Die Spaltung des Westens. Orlando Pattersons Dialektik von Sklaverei und Freiheit

Der alle drei Jahre von der Stadt Stuttgart vergebene Hegel-Preis wurde 2024 an den jamaikanisch-amerikanischen Historiker und Soziologen Orlando Patterson verliehen. Wir veröffentlichen hier die Laudatio, die der Philosoph Christoph Menke auf den Preisträger hielt. Mehr Informationen zum Preis und die Dankrede von Orlando Patterson finden Sie auf der Hegel-Preis-Website

Orlando Patterson hat im Lauf von sechs Jahrzehnten ein Werk hervorgebracht, dessen Vielfalt, Breite, Tiefe, Gelehrsamkeit, Kühnheit und Wirksamkeit einzigartig ist: drei vielgepriesene und vielgelesene, seit ihrem ersten Erscheinen in den 1960er Jahren immer wieder neu aufgelegte Romane; über sechzig Jahre der Lehre in London, Kingston und Boston; vor allem, und im Zentrum seines Werks, eine Serie bedeutender Bücher, die Patterson als den gegenwärtigen Erforscher der Sklaverei erweisen: der Sklaverei in ihrer spezifisch modernen, kapitalistischen Gestalt, also in den beiden (oder drei) Amerikas; der Welt- und Globalgeschichte der Sklaverei, die sich nahezu überall und jederzeit findet, aber je ganz anders und doch in einem immer gleich: als eine Beziehung totaler Macht, als eine Beziehung, in der es um die Lust und die Schrecken der Machtausübung eines Menschen über andere Menschen geht; sowie schließlich des komplexen, widersprüchlichen, auch unser Denken zutiefst verstörenden Fortwirkens der Sklaverei nach ihrer rechtlichen Abschaffung, nach der Emanzipation. Diese Forschungen sind im Inneren, in ihrem Antrieb und in ihren Einsichten, verbunden mit Jahrzehnten der intensiven politischen Tätigkeit, ebenso als Berater und Mitgestalter in Michael Manleys Regierung, die in den 1970er Jahren einen demokratischen Sozialismus (oder eine soziale Demokratie?) in Jamaica zu etablieren versuchte, wie als scharfsichtiger Beobachter und urteilsstarker Kommentator des gegenwärtigen politischen Geschehens in der Karibik wie in den USA.

Durch all dies gibt uns Orlando Patterson unendlich viel zu lernen. Aber mit dem Hegel-Preis ehren wir ihn nicht, nicht nur, für all das, was wir von ihm lernen können, von ihm als Wissenschaftler, als Soziologen und Historiker, politischem Analysten und Aktivisten, sondern dafür, was er uns zu denken gibt. Und das ist es, was Patterson mit Hegel verbindet. Das ist kein Bezug der Texte – auch wenn sich Patterson gelegentlich direkt auf Hegel bezieht. Sondern es ist eine Verbindung in der Sache. Und diese Sache ist ein Problem, ja, ein Paradox – das Paradox der Verbindung von Sklaverei und Freiheit, das Patterson mehrfach und nachdrücklich als die entscheidende Erfahrung beschrieben hat, von der sein Werk ausgeht und zu der es immer wieder zurückkehrt, die Kraft, die sein Denken antreibt und immer weiter treibt; denn auflösen lässt sich dieses Paradox nicht. Es besteht, wie Patterson sagt, in dem zutiefst „beunruhigenden“ Gedanken, dass die Sklaverei und die Freiheit sowohl historisch wie begrifflich „innig und notwendig aufeinander bezogen“ sind. Denn gerade, wenn die Freiheit der Sklaverei auf schärfste entgegengesetzt ist, ist sie dadurch zugleich untrennbar von ihr abhängig. Ohne die Erfahrung der Sklaverei, kein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel). Ist also die Freiheit nur durch die Sklaverei, durch die Sklaverei hindurch, möglich? Und was bedeutet dieses „seltsame und verwirrende Rätsel”, wie Patterson am Ende von Slavery as Social Death (1982) schreibt, für die Idee der Freiheit? „Sollen wir die Sklaverei für das schätzen, was sie angerichtet hat, oder müssen wir unsere Vorstellung der Freiheit und den Wert, den wir ihr beimessen, hinterfragen?“ Ist die Freiheit durch ihr Hervorgehen aus der Erfahrung der Sklaverei unheilbar korrumpiert – nicht zu retten?

Dass sich Patterson wie kaum ein anderer den Abgründen dieser Dialektik stellt, die das Entgegengesetzte aneinanderfesselt, ist der erste Zug, der ihn mit Hegel verbindet. Die wahre Herausforderung durch Pattersons Werk geht aber nicht nur einen, sondern zwei entscheidende Schritte weiter – zwei Schritte, durch die uns Pattersons Denken, wie ich zeigen werde, ins Herz der Hegelschen Philosophie führt und uns eben dadurch den zentralen Gedanken Hegels völlig neu und anders, wie verwandelt, sehen lässt (zwei Schritte überdies, die die meisten der Vielen, die Pattersons Werk bewundern und mit seiner Hilfe die Verheerungen der Sklaverei analysieren und zu verstehen versuchen, wie die Sklaverei auch nach ihrer Abschaffung fortwirkt, nicht nur keinesfalls mitgehen wollen, sondern die sie daher auch mehr oder weniger verschämt zu ignorieren versuchen – obwohl keinerlei Zweifel daran bestehen kann, dass Patterson diese weiteren Schritte für ebenso unabweisbar wie noch viel verstörender als den ersten hält).

Der erste Schritt, in dem Pattersons Denken mit Hegel im Innersten kommuniziert, hat uns zu der Dialektik von Sklaverei und Freiheit geführt – zu der Einheit von Widerspruch und Einheit, der sie trennt und verbindet. Aber wo und wie vollzieht sich diese dialektische Verschlingung? Wer denkt sie? Wie lebt man sie? Pattersons Antwort auf diese Frage ist eindeutig und klar – und gerade dadurch irritierend und herausfordernd. Die Dialektik von Sklaverei und Freiheit ist der Herzschlag desjenigen Geistes, den Patterson, in Übersetzung von Max Weber, den des „Westens“ nennt. Nur hier, so heißt es gleich am Anfang von Pattersons großer Untersuchung zur Geschichte der Freiheit, Freedom in the Making of Western Culture (1991), wurde aus der Erfahrung der Sklaverei die Konsequenz der Freiheit gezogen. Daher, und in genau diesem Sinn, ist die Freiheit nicht nur ein, sondern der westliche Wert – der Wert, durch den sich der Westen definiert. Oder der Wert, der der Westen ist; also wohl kein Wert, sondern die Idee, das Gesetz des Westens: ohne die er nicht ist.

Aber wenn man das erkennt, muss man noch einen Schritt weitergehen. Und wiederum: wie Hegel. Hegel nannte die westliche Welt, die sich im Bewusstsein des Fortschritts der Freiheit bildet, die „germanische“ Welt und meinte damit das Gegenteil. Er meinte: die christliche Welt. Und das denkt und zeigt auch Patterson, aber auf ganz neue Weise. Das Christentum, genauer: Paulus, steht nach Patterson nur deshalb am Anfang und im Zentrum der westlichen Welt, weil – und das heißt zugleich: soweit und also nur sofern – das Christentum nichts anderes ist als die verinnerlichte, die praktizierte Dialektik. Das Christentum ist das Denken der Sklaverei-Freiheits-Dialektik. Das heißt es nach Paulus, zu glauben. Zu glauben heißt paulinisch verstanden, den Prozess zu denken, und ihn dadurch zu leben, in dem die Sklaverei zur Freiheit führt. Der christliche Glaube ist, paulinisch verstanden, die Praxis der Befreiung. Zwar haben auch bereits die Griechen in ihren radikalen Denkern (die Patterson eher in den Tragödien als unter den Philosophen findet) die Geburt der Idee der Freiheit aus der Erfahrung der Versklavung erfasst. Aber dies ins Zentrum ihrer Erfahrung und ihres Wollens gestellt, haben nach Patterson Einsicht erst die durch Paulus Belehrten und Bekehrten – die Christen.

Halten wir einen Moment inne und schauen, wohin wir damit gelangt sind. Ich habe an Pattersons Selbstauskunft, die er wiederholt gegeben hat, erinnert, dass ihn die Jahrzehnte historischer und soziologischer Untersuchung eines, also dreierlei gelehrt haben: dass es ohne Sklaverei keine Entstehung der Freiheit gibt; dass dies die Erfahrung und Praxis des Paulinischen Christentums ist; und dass es nichts anderes als diese dialektische Erfahrung und Praxis sind, die die Tradition der Freiheit im Westen gestiftet haben. Näher kann man Hegels großem Vorhaben, die Welt, ihre Geschichte und ihre Ordnung, in einer dialektischen Philosophie der Freiheit zu begreifen, nicht sein. Aber genau hier, im Moment der größten Nähe, liegt zugleich der Bruch in der Verbindung von Patterson und Hegel. Und damit setzt ein Umbruch ein, in dem wir nicht mehr Patterson mit, durch oder gar aus Hegel verstehen können. Wir würden Pattersons Denken und Werk vielmehr ganz falsch verstehen, wenn wir darin eine bloße Wiederholung des westlichen Selbstverständnisses sähen, das wie keine andere Hegels Philosophie ausgearbeitet hat: des Selbstverständnisses des Westens als der Kultur, die sich nicht, nicht vor allem, durch ihre Rationalität, ihre technische, ökonomische, administrative Effizienz, sondern eben dadurch auszeichnet, dass sie sich wie keine andere der Erfahrung der Sklaverei und Knechtschaft in aller ihrer Brutalität und Grausamkeit ausgesetzt hat, um aus dieser Erfahrung eine einzige Konsequenz zu ziehen: die Konsequenz der Freiheit, dass die Freiheit die Wahrheit des Menschen ist. Es ist aber genau umgekehrt. Es wäre nicht nur ein völliges Missverständnis, es wäre der größte Missbrauch, in Pattersons Werk eine Bestätigung des durch Hegel artikulierten Selbstverständnisses des Westens als der ausgezeichneten Kultur der Freiheit zu sehen. Wir müssen vielmehr umgekehrt Hegel und damit den Westen durch Patterson neu und ganz anders zu deuten lernen.

Dabei geht es darum, was man und wie man von beiden Seiten aus sehen kann: von Stuttgart, Jena, Heidelberg, Berlin, von Hegels Orten aus oder von Kingston, Jamaica, aus, in dessen komplexer, aus heterogenen Elementen gewobener und von antagonistischen Kräften zerrissener Welt die Figuren von Pattersons Romanen leben und zu deren monströser Urszene uns Pattersons erste große Abhandlung zur Gesellschaft der Sklaverei zurückführt (The Sociology of Slavery. An Analysis of the Origins, Development and Structure of Negro Slave Society in Jamaica, 1967): der Versuch der englischen Kolonisten (nach der vollständigen Ausrottung der indigenen Bevölkerung der Insel durch die spanischen zuvor), eine Gesellschaft zu errichten, die ohne jede Ordnung, gesetzlos, rechtlos ist, gegründet in nichts als dem Streben nach Macht und Gewinn, eine Gesellschaft als Nicht-Gesellschaft, als Hobbesscher Naturzustand. Wenn daher Hegel und Patterson von diesen entgegengesetzten Orten und Zeiten aus Paulus lesen, das Christentum als die Erfahrung der Dialektik von Sklaverei und Freiheit begreifen und daraus den Westen als die Kultur der Freiheit begründen, dann sagen und tun sie nicht dasselbe. „Sklaverei“ und „Freiheit“, die „Dialektik“ ihres Widerspruchs, das „Christentum“ als deren Erfahrung und Entfaltung – alle diese Worte haben eine andere Bedeutung, wenn man sie von Berlin oder von Kingston aus versteht. Und daher auch, was es heißt, die Freiheit als den Wert des Westens und den Westen als die Kultur der Freiheit zu denken.

Das betrifft unmittelbar die Verschlingung von Sklaverei und Freiheit. Denn von den Sklavereigesellschaften aus, die der Westen in seinen Kolonien errichtet hat, ist sonnenklar, dass die Freiheit nicht allein deshalb mit der Sklaverei verbunden ist, weil die Geburt der Freiheit aus der – und also durch die – Sklaverei erfolgt ist, sondern dass die Freiheit bereits im Moment ihrer Geburt selbst wieder neue Sklaverei hervorbringt – die Versklavung und Knechtung der anderen, der Unfreien, und in anderer Form. Wie Patterson zeigt, definiert dies, also die Hervorbringung neuer Sklaverei, die Geschichte der Freiheit, seitdem zuerst die Griechen sie zu ihrem Kampf- und Identifikationsbegriff erhoben haben. Und diese Geschichte ist mit der rechtlichen Abschaffung der Sklaverei nicht zum Ende gekommen. Nicht nur gibt es weiterhin Sklaverei. Die Ordnungen der Freiheit, die der Westen ausgebildet hat, haben selbst wieder Sklaverei hervorgebracht; sie beruhen auch dort noch auf ihrer Gewalt, wo sie sie rechtlich abgeschafft haben.

Entscheidend ist aber die Schlussfolgerung, die Patterson aus seiner Doppel-Untersuchung von Sklaverei und Freiheit zieht. Ich verstehe diese Schlussfolgerung so, dass sich die Dialektik von Sklaverei und Freiheit verdoppelt – Freiheit aus Sklaverei und Sklaverei durch Freiheit – und dass sich die Dialektik von Sklaverei und Freiheit durch ihre Verdoppelung nicht auflöst, sondern vertieft und radikalisiert: bis zum Paradox zuspitzt. Dadurch setzt sich Patterson zwischen die Stühle, er widerspricht beiden Seiten: denjenigen, die die Freiheit, weil sie in neue Sklaverei geführt hat, als bloß westliche Erfindung (wie sie sie nennen) aufgeben wollen, und denjenigen, die meinen, der Westen erweise gerade darin wieder einmal seine Überlegenheit, dass er sich diese Einsicht selbstkritisch (wie wir dann gerne sagen) zueignen könne. Pattersons Schlussfolgerung besagt demgegenüber, gegen beide Seiten, dass wir die Hervorbringung der Sklaverei durch die Freiheit und die Geburt der Freiheit aus der Sklaverei zusammendenken müssen. – Wie können wir das? Nur so, dass wir an den Anfang zurückkehren; dass wir die Freiheit noch einmal hervorbringen, aber diesmal aus der Erfahrung der Sklaverei, in die die Freiheit selbst uns beim ersten Mal geführt hat. Es geht also um eine Wiedergeburt, eine neue oder zweite Geburt der Freiheit aus der Erfahrung ihrer eigenen Sklaverei. So wie Patterson in seinem ersten Roman, The Children of Sisyphus (1965), beschrieben hat, wie das Christentum am kolonialen Rand der Herrschaft, die der Westen über die Erde auszudehnen versucht hat, für die Unterdrückten und Ausgebeuteten wieder zu der Praxis der Befreiung werden konnte, die es einmal war.

Man kann daher auch sagen, dass durch und in Pattersons Werk die westliche Idee der Freiheit, die wir dem Christentum verdanken, gerettet wird. Aber die Freiheit zu retten, so erkennen wir durch Pattersons Werk zugleich, muss heißen, sie in sich zu teilen, sie zu spalten, ja, sie zu zerreißen. Oder vielmehr nicht sie zu zerreißen, sondern zu begreifen, dass sie zerrissen ist. Und das ist es, was sich in aller Schärfe nur vom Rande der kolonialen Welt aus sehen lässt, die auf der westlichen Idee der Freiheit errichtet wurde. Oder genauer, was vom Rand dieser Welt aus in ihre Zentren, London, Boston, getragen werden und mit ihren Mitteln gedacht werden muss, so wie Patterson dies getan hat und tut. Wenn der Westen die Kultur der Freiheit ist, dann muss er um der Freiheit willen von seinem Rand in sich geteilt, gegen sich gewendet – zerrissen werden.

In dieser Einsicht, dass die Zerrissenheit der westlichen, christlichen Idee der Freiheit nicht ihr Tod, sondern ihre Wiedergeburt, nicht das Argument gegen, sondern für sie, nicht die Zerstörung, sondern die Rettung der Freiheit bedeutet, liegen vielleicht die größte Nähe und die größte Ferne von Pattersons Werk zu Hegels Denken zugleich. Hegel hat einmal notiert: „Ein geflickter Strumpf besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewusstsein.“ Hegel dachte: Besser ein zerrissenes Selbstbewusstsein als ein geflicktes – das Selbstbewusstsein ist besser, es ist nur wahr, als zerrissenes. Pattersons Denken lehrt, dass nur eine Freiheit, die zerrissen ist, weil sie das Hervorgehen der Freiheit aus der Sklaverei gegen sich selbst, gegen die Sklaverei, die aus ihr hervorgegangen ist, wendet, dass also nur eine sich gegen sich selbst wendende, in sich geteilte und zerrissene Freiheit wahr sein kann. Das ist konsequenter, radikalisierter Hegel. Es ist aber eine Konsequenz, zu der Hegels Philosophie niemals von selbst gelangen konnte. Dazu brauchte und braucht es die Erfahrung der von Hegel in Gedanken gefassten „germanischen“, westlichen, christlichen Welt von ihrem Rand her. Es braucht die Disziplin, das Wissen und den Mut, diese Erfahrung von außen in ihrem Inneren zur Erkenntnis zu bringen. Es brauchte und braucht das Werk von Orlando Patterson.