Was heißt Normalisierung?
„Normalisierung“ ist zu einer Art politischem Schimpfwort avanciert oder gar zu dem, was Reinhart Koselleck asymmetrische Gegenbegriffe nannte: Normalisieren tun immer nur andere, man selbst normalisiert nie. Unvermeidlich ist ein solcher Gebrauch nicht: „Normalisierung“ kann in vielen Kontexten verwandt werden; man denke an die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten. So ist Normalisierung denn, mit Rainer Forst gesprochen, ein normativ abhängiger Begriff: Es kommt auf den Kontext an. Unser Kontext ist aber offensichtlich der vermeintlich unaufhaltsame Aufstieg rechtspopulistischer und zum Teil sogar rechtsextremer politischer Parteien. Lässt sich in diesem Zusammenhang analytisch klar fassen, was mit Normalisierung eigentlich gemeint ist, unter welchen Umständen sie erfolgt, welche politischen Konsequenzen sie langfristig hat – und wie man ihr entgegenwirken kann?[1]
Ich beginne mit dem Versuch einer Unterscheidung: Normalisierung ist nicht gleich „Mainstreaming“.[2] Bei Normalisierung geht es um Normen. Konkret: Es geht um den Bruch der Norm, nicht mit rechtsradikalen (oder gar rechtsextremen) Parteien zu kooperieren. „Mainstream“ – genau wie „Mitte“ – ist hingegen relativ: Hier handelt es sich um Wahrnehmungen politischer Ansichten, die geläufig erscheinen, die am häufigsten vorkommen – eine Art von common sense, den man nicht groß erklären oder gar hinterfragen muss (wobei sich diese Wahrnehmungen mit der Zeit dramatisch ändern können). Mitte suggeriert zudem Äquidistanz zu Inhalten, die nicht häufig (und vielen auch gar nicht geläufig) sind.
„Mainstreaming“ heißt also nicht Kooperation mit Rechtsaußen-Parteien; es geht vielmehr um die Übernahme von Deutungsmustern und -rahmen (was man wohl in Deutschland heute nur noch „Framing“ nennt), die von Rechtsaußen-Akteuren verfochten und verbreitet werden. Man kann also mainstreamen ohne zu normalisieren; eine gefühlte Mitte verschiebt sich nach rechts, ohne dass Rechtsaußen-Parteien ins Amt gelangen oder in politische Bündnisse aufgenommen werden. Allerdings: Normalisierung wird fast immer mit Hilfe von Mainstreaming betrieben.
Wenige Politiker möchten sich wohl eingestehen, opportunistisch zu handeln, und keiner möchte von anderen als Opportunist wahrgenommen werden. Da hilft es, dass für Normalisierungen leicht allerhand Rechtfertigungsnarrative zur Hand sind. Eine Möglichkeit besteht darin zu behaupten, bei De-facto-Kooperation handele es sich gar nicht um Zusammenarbeit. Das war offensichtlich die Taktik von Friedrich Merz. Weil man ja eigentlich die AfD kleinkriegen wolle, könne eine gemeinsame Unterstützung von Anträgen und Gesetzesentwürfen gar nicht Kooperation bedeuten (oder auch: Weil man offiziell gegen Normalisierung ist, kann nichts, was man tut oder sagt, als Normalisierung verstanden werden: Es kann nicht sein, was nicht sein darf). Dies übersieht jedoch, dass es in der parlamentarischen Demokratie häufig eine besondere Mischung aus Zusammenarbeit und Rivalität gibt. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen: In einer Großen Koalition kooperiert man, versucht aber auch, den Stimmenanteil des jetzigen politischen Partners beim nächsten Urnengang zu verringern.
Immerhin wird hier die Norm nicht offiziell in Frage gestellt. Das passiert auch nicht, wenn man eine andere Norm als schlicht wichtiger deklariert. Man denke an die Entwicklungen in Österreich seit den Nationalratswahlen Ende September. Nachdem die ÖVP sowohl im Wahlkampf als auch nach ihrem desaströsen Ergebnis jegliche Zusammenarbeit mit Herbert Kickl ausgeschlossen hatte, entschied sie sich dann doch (unter neuer Führung – das sah dann weniger opportunistisch aus), Verhandlungen mit Kickls FPÖ aufzunehmen (die inzwischen gescheitert sind). Die FPÖ war als Partei schon lange normalisiert – der vermeintliche Machiavellist Wolfgang Schüssel (ÖVP) hatte sie 2000 in eine Koalition aufgenommen, seinerzeit zum Entsetzen vieler Beobachter innerhalb wie auch außerhalb der Alpenrepublik. Schüssel wollte die „Freiheitlichen“ vorführen, sie als inkompetent entlarven und Streit innerhalb der FPÖ säen – wobei all dies zunächst auch gelang.
Doch das Image der Partei erholte sich über die Jahre; sie wurde von Sebastian Kurz umstandslos 2017 wieder zum Koalitionspartner geadelt. Kickl wurde Innenminister; sein Amtsführung – unter anderem gab es eine Durchsuchung des mit Extremismusbekämpfung beauftragten Verfassungsschutzes mittels einer Antidrogeneinheit – war allerdings so skandalös, dass die Volkspartei eine Option Kanzler Kickl kategorisch ausschloss. Doch dann schloss sie sie eben nicht mehr aus, und zwar aufgrund eines übergreifenden Imperativs, das Land regierbar zu machen – eine Art „Not kennt kein Gebot“-Norm.
Man kann die Norm einer Nicht-Kooperation auch weiter akzeptieren, wenn man sie im bestimmten Fall für nicht anwendbar erklärt. Wo Parteien mit Ursprüngen in rechtsextremen oder gar faschistischen Milieus salonfähig wurden, behaupteten Mitte-Rechts-Akteure stets, sie hätten sich grundlegend gewandelt. Die Frage ist natürlich, woran genau man diesen Wandel festmachen will. Sollte man nicht zumindest fragen, ob interne Diskussionen in einer Partei und Außendarstellung vielleicht divergieren? Was, wenn vermeintliche rhetorische Ausrutscher von einer Parteiführung nicht deutlich kritisiert werden? Man denke an Melonis Fratelli d‘Italia, eine Partei, dies es geschafft hat, sich europaweit ein positives Image zu verpassen (nicht zuletzt, weil man sich von dem rhetorischen Raubein Matteo Salvini effektiv abzusetzen wusste). Doch reden führende Fratelli-Politiker weiter ungeniert vom „ethnischen Austausch“ der europäischen Völker; Meloni schmäht George Soros als „Wucherer“ und diffamiert die Linke als per se anti-italienisch.
Schließlich kann man aber auch einfach versuchen, die Norm offiziell als nicht mehr gültig zu deklarieren. Auch hier ist eine Entwicklung in Italien paradigmatisch: 1994 erklärte Silvio Berlusconi seine Absicht, aufs Spielfeld der Politik zu gehen; er benutzte den Ausdruck scendere in campo – das Auflaufen der Spieler auf dem Fußballfeld, was gut zum Besitzer des AS Mailand passte und zu der Strategie von Berlusconis Marketingexperten, die Partei Forza Italia als eine Art Fanclub zu konzipieren (nach dem Motto: Jubel erwünscht, innerparteiliche demokratische Mitbestimmung eher nicht). Berlusconi schmiedete ein Bündnis mit dem Movimento Sociale Italiano (MSI), de facto Nachfolger der Faschistischen Partei, der bisher immer aus der italienischen Politik ausgeschlossen worden war (der MSI benannte sich dann um in Alleanza Nazionale, nur um wiederum in der scheinbar normalen, von Berlusconi geführten Partei Popolo della Libertà aufzugehen; als Berlusconi sich an deren Führung klammerte, gründeten Meloni und andere Ex-missini die Fratelli d’Italia). Berlusconi erklärte stets zu seiner Rechtfertigung, der antifaschistische Konsens sei obsolet (oder auch schon immer ein Instrument – so etwas wie die deutsche „Moralkeule“ – der Kommunisten gewesen, um die Rechte kleinzuhalten). MSI, bzw. Alleanza Nazionale forderten stets im Namen des gesamtgesellschaftlichen Friedens (pacificazione), Diskussionen über die faschistische Vergangenheit doch mal zurückzufahren. Heute ist ein anti-antifaschistischer Diskurs in Italien zweifelsohne salonfähig.
Was begünstigt solche Entwicklungen? Die Vorstellung, eine Gesamtöffentlichkeit würde sich über Normalisierung empören, lebt wohl von einer gewissen Nostalgie für vermeintlich einfachere Zeiten, in denen eine mehr oder weniger einheitliche und vor allem wirkmächtige öffentliche Meinung verlässlich zu identifizieren war. Doch handelte es sich wohl schon immer um Teilöffentlichkeiten, die sich skandalisierungsfähig zeigten. In diesen gab es wiederum tonangebende Eliten, inklusive relativ heterogener Eliten innerhalb großer Volksparteien, bei denen Fehltritte also auch innerparteilich sanktioniert wurden. Ein parteipolitischer Alleinherrscher wie Berlusconi brauchte sich um Gegenstimmen innerhalb der eigenen Bewegung nicht zu sorgen; ähnliches gilt bekanntlich für Trump, der die Grand Old Party in eine Art Persönlichkeitskult verwandelt hat (laut glaubhaften Berichten bekommen republikanische Senatoren, die sich seinem Willen vielleicht wiedersetzen wollen, ernstzunehmende Todesdrohungen; was allerdings ganz sicher Fakt ist: Republikanische Abgeordnete möchten Trumps Geburtstag zu einem Nationalfeiertag machen und sein Konterfei in Mount Rushmore einmeißeln lassen).
Polarisierungsunternehmer sind nicht auf Ansehen in anderen Parteien angewiesen; sie brauchen diese auch während ihres Aufstiegs gar nicht – höchstens als Feindbilder. Die ja nicht immer per se populistische Idee einer „politischen Klasse“ beinhaltet, dass es innerhalb dessen, was auch verächtlich „Establishment“ genannt wird, vielleicht gesamtpolitisch wertvolle Normen gibt – und dass die selbsterklärten Anti-Establishment-Figuren diese nicht nur ignorieren sondern oftmals auch lustvoll zerstören können. Später ist es dann sicher eine besondere Genugtuung für sie (und vor allem ihre Anhänger), wenn Mitte-Rechts-Politiker bei ihnen zu Kreuze kriechen.
Es gibt selbstredend kein Zaubermittel gegen Normalisierung. Aber es ist sicher angeraten, dass politische Eliten nicht nur die Beachtung von Normen einfordern – das kann leicht was von erhobenem Zeigefinger und Parkplatzwächterattitude bekommen –, sondern die Prinzipien, auf denen diese Normen beruhen, immer wieder deutlich herausstreichen oder auch schlicht erklären – so horrend volkspädagogisch das in manchen Ohren klingen mag.
Es ist diesen Eliten nicht verboten, mit Rechtsaußen-Politikern zu reden; nur sollten sie eben nicht wie diese Politiker reden. Es gibt in den Sozialwissenschaften wenig, was man als Gesetzmäßigkeiten bezeichnen könnte. Aber die These, dass Mainstreaming – also Kopieren, nicht notwendigerweise Kooperieren – letztlich den Rechtsaußen-Akteuren am meisten hilft, hat empirisch viel Bestätigung erfahren. Als auch gesichert gilt die Erkenntnis, dass eine einmal erfolgte Normalisierung so gut wie nicht mehr rückgängig zu machen ist – und zwar nicht nur bei den Unterstützern der Partei, die für Normalisierung verantwortlich zeichnet, sondern früher oder später auch bei der Gesamtbevölkerung.[3]
Wenn aber sowohl Normalisierung als auch Mainstreaming aus rein instrumenteller Sicht eigentlich irrational sind (ganz abgesehen also vom Schaden an einer politischen Kultur und von der in Deutschland inzwischen so viel gescholtenen „Moral“), warum erleben wir sie dann doch immer wieder?
Zwei Gründe scheinen mir plausibel: Einer besteht darin, dass sich Rechtsaußen-Akteure sehr erfolgreich als Hüter „kultureller Normalität“ gerieren. Ihr gnadenloser Kulturkampf gegen vermeintlich Abnormales – sei es neue Sprachregelungen oder neue Geschlechterordnungen – kann für Konservative und Christdemokraten inhaltlich aber auch aus wahlstrategischen Gründen attraktiv sein: Kopieren kommt diesen hier weniger wie ein Plagiat vor als vielmehr eine Rückkehr zu eigenen geistig-moralischen Quellen. Und dann nimmt man vielleicht an, dass, wer kulturell „normal“ ist, es eigentlich auch politisch sein muss: Gut bürgerlich kann ja nur gut demokratisch sein.
Ein weiterer möglicher Grund – auch dieser Gedanke ist allerdings eher spekulativ – besteht darin, dass von Kommentatoren und von manchen Sozialwissenschaftlern ja nun seit Jahren behauptet wird, da rolle eine „populistische Welle“ (oder gar, um den britischen Rechtspopulisten Nigel Farage zu zitieren, ein „populistischer Tsunami“). Das Bild der Welle suggeriert natürlich, dass das Ganze etwas Unvermeidliches hat – wer kann sich schon gegen eine Welle stemmen, von einem Tsunami ganz zu schweigen? Empirisch ist dieses Bild falsch[4], es hat aber trotzdem politische Effekte: Wem als Mitte-Rechts-Politiker ständig gesagt wird, der Siegeszug der Populisten sein eine unaufhaltsame Entwicklung, kommt vielleicht irgendwann auf den Gedanken, da müsse man sich anpassen – oder vielleicht auch, dass man bei der verantwortungsethischen Kanalisierung der vermeintlichen Flut eine positive Rolle spielen könne.
Muss man deswegen irgendwann auch mal ein wenig Verständnis für Normalisierer haben? Wohl kaum. Aber man muss verstehen, was hier passiert.
Dieser Text basiert zum Teil auf einem Vortrag, den Jan-Werner Müller am 11. Februar diesen Jahres in der Paulskirche gehalten hat. Anlass war die Vorstellung eines neuen Förderprogramms des Landes Hessen zur Stärkung der Demokratieforschung.
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[1] Siehe auch Vicente Valentim, The Normalization of the Radical Right: A Norms Theory of Political Supply and Demand, Oxford University Press, 2024.
[2] Siehe Cas Mudde und Gabriela Greilinger, „What Mainstream Parties Keep getting Wrong“, Social Europe, verfügbar unter https://www.socialeurope.eu/far-right-wins-in-austria-and-germany-what-mainstream-parties-keep-getting-wrong
[3] Siehe Valentin Daur, „To legitimize or Delegitimize?“, American Political Science Review, verfügbar unter https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/article/legitimize-or-delegitimize-mainstream-party-strategy-toward-former-pariah-parties-and-how-voters-respond/43C9CF2E552DA0AB2B9A6EBDA25BE047
[4] Larry Bartels, Democracy Erodes From the Top: Leaders, Citizens, and the Challenge of Populism in Europe, Princeton University Press, 2023.
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