Syrische Jubelfeiern: Das Leid hinter den Freudentränen
„Der Tyrann ist weg!“ Der überbordende Jubel, der am 8. Dezember unter Syrerinnen und Syrern von Damaskus bis Berlin aufbrandete und sie von den Flüchtlingslagern in Jordanien bis zum Exil in Kanada vereinte, vermag kaum auszudrücken, was in diesen Tagen in ihnen vorgeht. Fast sein ganzes Leben lang habe er sich gefühlt, als umklammerten Hände seinen Hals und drückten ihm die Luft ab, sagte etwa der politische Analyst Yassin al-Haj Saleh, „heute fühle ich mich, als hätte ich zum ersten Mal die Fähigkeit, zu atmen, wiedererlangt.“[1]
Die Jubelschreie spiegeln auch das Ausmaß des Leids wider, das sich hinter all den Freudentränen verbirgt, Tränen, bei denen Freude und Schmerz untrennbar ineinanderfließen. Nicht vergessen sind im Augenblick des Triumphs die vielen, allzu vielen, die das Ende der Asad-Diktatur nicht mehr erleben konnten. Nicht vergessen sind die ermordeten Angehörigen und verschwundenen Freunde, die zerstörten Häuser, Dörfer, Städte und Hoffnungen. Nicht vergessen sind die physischen und psychischen Verwüstungen, die das Regime Jahrzehnte lang über die Menschen gebracht hat. Mit den nüchternen Zahlen – eine halbe Million Tote, sieben Millionen Binnenflüchtlinge und sechs Millionen Flüchtlinge im Ausland – lässt sich das Tag für Tag, Jahr für Jahr angesammelte Leid nicht einmal annäherungsweise erfassen. Denn zu einem Ende gekommen sind nicht nur die 13 Jahre Krieg eines Regimes gegen das eigene Volk, sondern Jahrzehnte von Unrecht, Demütigung und sinnloser Quälerei.
61 Jahre lang regierte die Baath-Partei in organisierter Gesetzlosigkeit. Unter dem 1963 verhängten Ausnahmezustand waren Willkür, Schikane und Folter an der Tagesordnung. 54 Jahre davon verantwortete die Clique von Asad Vater und Sohn. Letzterer hob den Ausnahmezustand zynischerweise 2011 offiziell auf, als er den friedlichen Aufstand mit zunehmender Rücksichtslosigkeit niederschlagen ließ und damit eine Brutalisierung des Konflikts, der als friedlicher Protest begonnen hatte, in Gang setzte. Von der rohen Gewalt des Regimes ist kaum eine Familie verschont geblieben, vor allem diejenigen nicht, die sich seit langem gegen Unterdrückung einsetzten und dafür vom Regime abgestraft wurden – seit der zunehmenden Repression in den Jahren 1979/80 oder seit dem „Damaszener Frühling“ in den Jahren 2000/2001, oder seit 2005, dem Jahr der „Damaszener Erklärung für demokratischen Wandel“.
Einen Tag nach der Flucht Asads jährte sich zufällig zum elften Mal das Verschwinden der Menschenrechtsaktivistin Razan Zaitouneh, der es nie in den Sinn gekommen wäre, ihr Land zu verlassen, obwohl sie von ihren Freunden, die in Sorge um ihr Leben waren, inständig darum gebeten wurde. Sie gehörte schon vor 2011 zu einer Gruppe von Anwälten, die Dissidentinnen und Dissidenten pro bono vor Gericht vertraten, obwohl das angesichts des Ausnahmerechts wenig Aussicht auf Erfolg hatte. 2005 gründete sie das erste öffentliche Dokumentationszentrum für Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Schon 2002 hatte das Regime sie mit einem Reiseverbot ins Ausland belegt. Einmal brachte ich ihr aus Beirut eine in Syrien verbotene Dokumentation mit – über Libanesen, die in syrischen Gefängnissen verschwunden waren, wofür sie sich interessierte. Sie bedankte sich freudig, brach beim Blick auf das Cover aber direkt in Tränen aus. Mir erschien es damals ein Rätsel, wie sie, die sie sich ständig mit Menschenrechtsverletzungen beschäftigte, so nah am Wasser gebaut sein konnte. Heute weiß ich, dass sie in einem unmenschlichen System um Menschlichkeit kämpfte und sich die ihre bewahrt hatte.
Als der Aufstand ausbrach, dokumentierte sie die Untaten des Regimes ebenso unermüdlich wie diejenigen seiner islamistischen Gegner. Dafür erhielt sie 2011 den Anna-Politkowskaya-Preis für Frauen, die sich in Konfliktsituationen für die Opfer einsetzen, auch wenn sie dabei selbst in Gefahr geraten; das Europa-Parlament zeichnete sie im selben Jahr zusammen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten des arabischen Frühlings mit dem Sakharov-Preis für Menschenrechte aus. Sie zog in den vom Regime befreiten Damaszener Vorort Douma, der vom Regime alsbald vollkommen von der Außenwelt abschnitten wurde, wodurch keine Nahrungsmittel mehr ankamen. Ihre Mitstreiterin Samira Khalil beschrieb ihre gewiss nicht gemütliche Haftzeit im Gefängnis von Douma als geradezu „lachhaft“[2] im Vergleich zum Leben unter Blockade und Bombardement am selben Ort. Razan notierte in ihrem letzten Blogeintrag: „Der Weg ist lang und voller Hindernisse und Minen. Nur das Glück wählt die Stelle aus, auf die man seinen Fuß setzt und sicher zum nächsten Fleck gelangt.“[3] Mit Samira Khalil, Nazem Hamadi und ihrem Ehemann Wa’el Hamada wurde sie danach von einer islamistischen Gruppe, Jaysh al-Islam („Die Armee des Islams“), entführt und wohl getötet. Ihre Schwester Rana, die heute in Kanada lebt, sagt über sie: „Razan hat so viel für so viele Leute getan und doch stets gedacht, dass es nie genug war.“[4]
Yasin al-Haj Saleh, Samiras Ehemann, ist kurz nach dem Sturz Asads im Interview mit Democracy Now! wie immer um eine sachliche politische Analyse bemüht, kommt aber merklich ins Stocken, als er auf seine Frau angesprochen wird. Er hoffe auf ihre Befreiung oder wenigstens die Aufklärung ihres Schicksals. Die Schuldigen seien inzwischen namentlich bekannt, sie müssten zur Rechenschaft gezogen werden, fordert er. In Zukunft komme es auf Rechtsstaatlichkeit an, der Asadismus müsse auch in dieser Hinsicht ein Ende haben.
Al-Haj Saleh selbst war noch unter Asad Vater 16 Jahre lang inhaftiert, von 1980 bis 1996, darunter auch einige Monate im berüchtigten Foltergefängnis Palmyra, dem Vorgänger des so genannten „Schlachthauses“ Sednaya unter Asad Sohn. Heute lebt er in Berlin und versucht mit mal mehr, mal weniger Erfolg, den Deutschen und den europäischen Linken Syrien zu erklären. In einem sechs Jahre alten Artikel berichtete er etwas entgeistert davon, dass ihn ein ehemaliger Bundestagesabgeordneter fragte, ob er denn garantieren könne, dass es nach einem Sturz Asads in Syrien besser werde. [5] Natürlich könne das niemand garantieren, schrieb er damals, aber allein die Art der Fragestellung lege nahe, dass sie eine zulässige sei und Asad vielleicht gute Gründe habe, Fassbomben und Giftgas auf die Bevölkerung niederregnen zu lassen, so, als käme es nicht so sehr auf die Menschenwürde der Araber an. Dasselbe Gefühl überkomme ihn auch bei der Bemerkung Hillary Clintons in deren Memoiren, sie habe die „Sicherheitsarchitektur“ Asads im Kampf gegen Terror geschätzt. Trotz der Giftgas-Angriffe des Regimes habe die Verständigung zwischen den USA und Russland die Herrschaft Asads nach 2013 verlängert; denn die USA beschränkten sich auf die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS), und die Russen halfen 2015 bei der Rückeroberung Aleppos.
Spätestens zu jenem Zeitpunkt fühlte sich die syrische Demokratiebewegung von der internationalen Gemeinschaft völlig im Stich gelassen; besonders jene, die auf eine westliche Intervention zu ihren Gunsten gehofft hatten, waren zunehmend verzweifelt. Viele gingen ins Exil, andere schlossen sich bewaffneten Gruppen an, die meisten versuchten einfach, zu überleben. Die Schauspielerin Fadwa Soliman und der Fußballer Abdul Baset al-Sarout zum Beispiel waren anfänglich die Gesichter des friedlichen Protests in Homs. Sie floh 2012, da ihr der Geheimdienst zunehmend auf die Pelle rückte und Verwandte, Freunde und Nachbarn misshandelte, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden; sie starb 2017 in Paris. Er schloss sich, nachdem der Geheimdienst seine vier Brüder getötet hatte, militanten Gruppen an und fiel 2019 im Kampf für Hayat Tahrir al-Sham, dieGruppe, die in den vergangenen Tagen den Sturz des Regimes herbeiführte.
Vor sechs Jahren verließ sogar der eigentlich unverwüstliche Riad at-Turk im Alter von 88 Jahren das Land. Er starb Anfang des Jahres in Paris, ohne den Fall des Regimes noch erleben zu dürfen. Als Abtrünniger der Kommunistischen Partei forderte er mit seinen Mitstreitern schon 1979 Demokratie und verbrachte dann 18 Jahre im Gefängnis, davon die meiste Zeit in Einzelhaft und ohne Kontakt zu seiner Familie. Als im Jahr 2000 Asad Vater starb, verkündete er im Interview mit dem qatarischen Satellitensender al-Jazeera freudig „Der Diktator ist tot“, wofür er erneut für 15 Monate ins Gefängnis wanderte. Er ließ sich dennoch nicht einschüchtern und engagierte sich weiter für demokratischen Wandel. Als ich ihn in den 2000er Jahren in Homs besuchte, war er sicher, abgehört zu werden und ständig von einem Geheimdienstler verfolgt zu werden, was er mit gelassener Ironie ertrug: „Die kapieren eh nicht, wovon wir reden.“
At-Turk gehörte zur alten Garde der Dissidenten, die ein breites Bündnis unter Einschluss der Muslimbrüder gegen Asad Vater schmiedeten, gegen die harte Hand des Diktators aber nicht ankamen. Auslöser für die Formierung eines breiten Oppositionsbündnisses war das Massaker von 1982 in Hama nach einem Aufstand der Muslimbrüder, bei dem zwischen 10 000 und 40 000 Menschen ermordet wurden, viele, indem sie ohne Ansehen der Person einfach an die Wand gestellt wurden. Zu dem Bündnis zählte auch der ehemalige syrische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Hammoud al-Shoufi, der schon 1979 sein Amt wegen der zunehmenden Repression des Regimes öffentlich niederlegte und danach als Hochverräter und persönlicher Feind Asads des Vaters nie mehr zurückkehren konnte. Er verstarb im April 2011 in den USA, als der „Wind des Wandels“, den er zu entfachen versucht hatte, endlich Syrien erreicht habe, so hieß es auf einer Trauerrede für ihn in Salkhad, im Süden Syriens.
Besonders im „Damaszener Frühling“ des Jahres 2000, beim Übergang der Herrschaft von Asad Vater auf den Sohn, hofften viele Syrerinnen und Syrer auf politisches Tauwetter. Ein Jahr lang trafen sich politisch Interessierte in privaten Diskussionszirkeln, etwa im Forum von Suhair al-Atassi, die nach 2011 eine wichtige Rolle in der Auslandsopposition einnahm, oder beim Geschäftsmann und Parlamentsabgeordneten Riad Seif, der die Korruption des Regimes anprangerte. Im „Aufruf der 99“ und im „Aufruf der 1000“ forderten Intellektuelle, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle einen demokratischen Übergang, ehe Asad Sohn sich öffentlich fragte, ob die Intellektuellen „wirklich so gebildet sind“, und im September 2001 seine Hunde von der Kette ließ. Seif wurde mit anderen zusammen verhaftet, sein Geschäft in den Bankrott getrieben. Dennoch ließ sich ein erweiterter Kreis von Oppositionellen nicht davon abhalten, 2005 die „Damaszener Erklärung“ zu veröffentlichen und darin den totalitären Charakter des Regimes und seine Vetternwirtschaft zu verurteilen. 2007 trat ein Nationaler Rat der „Damaszener Erklärung“ zusammen, zu dessen Präsidentin die Ärztin Fida Haurani gewählt wurde. Wieder reagierte das Regime unerbittlich. Haurani wurde massiv misshandelt, ihr palästinensischer Ehemann an der Grenze zu Jordanien in Handschellen ausgesetzt. Im Zuge des Aufstands 2011 soll die Armee dann ihre Klinik in Hama gezielt angegriffen und die Stromversorgung unterbrochen haben, so dass Patienten starben.[6] Auch ihr blieb letztlich nicht viel anderes übrig, als das Land zu verlassen; sie teilte damit das Schicksal ihres Vaters, der schon in den 1960er Jahren als Asad-Gegner verhaftet und abgeschoben worden war. Auch Riad Seif ging nach fortgesetzten Drohungen gegen ihn und einem körperlichen Angriff ins Exil nach Berlin. Auch seine Tochter, die Anwältin Joumana Seif, packte nach Todesdrohungen ihre sieben Sachen und rief 2013 in Berlin ein feministisches Netzwerk für syrische Frauen ins Leben. Sie engagiert sich am Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, der vom Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck gegründeten unabhängigen Menschenrechtsorganisation, besonders gegen sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt.
Verhaftung bedeutete im Syrien der Asads zugleich Folter und oftmals auch den Tod. Das Folter- und Spitzelsystem der Baath-Partei wurde seit den 1960er Jahren mit Hilfe des DDR-Staatssicherheitsdienstes aufgebaut.[7] Unter Asad Vater und Sohn spitzelten die Geheimdienste alles und jeden aus, auch sich gegenseitig. Denn in Syrien existierten vier Dienste: der Allgemeine Geheimdienst, die Politische Sicherheit, der Luftwaffengeheimdienst und der Militärgeheimdienst mit jeweils eigenen Hafteinrichtungen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Angst und Misstrauen in der Bevölkerung zu säen, gerade auch in den Reihen der Opposition. Man konnte nie sicher sein, ob ein lautstarker Kritiker nicht doch ein Spitzel war, der andere zu unvorsichtigen Äußerungen provozierte und damit ans Messer lieferte.
Die Folter sollte den Opfern das Gefühl völligen Ausgeliefertseins vermitteln und zielte, besonders seit 2011, auf die Zerstörung der Gefangenen ab, ganz gleich, ob sie irgendetwas gestanden oder nicht. Razan Zaitouneh protokollierte 2013 die Aussagen von fünf Frauen, die aus der Haft fliehen konnten. Demnach begrüßte sie ihr Folterknecht mit den Worten: „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Azrael, der Todesengel, ach was, ich bin Gott und führe euch ins Reich der Wahrheit. Und da ich Gott bin, werde ich euch das Leben noch ein paar Tage verlängern.“[8] Yassin al-Haj Salih beschrieb einmal, wie die Häftlinge in ihren völlig überfüllten Zellen diskutierten, ob sie lieber weniger gefoltert und dafür länger eingesperrt oder lieber stärker gefoltert und dafür schneller freikommen wollten. Womit aber alle nicht gerechnet hätten, sei gewesen, dass das Regime sie tatsächlich viel länger wegsperrte und malträtierte, als sie in ihren schlimmsten Träumen befürchtet hatten.[9] Ein besonders infames Folterinstrument trug den Namen „deutscher Stuhl“, bei dem den Häftlingen der Rücken überdehnt und oftmals auch das Rückgrat gebrochen wurde. Unklar ist, ob der Name ein Erbe der DDR ist oder sogar noch auf Nazi-Schergen zurückgeht, die nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht in Syrien fanden.[10]
Einem Militärfotografen unter dem Decknamen Caesar gelang es, Tausende Fotos ausgemergelter und geschundener Leichen von Gefangenen aus den ersten beiden Jahren des Aufstandes außer Landes zu schmuggeln. Sie dienten als Beweismittel beim weltweit ersten Prozess zur Staatsfolter in Syrien am Oberlandesgericht Koblenz gegen zwei Folterknechte des Regimes, der zwei Jahre dauerte und 2022 mit Verurteilungen endete. Riad Seif sagte hierbei als Zeuge aus, der Anwalt Anwar al-Bunni, heute ebenfalls ein Berliner, begleitete den Prozess unterstützend. Es gehe nicht darum, zwei Rädchen einer Höllenmaschine zu verurteilen, erklärte al-Bunni seinerzeit, sondern darum, die Existenz und Höllenhaftigkeit der Maschine hieb- und stichfest zu belegen.[11]
Al-Bunni hatte in Syrien Dissidenten verteidigt, unter anderem at-Turk, Seif und den renommierten Ökonomen Aref Dalila, der wegen eines bloßen Vortrags im „Damaszener Frühling“ sieben Jahre weggesperrt wurde und in Haft an Diabetes erkrankte und einen Schlaganfall erlitt. Als al-Bunni als Beweisstück für die Folterung Dalilas ein blutiges Taschenbuch präsentierte, wurde er von seiner Verteidiger-Tätigkeit am Obersten Staatssicherheitsgericht entbunden. Nachdem er 2005 die „Damaszener Erklärung“ unterschrieben hatte, kam er selbst mehrere Jahre ins Gefängnis. Noch schlimmer erging es seinem Bruder Akram, der über 20 Jahre seines Lebens in syrischen Haftanstalten verbrachte. Die Schwester der beiden, die selbst auch inhaftiert wurde, heiratete den Schriftsteller Mustafa Khalifa, der 2008 mit Das Schneckenhaus ein bedrückendes Stück Gefängnisliteratur vorlegte.[12] Darin versucht ein Atheist christlicher Herkunft den tumben Wärtern verständlich zu machen, dass er fälschlich zusammen mit Muslimbrüdern verhaftet wurde, erlebt dann aber die Solidarität unter den Islamisten, die am grausamsten von allen Insassen behandelt wurden.
Als sich am 8. Dezember die Tore des Gefängnisses von Sednaya öffneten, wurde die Weltöffentlichkeit des Schreckens der Herrschaft der Asads eindringlich gewahr. Manche Gefangene waren so desorientiert, dass sie nicht einmal mehr ihre Namen wussten, andere so eng zusammengepfercht und abgemagert, dass sie kaum mehr laufen konnten. Einige inhaftierte Frauen bekamen aufgrund der systematischen Vergewaltigung Kinder im Gefängnis. Von den mehr als 200 gefangenen Kindern sollen manche noch nie Tageslicht gesehen haben. Schon der langjährige Oppositionspolitiker Michel Kilo, 2021 in Paris verstorben, erzählte häufig, wie sehr ihn das Erlebnis verfolgt habe, dass er einmal im Gefängnis heimlich zu einem fünfjährigen Kind mit seiner Mutter gerufen wurde, um ihm eine Geschichte zu erzählen, dabei aber feststellen musste, dass das Kind nicht wusste, was der Himmel und was ein Vogel war.[13]
Der Kampf gegen die Höllenmaschinerie der Asads hat einen Großteil der Syrerinnen und Syrer Jahrzehnte lang über religiöse, ethnische und ideologische Grenzen hinweg vereint. Sie haben dafür als Einzelne und als Volk einen hohen Preis bezahlen müssen und Ungewissheit, Verzweiflung, unsagbares Leid und unwiederbringliche Verluste erduldet. „Wenn wir nicht glauben würden, dass wir gewinnen werden, könnten wir unter all dieser Gewalt des Regimes nicht weitermachen. Wir könnten alle diese Verbrechen gegen unser Volk nicht ertragen“, schrieb Razan Zaytouneh kurz nach Beginn der Aufstände 2011, als das Abschlachten gerade erst begonnen hatte. Und unerschütterlich fügte sie hinzu: „Ich bin mir sicher, dass jeder einzelne Syrer glaubt, dass die Revolution am Ende siegen wird.“ Wäre es ihr – und all den unzähligen anderen – nur vergönnt gewesen, den 8. Dezember mitzufeiern.
Manfred Sing ist Islamwissenschaftler am Institut für Europäische Geschichte in Mainz und Privatdozent an der Universität Basel. Er forschte mehrere Jahre lang zur syrischen Opposition.
[1] Democracy Now!: „Assad Is Gone“: Writer Yassin al-Haj Saleh on Syria, His 16 Years in Prison & Wife‘s Disappearance, https://www.youtube.com/watch?v=1ZwQiUVBaAw&t=998s.
[2] Yassin al-Haj Saleh: „Politische Folterbeziehungen: Folter und die Produktionsweise der Macht in Syrien unter Assad“, in: Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker (Hrsg.), Syrische Staatsfolter vor Gericht, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 70–94, hier: 84.
[3] Siehe die Webseite „Razan Zaitouneh: The Unfinished Work“, https://razanwzaitouneh.wordpress.com.
[4] International Service for Human Rights: „Reveal the Whereabout of Razan, Samira, Nazem, and Wa’el“ (11.12.2018), https://ishr.ch/latest-updates/syria-reveal-whereabouts-razan-samira-nazem-and-wael/.
[5] Yassin al-Haj Saleh: „Deutsche mögen Lösungen. Debatte Syriens Zukunft und Opposition“ (8.11.2017), https://taz.de/Debatte-Syriens-Zukunft-und-Opposition/!5457830&s=yassin%2Bal%2Bhaj/.
[6] Joumana Seif: „Der Damaszener Frühling und wie das syrische Regime die Geschichte fälscht“, in: Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker (Hrsg.), Syrische Staatsfolter vor Gericht, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 121–132, hier: S. 130f.
[7] Siehe das Interview von Jannis Hagmann mit Noura Chalati (28.6.2022), im Leibniz-Magazin, https://www.leibniz-magazin.de/alle-artikel/magazindetail/newsdetails/der-austausch-ging-nicht-nur-in-eine-richtung
[8] Yassin al-Haj Saleh: „Politische Folterbeziehungen: Folter und die Produktionsweise der Macht in Syrien unter Assad“, S. 78.
[9] Ebenda, S. 84f.
[10] Siehe „Der deutsche Stuhl. Eine Live Performance mit ehemaligen Folteropfern in syrischen Gefängnissen“ (2013), https://archiv.zmo.de/veranstaltungen/2013/PRESSE%20ERKLAERUNG_der%20deutsche%20Stuhl.pdf.
[11] Hannah El-Hitami: „‚Zwei Rädchen in einer Höllenmaschinerie‘. Eindrücke aus dem Koblenzer Gerichtssaal“, in: Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker (Hrsg.), Syrische Staatsfolter vor Gericht, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 55–67, hier: S. 56.
[12] Mustafa Khalifa: Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs. Übersetzt von Larissa Bender, Bonn 2019.
[13] Firas Kontar: „Syria: How can you tell a story to a child who doesn’t know what the sky and birds are?“, Le Monde (12.12.2024), https://www.lemonde.fr/en/opinion/article/2024/12/12/syria-how-can-you-tell-a-story-to-a-child-who-doesn-t-know-what-the-sky-and-the-birds-are_6735970_23.html.
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