TROST und ANTI-TROST

„The word ‚fact‘ stems from the Latin factum (thing done), and modern usage of ‚fact‘ is linked to double-entry bookkeeping practices in early mercantile capitalism. ‚Truth‘ is etymologically linked to ‚trust‘, and ‚authenticity‘, which shares roots with ‚authoritarian‘ and with ‚author‘, is historically linked to dramatic self-creation and rhetoric. Tellingly, the 2016 U.S. presidental election was described both as ‚the authenticity election‘ and as normalizing ‚fake news‘. The more politicians lied, the more ‚authentic‘ they appeared.“ (Wendy Hui Kyong Chun: Discriminating Data, Cambridge, 2021. Seite 32

Das eine kann nicht das andere sein. Eine Rhetorik wie ein Tintenfisch auf der Flucht. Jetzt braucht es schon eine gewisse Wut, um auf definitorischer Klarheit bestehen zu können. Es muss mehr, wie soll ich sagen, Wahrheitsenergie hineingegeben werden, burning bright. Die aufeinander bezogenen Begriffe stehen wie am Abhang. Abwägung scheint hier gar nicht mehr zu helfen, angesichts eines performativen Gebrauchs von Sprache, von Sprache als Deko. Um etwas ganz anderes zu kommunizieren. Andere Probleme bringt das Verständnis und Nutzen von Sprache als Datenmenge mit sich, durchsuchbar, mit dem Ziel, einzelne Begriffe und Kontexte zu bannen. The banned book. Ich werde dich bannen, wie ein Buch. Ich werden dich buchen, wie einen Bann. 

Wendy Hui Kyong Chun war die erste, bei der ich 2022 in dieser expliziten Deutlichkeit von den neuen Formen und Absichten algorithmischer Eugenik las, was sich, auch wenn es mich damals zunächst etwas irritiert hatte, als sehr hellsichtig und absolut realistisch herausgestellt hat, betrachtet man die Kürzungen im sozial-medizinischen Bereich, die Gesundheitspolitik, die offenen Anti-Impf-Diskurse (Kabeljau-Öl gegen Masern!) seit der Trump-Wahl 2025 in den USA. Natürliche Auslese. What about the cost savings of this group not existing? I’m just asking questions! Just asking. Und immer so weiter. Der Abhang ist schon jetzt ein bisschen steiler. Die Diskurse geraten ins Rutschen, ja scheinen einander mitzureißen. Hierzu sehr interessant: Die Episode 16 des sowieso sehr empfehlenswerten Podcasts In Bed With The Right, von Moira Donegan und Adrian Daub, in der die Philosophin Kate Manne über Anti-Fatness und höchst manipulative Formen von Statistik spricht.

Der Weg geht weit zurück. Zur Hollerith-Maschine, die auf der Grundlage der Lochkarten-Technik 1890 in den USA die elfte Volkszählung enorm vereinfachte und das gigantische Feld der Massenbeobachtung und medizinischen Erfassung eröffnete. Eine Control Revolution. Hermann Hollerith „gründete 1896 ein eigenes Unternehmen, das er 1911 an die Computing-Recording-Company (CTR) verkaufte, 1924 in International Business Machines (IBM) umbenannt.“ (Götz Aly, Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt 2005.) Mit frühen Anwendungen in der Versicherungsbranche, der Lohnabrechnung und dem Fürsorgewesen. Andere Verwendungen, wie die „Absonderung der Abnormalen“ (1913), kamen bald hinzu. Und wir wissen wie es in Deutschland weiterging. „Den luftigen Theorien der Eugenik und dem medizinbiologischen Konstrukt der Rassen wird ein Technik der datengestützten Beweisproduktion an die Seite gestellt.“ (Luise Meyer, im Kapitel: Nur wer gezählt ist, zählt, in: MRX-Maschine. Berlin 2018.)

Verfolgt man die Technikgeschichte der Computerisierung, zeigt sich eine systemische Verbindung zur gegenwärtigen Auswertung von enormen Datenmengen. Die fortgesetzte, immer gründlicher sich ausdifferenzierende digitale Ansteuerung hat sich unaufhaltsam in Gang gesetzt und ich warte darauf, dass das System sich endlich selbst an die Wand fährt, aber soweit ich das sehe, funktioniert es irgendwie weiter. Wobei ich nicht genau weiß, was funktionieren hier genau bedeuten soll, außer, dass die Auswirkungen wahrscheinlich noch nicht überall angekommen sind. Einstweilen versucht die Trump-Administration in die Europäische Gesetzgebung einzugreifen, die bislang auch für US-amerikanische Unternehmen bindend ist. Foreign Censorship Laws! February 26, 2025: Press Release. WASHINGTON, D.C. – Yesterday, House Judiciary Committee Chairman Jim Jordan (R-OH) sent subpoenas to Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Rumble, TikTok, and X Corp. seeking each company’s communications with foreign governments regarding its compliance with foreign censorship laws, regulations, judicial orders, or other government-initiated efforts. Chairman Jordan Subpoenas Big Tech for Information on Foreign Censorship of American Speech. Was passiert als nächstes? 

Flugzeuge werden vom Himmel fallen! Sie fallen ja jetzt schon. Systemic collapse in the US. Der reichste Mann der Welt entlässt Staatsbeamte, Entwicklungshelfer*, Finanzbeamte, Mitarbeiter:innen der Flugsicherheit und des Verbraucherschutzes. Er entlässt Förster und Landschaftspfleger, Sozialarbeiter, Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen und Epidemiker. „US Consumer Financial Protection Bureau (CFBW) suspended.“ Und verspricht an deren Stelle (oder eher: droht damit), einen kosten-günstigen KI-Chatbot für alle staatlichen Verwaltungsangelegenheiten einzusetzen. So! Mit dem Fleiß eines idealtypischen Ameisenstaates wird diese künstliche Intelligenz nun den ganzen Wald aufräumen. Helau am Aschermittwoch. 6. Februar 2025: Präsentation von President Donald Trump’s AI-first agenda: „Elon Musk’s Department of Government Efficiency (DOGE) is pushing to rapidly develop GSAi, a costum generative AI-Chatbot for the US General Services Administration.“ Elon Musk’s DOGE Is Working on a Custom Chatbot Called GSAi, by Paresh Dave, Zoë Schiffer, and Makena Kelly.

8. Februar 2025: Ich habe ein Wired-Online-Abo abgeschlossen und überlege, ob ich das Atlantic-Abo aufgebe, einstweilen behalte ich beide. „Wired, unlike boomers/Xers on television news, actually understands the dire fucking implications of unelected hackers with no security clearance illegally hooking up their own servers to copy, chanve & crash vital government networks.“ Madam Airlock – @madamairlock.bsky.social‬,  Nach einem Monat, in dem man nichts weiter davon gehört hat, kommt einem das nachgerade beruhigt und stabilisiert vor, was allerdings doch eher eine Fehlannahme ist. Der Boden unter den Füßen! Die Idee, die Gesellschaft ließe sich auf solche Weise verbessern, ist in den allermeisten Fällen einfach nur ein sehr starker Wunsch. Und dabei hilft es überhaupt nicht, diesen fehlgeleiteten Optimismus (Kernfusion! Wasserstoff-Auto! Life on Mars! Unsterblichkeit!) im Einzelfall Schritt für Schritt zu widerlegen, er kommt immer wieder in neuer Form zurück! Dieser besondere Optimismus muss über stabile unbewusste Anteilen verfügen – und über ein eher reduziertes Verständnis von Gesellschaft. „Der illusionäre Glaube, mit technologischen Instrumenten gesellschaftliche Verhältnisse gestalten zu können, wird dann wahr, wenn man Gesellschaft primitiv, religiös und rassistisch denkt.“ Diedrich Diederichsen: Das Rohe und das Kettengesägte.

Es bleibt wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine Form des Klassenkampfes von oben handelt. „In its initial impacts, deregulation is class war, hitting the poorest and the middle classes at the behest of the rich. As the effects proliferate, it becomes an assault on everyone’s wellbeing.“ George Monbiot: There are many ways Trump could trigger a global collapse. Here’s how to survive if that happens. Im Guardian am 18. Februar 2025.

„Sail on, sail on O mighty ship of state! Democracy is coming to the U.S.A!“ Seit Tagen immer wieder der selbe Ohrwurm, beim Einkaufen, auf dem Weg zum Department, im Aufzug, in der Bibliothek. „It’s coming to America first / The cradle of the best and of the worst / It’s here they got the range / And the machinery for change / And it’s here they got the spiritual thirst / It’s here the family’s broken / And it’s here the lonely say / That the heart has got to open In a fundamental way / Democracy is coming to the U.S.A!“ Leonard Cohen ist am 7. November 2016 gestoren, ein Tag bevor Trump zum ersten Mal gewählt wurde. Leonard Cohen: Democracy is coming to the USA. Das Album „The Future“ ist am 24. November 1992 erschienen. Ist das jetzt „The Future?“ 

Junge Männer, nicht älter als 25, haben, wie ich lese, Zugriff auf die Daten des Centers of Disease Control. Sie haben Zugriff auf die Daten des Centers für Medicaire and Medicaid Services. Datamining veterans‘ benefits and disability compensation records of the Department of Veteran Affairs. DOGE may launch a new chatbot trained on government data. „Once replaced the human knowledge that produces the institution will be lost.“ Eryk Salvaggio: Anatomy of an AI Coup

Adrian Daub und Moira Donegan beschreiben die Vorgänge und Akteure in einer patreon-exklusiven Folge des bereits weiter oben empfohlenen Podcasts „In Bed With The Right“, The Boys of DOGE. „Digressions on disruption, hacker masculinity, and wedgies. (…) With tech libertarian destruction ethos – graduate students access classified and sensitive material.“ 

Davonrasende Zeit, keinen Moment Muße. Warten auf ein gutes Wort. Ständig fallen Sachen runter. Hab ich schon wieder was kaputtgemacht? Es ist mein harter Blick, der mir im Spiegel ein eingeschüchtertes Wesen zeigt. Kein Trost. Und ich denke an den Widerstand, den die koreanische Dichterin Kim Hyesoon im Nachwort ihres Lyrikbandes „Phantom Pain Wings“ gegen das Konzept „Trost“ formuliert. Sie wendet sich darin gegen den Wunsch, ihre Dichtung möge irgendjemanden trösten. „Therefore, when someone even utters the word comfort, I want to run and hide. I don’t think I’ve ever comforted someone with my writing. Moreover, I think literature betrays the readers‘ desire to be consoled. Perhaps literature crosses into a zone where concolation can’t intervene, evaporating any possibility of comfort. Just as there is no geometric or genetic consolation, literary work merely constructs an afterimage or alternative symmetrical pattern of the event that occurs.“ (Kim Hyesoon: Bird Rider: An Essay, in: Phantom Pain Wings. Übersetzt von Don Mee Choi. New York 2023.) Ich lese ihre Gedichte und auf eine robuste und gleichzeitig schmerzhafte, grimmige Weise trösten sie mich ja doch. Sie validieren die Erfahrung der Erschütterung, die bäumen sich auf, sie flattern, sie vergrößern sich endlos – und machen weiter. 

„I’ll say it again. The woman who’s wearing the skirt as big as the shadow of my entire country is me. I’m so enormous that I can send a letter from one end of my insides to the other. My skirt is all water. It’s so heavy that I can’t stand up. All the silvery train tracks of Korea are on top of my drenched skirt. 

I’m on the train, crying out from every compartment, Sorry, sorry!“ 

(Kim Hyesoon: Tyrannus Melancholicus, in: Phantom Pain Wings. Übersetzt von Don Mee Choi. New York 2023. Seite 60. ) 

Fortsetzung folgt

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