden werden durften, gab es für die Wähler einen starken Anreiz, ihre Stimme nicht an Parteien ohne Machtchance zu verschenken. Umgekehrt ermöglichte die Organisationsform der Volkspartei es kleineren oder radikaleren Strömungen, als »Flügel«, »Plattform« oder »Kreis« einen abseitigen, aber legitimen Ort im Normalspektrum zu finden.

Mitte als System

Das System hat lange funktioniert. Und das Funktionieren lässt sich beschreiben.

1. Die lagerübergreifende KOALITIONSFÄHIGKEIT war seit dem Godesberger Programm der SPD eine historische Tatsache. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die Parteien der Mitte, haben in fast allen denkbaren Konstellationen Koalitionsregierungen gebildet; dass es bisher keine schwarz-grüne Regierung gab, hat keine prinzipiellen Gründe. Und alles in allem ist Deutschland damit nicht schlecht gefahren.

2. Eine fein austarierte BALANCE aus staatspolitischem Konsens und ideologischer Konkurrenz hat es den Koalitionspartnern ermöglicht, Kompromisse zu schließen, während zugleich unverhandelbare Minimalbedingungen für die Regierungsbeteiligung akzeptiert waren. Idealtypisch könnte man sagen: innenpolitische Themen waren Verhandlungssache, die Grundpfeiler der Außenpolitik – Westbindung, NATO, EU – waren es nicht. Zugleich fungierten die Jugendorganisationen der Parteien nicht nur als Kaderschmieden für regierungstaugliche Politiker, sondern auch als Hort der ideologischen Rückbindung an unverhandelbare Werte.

3. Ihre Legitimation haben die Koalitionen der Mitte nicht allein durch Wahlen erhalten, sondern auch durch die parlamentarische REPRÄSENTATION gesellschaftlicher Gruppen und Konflikte. Organisationen des vorpolitischen Raums – Kirchen, Gewerkschaften, Interessenverbände, soziale Bewegungen, NGOs – kamen in den Parteien und damit in den Parlamenten vor, sei es über Doppelmitgliedschaft oder informelle Netzwerke, vulgo: die Basis und den Filz.

4. Auf gesellschaftlichen Wandel hat dieses System durch ANPASSUNG reagiert. Das paradigmatische Beispiel dafür sind die Grünen. Der Generationskonflikt von »1968« und das Ende der Industriegesellschaft haben über den Umweg der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) zur Gründung einer Partei geführt, die eine vielfach veränderte Lage in Repräsentation übersetzte: ökologische Krise, Friedensbewegung, Menschenrechte, Feminismus, Basisdemokratie und Regionalismus haben sie in die Parlamente geführt. Weil die Grünen sich aber ihrerseits den außenpolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik zu eigen machten, waren sie nach kaum zwei Jahrzehnten auch im Bund regierungsfähig.

5. Die regelbestätigende AUSNAHME ist die PDS/Linke. Zum einen wiederholte sich bei der kommunistischen Nachfolgepartei durch innere Anpassung der gleiche Prozess, den CDU und FDP 1945 bzw. 1948 durch Neugründung in Gang setzten: Funktionäre und Trägergruppen der Diktatur wurden qua Parteimitgliedschaft und parlamentarische Repräsentation in das Spektrum der Mitte integriert, während die »Unverbesserlichen« ausgegrenzt wurden und in Splitterparteien und Subkulturen politisch verhungerten. Zum anderen gilt die Linke im Bund als nicht koalitionsfähig, weil sie sich – anders als die SPD nach Godesberg und die Grünen im Zuge von Sarajewo und Srebrenica – bis heute weigert, den außenpolitischen Grundkonsens, insbesondere die NATO-Mitgliedschaft, mitzutragen. Deswegen blieb die Existenz von linken Mehrheiten in den Jahren 2005-2009 und 2013-2017 ohne praktische Folge. Niemand unternahm den Versuch, sie in Regierungsmacht umzumünzen. Es war, als gebe es sie gar nicht.

6. So wie die Mitte die Integration gesellschaftlicher Verhältnisse in das politische System ermöglichte, so war sie zugleich von Anfang an GEOPOLITISCH verankert. Weil aber die politische Ökonomie der Bundesrepublik ohne die Sicherheitsgarantie der USA, billige Energie und Freihandel kein verlässliches Fundament gehabt hätte, war der außenpolitische Grundkonsens weniger eine Wertentscheidung, als vielmehr Ausdruck des nationalen Interesses, also Staatsräson. Die Verankerung unserer politischen Kultur in einem globalen Gefüge wird oft übersehen. Aber man kann sie kaum überschätzen. Denn man wird auch die Krise der Mitte nicht begreifen, wenn man nur auf die inneren Verhältnisse schaut.

Mitte als Position

Dass die Mitte als analytischer Begriff zur Beschreibung der politischen Kultur und des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik taugt, haben Meinel und Steinbeis überzeugend dargelegt. Als politische Idee war sie jedoch lange ein Exklusivbesitz der FDP, die als »Zünglein an der Waage« entweder »bürgerliche« Koalitionen mit der Union oder »sozial-liberale« mit der SPD ermöglicht. Und zum politischen Ideal wurde sie erst ab den späten 1990er Jahren. Wenn ich richtig sehe, war Gerhard Schröder der erste Spitzenkandidat, zumindest der SPD, der im Wahlkampf den Anspruch erhob, »die Mitte« zu repräsentieren (auch wenn man sie als »neu« ausflaggte). Da er aber Kanzler des dezidiert linken Generationenprojekts Rot-Grün wurde, eignete sich das Label nur bedingt zur Selbstbeschreibung. Erst mit der Agenda 2010, die den Bruch mit dem Gewerkschaftsflügel bedeutete, war seine Kanzlerschaft damit treffend bezeichnet.

Doch niemand hat das Paradigma der Mitte so mustergültig verkörpert wie Angela Merkel. Erst in ihrer Regierungszeit ist die die Mitte zum politischen Leitbegriff und sie selbst zu ihrer Ikone geworden. Mit etwas Verzögerung hat Merkel damit, ähnlich wie zuvor schon Bill Clinton in den USA und Tony Blair in England, die neuen geopolitischen Verhältnisse in politische Kultur übersetzt. Das »unipolare Moment« nach dem Ende des Kalten Krieges, die globale Hegemonie der USA als Supermacht ohne Systemkonkurrenz, ermöglichte innenpolitisch eine »asymmetrische Demobilisierung«. Die Agenda der politischen Gegner wie eine Speisekarte zu lesen, die eigenen Positionen in einer Rhetorik der Vernunft als »alternativlos« zu markieren und die Große Koalition zum Normalfall zu machen: dieser Regierungsstil ist als Zentrismus treffend beschrieben.

Dass sich das funktionale Prinzip der Koalitionsfähigkeit unterschiedlicher Positionen selbst in eine, ja DIE Position des politischen Spektrums verwandelte, hatte jedoch seinen Preis. Gilt die Wahl nicht mehr einer politischen Tendenz, muss der Wahlkampf, erstens, Themen vermeiden, gegen die andere Parteien der Mitte mobilisieren können. Und zweitens wird sie auf eine Personalentscheidung reduziert. Ob dann Merkel oder Scholz oder Habeck Kanzler wird, entscheidet sich letztlich an kontingenten Mehrheitsverhältnissen; einen großen Unterschied macht es nicht. Mit dieser programmatischen Askese wird die Initiative, Mobilisierungsthemen zu setzen, den Rändern überlassen. Die SPD hat sich schon lange in einem 20-Prozent-Ghetto eingerichtet. Aber weil der linke Teil des Spektrums gelernt hat, mit Spaltungen umzugehen, konnte sie in der Rolle der unverzichtbaren Mehrheitsbeschafferin abfinden. Der Wahlsieg von 2021 wurde bereits als erfreuliche Ausnahme betrachtet, strategisch ist die SPD weiterhin auf den Eintritt in Koalitionen unter CDU-Führung eingerichtet. (Die demonstrative Zufriedenheit, die Olaf Scholz als Kanzler auf Abruf derzeit im Wahlkampf zeigt, spricht Bände).

Während der linke Rand im System des Zentrismus ums Überleben kämpfte, hat der populistisch neuformierte Rand auf der Rechten von ihm profitiert. Die AfD ist ein ganz anderes Kaliber als ihr Pendant auf der Linken. Sie ist mittlerweile nicht nur für die Union, sondern für das ganze politische System zu einer echten Gefahr geworden. Während die alte Union den rechten Rand – Vertriebene, Stahlhelmfraktion, Nationalkonservative – integrierte, hat die Merkel-CDU ihn kalkuliert geräumt und damit eine politische Position entstehen lassen, die es laut Franz-Josef Strauß gar nicht geben dürfte. Und weil im Zentrismus »rechts von der Union« gleichbedeutend ist mit »rechts von der Mitte«, betrifft die dauerhafte Präsenz einer in weiten Teilen extremistischen Partei das ganze System.

Mitte als Vakuum

Dass die AfD gezielt auf »rechte« Themen setzt, ist eine strategische Herausforderung für die Union. Der Gefahr, von einem autoritären Rechtspopulismus kannibalisiert zu werden, sind christlich-konservative Parteien in allen westlichen Ländern ausgesetzt – und inzwischen größtenteils erlegen. Mit Blick auf das politische System viel gravierender ist aber ein Vakuum des Zentrismus, das alle Parteien betrifft. Wenn Regierung auf »governance« reduziert wird, also letztlich auf eine Fortsetzung von Verwaltung, dann können die Parteien eine entscheidende Funktion nicht mehr ausfüllen.

Verwaltung kennt Leitbilder, doch keine Ideologie. Gerne als verzichtbares Relikt aus unvernünftigen Zeiten abgetan, ist Ideologie aber tatsächlich sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis der freiheitlichen Ordnung und des demokratischen Wettstreits. Verwaltung muss die Wirklichkeit als gegeben ansehen, weil ihre Verfahren sie sonst nicht in Fälle verwandeln könnten. Ideologie ist Wirklichkeitsbeschreibung, die auch anders ausfallen kann. Wenn aber, wie alle Bundesregierungen seit 2008, eine Wirklichkeit in der Krise verwaltet wird, kann sich Herrschaft nur noch durch ihre Alternativlosigkeit, also letztlich eine Rhetorik des Ausnahmezustands, rechtfertigen.

Man kann die Bedeutung des zentristischen Rückzugs aus der Ideologie kaum überschätzen. Denn während die Mitte – in der Regel unter Führung der Union – Gegebenheiten in der Krise verwaltet, beruht komplementär dazu die Strategie der autoritären Rechten darauf, die eigenen Narrative im ideologischen Vakuum zu platzieren. Wer den Notstand verwaltet, hat sich von der Idee der Gestaltung verabschiedet. Gestalten aber lässt sich nur eine Wirklichkeit, der man zuvor eine Deutung gegeben hat. Wer es nicht tut, dem erscheint die Wirklichkeit immer nur als Normalität, Komplexität oder Krise. Ihre Deutung ist dann anderen überlassen. Und wie übersetzt man, weil offensichtlich nichts mehr normal ist, die Wahrnehmung von Krise in eine Beschreibung? Man spricht von Bedrohung. Und exakt das kennzeichnet unsere Lage.

Die extreme Rechte hatte noch nie ein anderes Narrativ als die Bedrohung. Ihre Gegenstände haben sich an die Umstände angepasst, aber ob es die Sozialisten, die Juden, die Gewerkschaften, die Feinde im Inneren, die Feinde im Äußeren, die fremdvölkischen Minderheiten, die Kriminellen, die Degenerierten, die Erbkranken, die Ausländer, die Zigeuner, die Langhaarigen, die Linken, die Homosexuellen, die Woken, die Gender-Ideologen, die Muslime, die Terroristen oder die importierten Antisemiten sind: ohne eine durch Menschen verkörperte Gefahr gibt es keine Rechte. Nichts daran ist neu. Neu ist, dass die Parteien der Mitte auf das Wuchern der AfD, also die parlamentarische Repräsentation des Bedrohten, nicht mehr mit Gestaltungsnarrativen reagieren können.

Westintegration. Soziale Marktwirtschaft. Frieden in Europa. Mehr Demokratie wagen. Wandel durch Annäherung. Geistig-moralische Wende. Multikulti. Soziale Gerechtigkeit. Zusammenwachsen, was zusammengehört. All diese Slogans waren Aufforderungen, die Wirklichkeit zu gestalten. Gibt es derzeit einen einzigen Nachfolger? Nein. Hat es jemals eine Wirklichkeit gegeben, die dringender nach Deutung gerufen hätte, um gestaltet zu werden? Der Historiker in mir sagt: vermutlich nicht. Es ist zum Haare raufen. Wir könnten uns endlich als Gesellschaft beschreiben, in der nicht nur Migranten, sondern alle eine Herkunft und einen Hintergrund haben. Als eine Gesellschaft im demographischen Wandel, die in einem nie dagewesenen Ausmaß über die Schlüsselressource Zeit verfügt. Als ein ökonomisches Powerhouse im Dornröschenschlaf. Als das ökologische Gewissen des Erdballs. Als einziger Knotenpunkt einer multipolaren Welt. Als ein Kontinent, der mehr ist als eine Wirtschafts- und Verwaltungszone oder ein Superstaat, nämlich ein einzigartiger Kulturraum, der zu seinem Gedeihen endlich auch eine kollektive Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Als Hort des Völkerrechts und Sitz der internationalen Gerichtsbarkeit. Als ein Erinnerungsraum der Aufklärung und des Imperialismus, des antiken Erbes und des ewigen Krieges, der Genozide und der Kunst des Friedens, der Weltgesellschaft und der Weltliteratur, in dem die Menschenwürde nicht nur mit Füßen getreten, sondern auch postuliert wurde.

Was haben wir stattdessen? Einen Kanzlerkandidaten der CDU, dessen Wahlkampf sich auf einen Satz zusammendampfen lässt: »Aber dann sind Magdeburg und Aschaffenburg passiert.« Eine AfD, die plötzlich zur Mehrheitsbeschaffung unverzichtbar geworden ist und darum aus allen Rohren frohlockt: We told you so! Eine SPD, eine FDP und eine grüne Partei, die sagen: Ja, man musste reagieren, aber wir hätten es auch nach der Wahl gemeinsam tun können. Dass Merz den taktischen Schulterschluss mit der AfD suchte, ist das eine. Viel dramatischer aber ist dessen Voraussetzung: nämlich die Alternativlosigkeit einer Sprache, die von der Alternative für Deutschland stammt. Wenn es aber keine Alternative der Sprache mehr gibt, gibt es keine Wahl mehr. Das Problem liegt nicht in den unleugbaren Problemen, die Migration mit sich bringt. Und auch nicht in der Reformbedürftigkeit der Asyl- und Migrationspolitik. Das Problem liegt darin, dass der politische Diskurs über diese Themen gar nicht mehr anders sprechen kann als mit einem Zeigefinger, der auf Migranten zeigt, und einem Arsch, der um Wählerstimmen wirbt. Die AfD hat das ideologische Monopol zur Wirklichkeitsbeschreibung erlangt: In dieser Erkenntnis liegt das analytische Zentrum des Beitrags von Meinel und Steinbeis. Und sie haben leider recht.

Mitte als Dilemma

Nicht folgen würde ich den beiden an zwei anderen Punkten, zumindest nicht vorbehaltlos. Zum einen bei der Beschreibung des corpus delicti. Die Behauptung, Friedrich Merz habe durch die Abstimmungsgemeinschaft mit der AfD »die Mitte zerstört«, verwechselt den Ausbruch einer Krankheit mit ihrer Ursache. Merz ist kein Adenauer und kein Trump, weder strategisch denkender Staatsmann noch disruptives Superarschloch. Er ist ein Getriebener, der auf das strategische Dilemma der Union unter kontingenten Umständen mit Panik reagiert hat. Es stimmt, dass er nach Magdeburg und Aschaffenburg reagieren musste. Aber warum? Weil seine Partei migrationspolitisch längst wie ein Papagei der AfD klingt.

Das sog. Zustrombegrenzungsgesetz stammte in seiner ganzen Dürftigkeit von der CDU/CSU-Fraktion, und es lag im Innenausschuss des Bundestages beschlussfertig bereit. Die Idee war, so simpel wie gemein, die Ampel mit migrationspolitischem Aktionismus unter Druck zu setzen. Dann zerbrach die Ampel, der Wahlkampf begann. Und was hatte da die AfD vor, so simpel wie gemein? Die Union mit migrationspolitischem Aktionismus unter Druck zu setzen, indem sie deren Antrag unter eigenem Namen ins Plenum bringt. Wäre das passiert, hätte die Union in einer Zwickmühle gesessen. Stimmt sie mit den anderen Parteien gegen ihren eigenen Antrag, frisst ihr die AfD das Wählerfleisch vom Knochen. Stimmt sie mit der AfD, drückt die Restmitte sie gegen die Brandmauer. Merz hatte im Grunde nur die Wahl zwischen zwei gleichermaßen riskanten Optionen: Die offensive Flucht nach vorne, die der AfD die Hoheit über das zentrale Wahlkampfthema entreißt; oder die defensive Ankündigung, das Thema erst nach der Wahl als Kanzler anzugehen, die ihn als Kandidat der Mitte in die Nähe der Konkurrenten – und seiner Vorgängerin… – gerückt hätte. Wie auch immer man Merz‘ Entscheidung bewertet: Er traf sie in einer Falle, die ihm die AfD nur stellen konnte, weil seine ideologisch entkernte Partei schon lange deren Fleischtöpfe umschleicht.

Merz hat die Mitte nicht zerstört. Die Mitte hätte um ein Haar ihn zerstört. Man muss die Zwickmühle der Union sehen, um das Elend der Mitte vollständig zu begreifen. Und dieses Elend trägt den Namen Brandmauer. Seit die AfD in den Parlamenten hockt und sich von Wahl zu Wahl fettwuchert, ohne einen Finger zu rühren, ist das von Meinel und Steinbeis so treffend beschriebene System der Mitte dem Untergang geweiht. Und warum? Weil das Monopol zur Beschreibung des einzig relevanten Extrems nun bei der linken Mitte liegt. Die »Brandmauer« war ja auch ein Euphemismus, mit dem man der rechten Mitte etwas schmackhaft machen konnte, für das es bereits einen einschlägigen Namen gab: Antifaschismus. Im Zentrismus hatte die Union kaum eine Wahl. Die einzige Alternative hätte im Bruch mit dem System gelegen. Und jetzt ist nur passiert, was früher oder später sowieso passiert wäre. Denn das Dilemma der Union hätte sich von Wahl zu Wahl verschärft.

Erst damit ist das Elend der Mitte komplett beschrieben. Das ideologische Vakuum ist nämlich durch zwei Surrogate gefüllt worden, deren einziger Inhalt die Bedrohung ist. Mit rechter Tendenz wird die Wirklichkeit als Zustrom messerstechender Antisemiten beschrieben, mit linker Tendenz als Wiederkehr des Faschismus. Die einen haben die Grenze zum politischen Fetisch gemacht, die andern die Brandmauer. Träger der Bedrohung ist dort der Fremde, hier der Nachbar. Über Realität und Gewicht der Gefahren ist damit nichts gesagt. Die Kritik stellt nur fest, dass der politische Diskurs derzeit nicht von konkurrierenden Ideologien, sondern von zwei gegenläufigen, sich wechselseitig verstärkenden Bedrohungsnarrativen bestimmt ist.

In den neuen Bundesländern hat das strategische Dilemma der Union das parlamentarische System bereits an den Rand des Kollaps gebracht. Im Regime der Brandmauer von links und rechts erpressbar, hat sie zähneknirschend die linke Mitte umarmt und ein Lied mitgesungen, das wiederum in den Ohren der Wähler nach Erpressung klang: Wählt das kleinste Übel, und wenn wir an der Macht sind, kümmern wir uns um governance in der Dauerkrise. Da der Weg nach rechts verschlossen ist, bleiben nur Koalitionen mit der linken Mitte. Und wenn es einen Brandbeschleuniger für die AfD gibt, dann sind es Regierungen, die alles sein wollen, nur nicht »rechts« – während sie als Fundamentalopposition ohne Machtchance für nichts und niemanden Verantwortung übernehmen muss. Die ostdeutschen Landesverbände stehen der Parteizentrale schon lange auf den Füßen. Und irgendwann hätte man dort eingesehen, dass die AfD ihr strategisches Ziel, nämlich die CDU durch Kannibalisierung zu zerstören, auf Landesebene bald erreicht hat. Weil die Brandmauer eine bundespolitische, um nicht zu sagen: systemrelevante Entscheidung war, konnte sie nur in Berlin fallen.

Aber auch hier gäbe es die Wahl zwischen zwei schlechten Möglichkeiten: das offizielle Ende der Brandmauer oder ein Verbotsverfahren gegen die AfD. Die Aufkündigung der Mitte würde die taktische Beweglichkeit der Union erhöhen, aber sie von links angreifbar machen. Der Versuch, die Mitte zu retten, würde im Falle des Gelingens ein Legitimationsdefizit und eine Repräsentationslücke erzeugen, im Falle des Scheiterns die extreme Rechte verfassungsrechtlich legitimieren. Dass beide Optionen in der Union ernsthaft erwogen werden, demonstriert im Übrigen das Elend der Mitte besonders drastisch. Unfähig zu einer eigenen Wirklichkeitsbeschreibung, imitiert die Union die Bedrohungsrhetorik einer Partei, vor deren Gefährlichkeit sie selbst warnt.

Nach der Mitte

Was tun? Meinel und Steinbeis stellen, und hier setzt mein zweiter Einwand an, die Parteien links von der Union vor eine Alternative. SPD und Grüne müssten entweder versuchen, die Mitte zu retten, indem sie die Abgrenzung vom Extremismus nach dem  »Tabubruch« neu formulieren: nicht mehr als Brandmauer gegen die AfD, sondern als rote Linie innerhalb der Union. Das Ja zu einer Koalition hinge dann am Nein zu Merz und allen anderen Kanzlerkandidaten, die sich nicht kategorisch von der AfD abgrenzen. Oder aber die beiden Parteien geben die Mitte ebenfalls auf und führen zusammen mit der Linken einen Lagerwahlkampf, bei dem am Ende derjenige Kanzler wird, dem es gelingt, ein linkes Parteienbündnis hinter sich zu vereinen. Nun, das eine ist unrealistisch, weil es die stillschweigende Nötigung zur offenen Erpressung verschärft und damit das Dilemma der Union nur verschiebt. Das andere zwingt die Union zur strategischen Zusammenarbeit mit der AfD.

Ich würde dem drei andere Vorschläge entgegensetzen.

Mittelfristig wird sich die Krise der Mitte nur durch eine Kultur der Minderheitsregierung einhegen lassen. In den ostdeutschen Bundesländern haben wir schon Verhältnisse, in denen Mehrheiten gegen die AfD für die CDU praktisch nur noch um den Preis der Selbstaufgabe möglich sind. Und im Bund könnte es bald auch so weit sein. Nach jetzigen Umfragen wäre selbst eine GroKo nur noch mit einer dünnen Mehrheit ausgestattet. Spätestens 2029 wären Bündnisse im Zeichen der Mitte wohl nur noch zu haben, wenn man die Opposition komplett den beiden Rändern überlässt, von denen einer offen extremistisch ist. Um diese fatale Dynamik aufzuhalten, müssten sich alle Parteien einerseits an die Idee gewöhnen, dass konstruktive Opposition oft nur um den Preis einer Minderheitsregierung zu haben ist, und umgekehrt eine solche Regierung nur dann handlungsfähig, sprich: nicht erpressbar wäre, wenn sie sich für ihre Vorhaben wechselnde Mehrheiten suchen darf. Der Comment könnte lauten: Versucht es erstmal mit uns, und falls wir gar nicht zusammenkommen, werden wir punktuelle Abstimmungen mit der AfD politisch kritisieren, aber nicht mehr als Tabubruch brandmarken.

Langfristig aber sollte man etwas größer denken, und das heißt: mehr Ideologie wagen. Ohne Wirklichkeitsbeschreibungen, die eine veränderte Gesellschaft und neue Problemlagen in Gestaltungsnarrative übersetzen, wird sich Politik in einem elenden Pendelschwung aus Krisenverwaltung und Bedrohungsrhetorik erschöpfen. Wie aber soll das gelingen? Es klingt fast lächerlich klein. Aber für den Anfang lautet der Vorschlag, die einzige Partei zu wählen, die noch über Rudimente einer ideologischen Wirklichkeitsbeschreibung verfügt: die Linke. Machen wir uns nichts vor, man merkt ihrem Parteiprogramm an, dass sie im Bund noch nie regiert hat. Aber anders als die AfD ist die Linke nicht mal im Ansatz extremistisch. Die von ihr bewirtschafteten Themen spiegeln soziale Zustände und Probleme unserer Gesellschaft wider. Dabei ist aus meiner Sicht weniger entscheidend, welche Themen das im Einzelnen sind und wie regierungstauglich das Wahlprogramm erscheint. Entscheidend ist der simple Umstand, dass hier eine linke Partei überhaupt so spricht, dass es nicht – sei es laut à la BSW oder entfernt à la Grüne – wie ein Echo der AfD klingt. Wenn diese Partei bei der Wahl Erfolg hat, während Union und FDP gerade ihre Beinfreiheit zurückgewonnen haben, dann würde das SPD und Grüne unter programmatischen und vielleicht sogar ideologischen Druck setzen. Mit dem Ende der Brandmauer ist nämlich nun die linke Mitte mit einem strategischen Dilemma konfrontiert: auf der einen Seite droht die Union mit der AfD, auf der anderen die Linke mit einer Wirklichkeitsbeschreibung, die mehr will als die Macht – und damit als einzige Partei, die sich gegen das rechte Spaltungsnarrativ von der durch Fremde bedrohten Heimat immun erwiesen hat.

Bliebe noch die kurzfristige Perspektive. Jede Wirklichkeitsbeschreibung ist selektiv. Genau darin liegt ihre politische Energie. Es gibt aber Leerstellen, die auf Wirklichkeitsverweigerung hinauslaufen. Der Pazifismus der Linken war immer schon realitätsfern. Aber seit Donald Trump die Sicherheitsgarantie für Europa aufgekündigt hat, muss man ihn leider als blind bezeichnen. Sich nicht mit den Surrogaten der Bedrohung gemein zu machen, ist ehrenwert. Aber wer mit den guten Gründen für den Krieg auch die Bedingungen für einen echten Frieden ignoriert, ersetzt das Surrogat durch ein Sedativum. Machen wir uns nichts vor: Wenn die EU und Großbritannien es nicht schaffen, jetzt die Ukraine auch ohne die USA weiter zu unterstützen und auf Dauer eine glaubwürdige Abschreckung zu etablieren, wird Russland Europa destabilisieren. Dabei muss man gar nicht über Wahrscheinlichkeiten spekulieren. Bestimmte Dinge passieren allein dadurch, dass sie denkbar sind.

Ich würde zum Abschluss die Alternative, vor die Meinel und Steinbeis die Parteien der linken Mitte gestellt haben, gerne umformulieren in eine Gewissensentscheidung für die Wähler. Es gilt zwei Güter von so großem Gewicht abzuwägen, dass man ohne Dramatisierung von einer Schicksalswahl sprechen kann. Dummerweise verläuft die Abwägungslinie mitten durch die Linke. Was ist uns wichtiger: der innere Friede und die Wiederbelebung unserer politischen Kultur? Dann spricht viel für eine Partei, deren ideologische Restglut eine programmatische Reform der linken Mitte befeuern und so der AfD die Hoheit über den politischen Diskurs entreißen könnte. Oder ist der äußere Friede so gefährdet, dass wir es uns gerade nicht leisten können, einer pazifistischen Partei weiter Aufwind zu verschaffen?

In dieser Lage die Linke zu wählen, würde letztlich auf eine Mischung aus Pragmatismus und Hoffnung hinauslaufen. Die harten Gründe, die für sie sprechen, hat die Partei gerade exklusiv. Das Risiko, dass im nächsten Bundestag AfD, Linke und BSW über eine Sperrminorität verfügen, die verhindern kann, dass mit der Lockerung der Schuldenbremse die nötigen Mittel zur Aufrüstung bereitgestellt werden, hängt dagegen an zwei Bedingungen. Zum einen müsste das BSW in den Bundestag einziehen. Zum anderen müsste das Bundesverfassungsgericht die Verletzung der Schuldenbremse auch in einer sicherheitspolitischen Lage von seltener Dramatik blockieren. Das erste ist eher unwahrscheinlich, das zweite nach menschlichem Ermessen kaum vorstellbar.

Bleibt noch eine Prognose und ein Dank. Sollte die Linke in nicht allzu ferner Zukunft ihr sicherheitspolitisches Godesberg erleben, wären sogar Lagerwahlkämpfe wieder möglich. Und: Die genial böse Analogie mit dem »Ancien Régime« stammt von Florian Meinel.