Reise in die Vergangenheit
Während im Bundestag Politiker aller Parteien in der Aussprache über die Regierungserklärung von Olaf Scholz ihren Beitrag dazu leisten, dass Migration das zentrale Thema des Wahlkampfs wird, halten Beamte der Bundespolizei den Bus 981 an, der vom Słubicer Platz der Helden zum Bahnhof in Frankfurt (Oder) kursiert. Die Linie ist eine Errungenschaft des vereinigten Europas Vor der Erweiterung des Schengenraums um die Republik Polen im Jahr 2007 verlief an der Oder die kontrollierte Außengrenze der Bundesrepublik. Einwohner und Zigaretten-Touristen warteten oft eine halbe Stunde an der Brücke mit dem blauen Bogen. Die Einführung eines grenzüberschreitenden Busses der Frankfurter Städtischen Verkehrsbetriebe scheiterte lange am Protest der polnischen Taxifahrer. Heute verbindet die Linie 981 im Stundentakt die beiden Teile der in Folge des Zweiten Weltkriegs geteilten Stadt, die sich längst als Doppelstadt versteht.
Der Bus 981 wird an einem improvisierten Wachhaus aus der Spur gewunken. Er kommt unter einem halbrunden weißen Zelt zum Stehen. Im vorderen Bereich des Fahrzeugs stehen sechs Studierende der European New School of Digital Studies, eines gemeinsamen Projekts der Adam Mickieiwcz-Universität in Poznan und der Europa-Universität Viadrina, das am polnischen Ufer im Collegium Polonicum angesiedelt ist. Sie wuchsen in Indien sowie Pakistan auf und sind die Zukunft der Viadrina, die im Angesicht dramatisch schwindender Studierendenzahlen froh ist über das globale Interesse am Studiengang „Digital Entrepreneurship.“ Immer wieder geraten Studierende ohne deutschen Pass in das Visier der Kontrollen der Bundespolizei. Offiziell handelt es sich bei der Überprüfung der Ausweisdokumente um stationäre Grenzkontrollen, die eine Ausnahme nach Artikel 23 des Schengen-Abkommens nutzen. Diese müssen zeitlich begrenzt sein. In der Wirklichkeit werden die Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze bereits seit Oktober 2023 durchgeführt. Die Stichprobe an der Oder wirkt wie eine rassistische Rasterfahndung, die davon ausgeht, dass von Menschen mit dunklen Haaren potentiell eine größere Bedrohung für die deutsche Gesellschaft ausgeht, als von Menschen mit hellen Haaren. Das würde erklären, dass just dieser Bus angehalten wurde, während viele andere Fahrzeuge den Posten unkontrolliert passieren.
Vor wenigen Jahren warnte der polnische Premierminister Jarosław Kaczynski vor der Gefahr des irregulären Eindringens von Menschen in das Territorium der Polnischen Republik. Seine biologistischen Warnungen projizierte er auf die Menschen, die versuchen die polnisch-belarusische Grenze ganz im Nordosten des Landes zu überwinden. Heute ist diese Lesart der Gegenwart als Überlebenskampf des Nationalstaats längst Alltag an der westlichen Landesgrenze Polens. Zuerst hatte Markus Söder Kaczynski öffentlich für seine Arbeit an der Grenze im Osten gedankt. Dann gaben sich SPD und Grüne einen innenpolitischen Ruck und setzten ohne Rücksprache mit der polnischen Seite die im Schengen-Abkommen vorgesehene Freizügigkeit einseitig aus. In Słubice macht sich dieser Schritt seither durch lange Autoschlangen quer durch die gesamte Stadt bemerkbar. Sie entstehen, wenn sich an der nahen Autobahn A2, die laut brauner Informationstafel den Titel „Autobahn der Freiheit“ trägt, aufgrund der Verengung auf eine Ausreisespur montags, freitags und sonntags ein langer Stau bildet. Zuvor war es an der Oder längst üblich geworden, dass Kinder aus Słubice auf der deutschen Seite der Doppelstadt zur Schule gehen. Diese neue Normalität sehen die Einwohner durch die Forderung nach der unbegrenzten Verlängerung stationärer Kontrollen in Gefahr.
Auf dem Gleis 11 des Bahnhofs von Frankfurt (Oder) zeigen Beamte der Bundespolizei wenige Minuten vor der historischen Abstimmung im Bundestag, wie Rassismus im 21. Jahrhundert unter einer sozialdemokratisch geführten Minderheitenregierung mit Beteiligung der Grünen funktioniert. Was im Bus 981 noch ein Verdacht war, den selbst die Studenten von der Hand wiesen, wird im Berlin-Warszawa-Express in Richtung der deutschen Hauptstadt zur Gewissheit. Die Uniformierten eilen in Zweiergruppen durch den Zug und bitten allein Menschen um ihren Pass, die sie nach ihrem Äußeren für Nichtdeutsche halten. Reisende, die keine dunklen Haare haben und im selben Abteil sitzen, müssen sich nicht ausweisen. Das Prozedere wiederholen die Beamten sechs Mal im Laufe eines Tages. Heute greifen sie weder im Bus noch im Zug Menschen auf, von denen gerade im Bundestag die Rede war. Gemeint sind Geflüchtete, die nach dem noch immer geltenden Dublin-Abkommen einen Asylantrag in Polen stellen müssten und deshalb an der Landesgrenze zurückgewiesen werden können. Das ist schlecht für die Statistik der Bundespolizei, die die Wirksamkeit stationärer Grenzkontrollen belegen soll. Und es ist schlecht für die Mitreisenden. Der Linienbus verspätet sich außerplanmäßig um 15 Minuten, die Züge aus Warschau haben seit über einem halben Jahr eine reguläre Verspätung von zehn Minuten, die im digitalen Fahrplan bereits vorgemerkt ist.
Nach einer halben Stunde fährt der Zug an der Tesla-Gigafactory in Grünheide vorbei. Durch Elon Musks Investition wurde die Region am Berliner Ring innerhalb weniger Jahre zu einem Zentrum der Globalisierung Ostdeutschlands. Die Ansiedlung verändert in Brandenburg die regionale Konfiguration. Die Deutsche Bahn hat eigens ein Bahnhof verlegt. Es sind bereits neue Waldstücke für eine Erweiterung der Autofabrik gerodet. Die Mietpreise steigen seit der Ansiedlung nicht nur in Erkner und Fürstenwalde, sondern selbst an der Grenze in Frankfurt und Słubice. Von 12.000 Arbeitern kommen mehrere Tausend aus Polen, ein Teil von ihnen pendelt jeden Tag. Im Sommer schlafen Pendler in ihren Autos in den umliegenden Wäldern. Auf dem Werksgelände gibt es die weltweit einzige Filiale der polnischen Nachtladenkette Żabka außerhalb von Polen. Fast die Hälfte der Mitarbeiter kommt aus anderen Ländern, viele von ihnen sprechen kaum Deutsch. An der Oder würden sie in das unausgesprochene Raster der Grenzkontrollen fallen. In den Städten entlang der Zugstrecke sind sie nach der Schicht gut an den grau-schwarzen Tesla-Anzügen zu erkennen. Sie sorgen in den umliegenden brandenburgischen Gemeinden für Steuereinnahmen und ermöglichen mit ihrer Arbeit Elon Musk, Geld mit Autos zu verdienen, deren Absatz deutschen Herstellern das Leben schwer macht. In den USA spielt der Unternehmer mit dem Hitlergruß. Im deutschen Wahlkampf unterstützt er offen die AfD.
Ermuntert vom Triumph Donald Trumps, dessen Vorfahren einst als Einwanderer aus dem deutschen Kaiserreich in die USA kamen, beendete die AfD auf dem Parteipartag in Riesa das Versteckspiel um den Begriff Remigration. Alice Weidel machte deutlich, dass er für Massendeportationen von Nichtdeutschen steht und dass die AfD die nationalradikale Agenda „Make Germany Great Again“ verfolgt. Als der Berlin-Warszawa-Express mit 40 Minuten Verspätung am Berliner Ostbahnhof ankommt, hat die CDU mit den Stimmen von AfD und FDP eine Mehrheit für ihren Entschließungsantrag gewonnen. Ein Gesetzesantrag zur „Zustrombegrenzung“ steht für Freitag auf dem Sitzungsplan des Bundestags. Der Titel verwendet das Bild eines Gefäßes, das voll ist und überquillt. In Brandenburg ist mit bloßen Augen zu sehen, dass die Oder in die Ostsee strömt und Migration die Zukunft der Region ist.
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