Braucht Demokratie Vertrauen?
Vertrauen – das ist, ähnlich wie Zusammenhalt, so ein Sonntagsredenwort. Alle sind irgendwie dafür, aber keiner weiß genau warum. Das heißt, manche haben schon ihre Gründe: So erklärte kürzlich eine Fachärztin für Allgemeinmedizin in der FAZ, ein „schönes Miteinander“ sei entscheidend für ein langes, gesundes Leben. Aber lässt sich jenseits solcher self-help-Ratschläge etwas spezifisch sagen über politisches Vertrauen in komplexen Gesellschaften, in denen man eben für gewöhnlich anonym bleibt und größtenteils sehr wenig miteinander zu tun hat?
Vielleicht lässt sich erstmal gar nichts Gutes sagen. Schon ein flüchtiger Blick in die Ideengeschichte zeigt, dass die pauschale politische Empfehlung liberaler Denker gerade nicht Vertrauen, sondern Misstrauen war. Der Sozialwissenschaftler Russell Hardin, einer der einflussreichsten zeitgenössischen Theoretiker von Vertrauen, bemerkte einmal, der Anfang von allem politischen und wirtschaftlichen Liberalismus sei Misstrauen. 1 Die These hat viel für sich: Benjamin Constant, der große französische Liberale, war der Ansicht, jede gute Verfassung sei ein Akt des Misstrauens; Jeremy Bentham, einer der Gründerväter des Liberalismus in Großbritannien, stellte die Frage: „Wem sollen wir denn misstrauen, wenn nicht denjenigen, die mit großer Autorität ausgestattet sind und daher am meisten versucht sind, diese zu missbrauchen?“
Offensichtlich handelt es sich hier um eine Art vertikales Misstrauen, von unten nach oben gerichtet: Bürgerinnen und Bürger sollen Amtsinhabern nicht einfach vertrauen, sondern ein kritisches Auge auf sie halten. Zudem gilt es – das war Constants Einsicht –, Wege zu finden, Misstrauen zu institutionalisieren bzw. die Möglichkeit von Machtmissbrauch von vornherein zu begrenzen. Aber auch den Institutionen kann man nicht einfach vertrauen; denn sie sind ja keine Maschinen, die von allein laufen, sondern werden von Menschen geführt, die stets für die von Bentham gefürchteten Versuchungen anfällig sind.
Konservative hingegen wollten sowohl Institutionen als auch Politikern im Zweifelsfalle immer einen Vertrauensvorschuss einräumen. Was schon lange währte, war erst einmal vertrauenswürdig – auch wenn man die Gründe für das lange Überdauern von Institutionen und Praktiken vielleicht gar nicht rational erklären (oder gar rechtfertigen) konnte. 2 Wer hingegen Misstrauen säte, hatte die Beweislast zu tragen, ja ihm oder ihr ist selbst erst einmal mit Misstrauen zu begegnen.
Nun erleben wir derzeit eine merkwürdige Umkehrung: Im weitesten Sinne liberale Kräfte rufen heute dazu auf, den bestehenden Normen, Institutionen und letztlich auch Hierarchien zu vertrauen. Die offensichtlichsten Beispiele sind Wissenschaft, Gerichte, freie Medien. All diese sind bekanntlich in den vergangenen Jahren enorm unter Druck geraten, und zwar von populistischer, dezidiert antiliberaler Seite — auch wenn die merkwürdige Mischung aus libertären und autoritären Ansichten, die Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey scharfsinnig analysiert haben, manchmal wie altbekanntes liberales Misstrauen klingen kann. 3
Ganz neu ist die Mischung nicht — man denke an das auf den ersten Blick paradoxe Phänomen der Konservativen Revolution in den zwanziger Jahren; auch noch danach hätte man die Lektion lernen können, dass antiautoritär keinesfalls automatisch progressiv bedeutet. Aber merkwürdig mutet dieses Great Reversal schon an: Linksliberale in den USA wurden unter Trump plötzlich zu Verfechtern der Unabhängigkeit und der Professionalität beispielsweise des FBI und des Militärs – Institutionen, die ihnen doch seit dem Vietnamkrieg immer fremder geworden waren.
Vertrauen und Misstrauen haben nicht nur eine vertikale Richtung. Sollten sich demokratische Bürgerinnen und Bürger gegenseitig – also sozusagen auf horizontaler Ebene – eher vertrauen oder kann hier Misstrauen nicht auch eine plausible Haltung sein? Man beachte, dass diese weitgehend ungeklärte Frage sich auf Vertrauen in einer Demokratie bezieht, nicht auf die allgemeine Frage, ob man die unzähligen Fremden, mit denen man tagtäglich in einer komplexen Gesellschaft interagiert, erst einmal als vertrauenswürdig erachten sollte.
Vertrauen kommt überhaupt nur dann ins Spiel, wenn es Ungewissheit gibt. Wer alles kontrollieren kann, braucht kein Vertrauen in Individuen oder Institutionen zu setzen. Nun ist aber eine sehr plausible (wenn auch zugegebenermaßen sperrige) Definition von Demokratie, sie sei „institutionalisierte Ungewissheit“ – so die einflussreiche Formel des polnischstämmigen Politikwissenschaftlers Adam Przeworski. Kurz gesagt: In halbwegs funktionierenden Demokratien sind Wahlergebnisse ungewiss; auf die Prozeduren, durch die man zu diesen Ergebnissen gelangt, kann man sicher aber verlassen (mit anderen Worten: Die Institutionen bieten Gewissheit). 4 In Autokratien ist es genau andersherum: Wer Präsidentschaftswahlen in Russland gewinnt, ist in keiner Weise ungewiss; die Verfahren können jedoch jederzeit zugunsten der Machthaber manipuliert werden (so beispielsweise, als noch in letzter Minute Vorschriften geändert wurden, um Nawalnys Strategien zu konterkarieren).
Ungewissheit ist also kein Fehler im System, sie ist vielmehr ein Zeichen, dass etwas richtig funktioniert in einer Demokratie. Erfordert diese Art von Ungewissheit aber auch eine Form von Vertrauen und wenn ja –welche?
Viele philosophische Versuche, Vertrauen analytisch zu erfassen, gehen von persönlichen Beziehungen aus. Vertrauen, so heißt es beispielsweise, bedeute, dass man sich auf jemanden, der eine bestimmte Aufgabe auszuführen habe, verlassen könne; der bereits erwähnte Russell Hardin meinte, Vertrauen heiße, dass man davon ausgehe, eine andere Person würde bei ihren Entscheidungen unser eigenes Interesse stets mit einbeziehen.
Doch derartige Ansätze passen kaum zu Demokratie: Wir sind nicht von anderen Mitgliedern des Gemeinwesens instruiert, irgendwelche Aufgaben zu erfüllen; und es ist offensichtlich Teil von ganz normalen politischen Konflikten, dass verschiedene Gruppen sich für ihre eigenen Interessen einsetzen (ohne dabei immer alle anderen zu berücksichtigen). Ein Anhänger Rousseaus, der von der Existenz eines relativ einfach zu identifizierenden Gemeinwohls ausgeht, mag solche schnöden Kämpfe um Interessen mit Bedauern sehen – aber sie sind schlicht die Realität pluralistischer zeitgenössischer Demokratien.
Braucht man also eigentlich in der Demokratie anderen – auf horizontaler Ebene — gar nicht vertrauen? Eine Form von Vertrauen angesichts der in der Demokratie schlicht nicht vermeidbaren Ungewissheit braucht es schon. Und das ist das Grundvertrauen, dass die anderen prinzipiell das Gemeinwesen weiterhin als eine Sache von Freien und Gleichen weiter betreiben (und gestalten) wollen. Das klingt sehr abstrakt, ist aber nicht ohne Relevanz, wenn man an Parteien denkt, die manche Bürger ganz ausschließen oder zumindest als Bürger zweiter Klasse behandeln möchten. 5 Es ist auch nicht irrelevant in Zeiten, in denen Autoritäre in spe versuchen, Institutionen so umzugestalten, dass sie die Macht auch bei halbwegs freien Wahlen nicht mehr verlieren können – was ja im Endeffekt auch heißt, dass sie die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr als Freie, die eben auch jemand anderen ins Amt bringen könnten, respektieren.
Um noch einmal auf die Diskussion in der Moralphilosophie zurückzukommen: Das Gegenteil von Vertrauen ist nicht Unzuverlässigkeit. Das Gegenteil von Vertrauen ist Verrat. Wer Vertrauen bricht, verursacht nicht nur Enttäuschung, sondern ein ganz spezifisches Gefühl von Verletztheit und Verrat. Enttäuschungen sind in der Demokratie unvermeidlich: Irgendjemand muss bei Wahlen – und auch in der tagtäglichen politischen Auseinandersetzung – immer verlieren. Aber Verlierer fühlen sich nicht per se verraten (es ist natürlich etwas anderes, wenn beispielsweise ein politischer Verbündeter seine Unterstützung aus opportunistischen Gründen zurückzieht). Verraten kann sich aber mit Recht fühlen, wenn andere Bürgerinnen und Bürger eine Wahl treffen, die darauf hinausläuft, das Gemeinwesen nicht mehr als ein Projekt von Freien und Gleichen, mit offener Zukunft, weiter zu verfolgen.
Sehr viel konkreter gesagt: Wer 2024 Trump wählte, musste sich eigentlich darüber im Klaren sein, dass der Mann die amerikanische Demokratie gefährden würde. Natürlich gab es auch immer Abwiegler und Beschwichtiger: Da hieß es beispielsweise, die Strafverfolgungen, denen er dank rechter Richter aber am Ende letztlich entging, hätten ihn sicher vorsichtiger werden lassen. Zudem behaupteten viele Beobachter, die Leute seien mit der wirtschaftlichen Situation unter der Biden-Regierung einfach so unzufrieden gewesen, dass ihnen gar keine andere Wahl als Trump geblieben sei.
Nun haben die ersten Wochen der zweiten Amtszeit von Trump an Klarheit nichts zu wünschen übrig gelassen. Die Vorstellung, alles würde schon wie in den Jahren 2017-2021 halbwegs normal ablaufen (mal abgesehen von dem nicht gerade normalen Angriff auf das Kapitol im Januar 2021), hat sich sehr, sehr rasch als Illusion erwiesen. Trump benutzt alle staatlichen Hebel, um gegen politische Gegner vorzugehen – und da handelt es sich nicht nur um prominente Figuren; nein, ganze Regionen (wie jüngst der Bundestaat Maine, wo radikale Kürzungen vorgenommen wurden) werden bestraft, wenn sich ihre politischen Repräsentanten nicht einfach Trumps Wünschen fügen.
Vor diesem Hintergrund dürfen sich diejenigen, die Trump nicht gewählt haben, durchaus verraten fühlen, und zwar nicht nur vom Präsidenten, sondern von all den Amerikanern, die dem Mann –wider besseres Wissen – zur Macht verholfen haben. Moralisch wie auch politisch liegt die Beweislast jetzt bei den Trump-Wählern; um horizontales Vertrauen wieder herzustellen müssten sie plausibel machen, dass sie einen autoritären Kurs in keiner Weise gewollt haben – und ihn auch jetzt nicht gutheißen.
Dies könnten sie am ehesten dadurch zeigen, dass sie sich jetzt öffentlich lautstark gegen autoritäre Maßnahmen wenden, statt dem früheren Reality-TV-Star weiter blindlings zu folgen. Mit anderen Worten: Ein fundamentaler Verlust politischen Vertrauens ließe sich nur rückgängig machen, wenn nicht nur Linke und Liberale, sondern auch Trump-Wähler auf die Straße gingen. Naiv? Wahrscheinlich. Aber dieser Imperativ folgt, so meine These, aus einem stringenten Verständnis von politischem Vertrauen, ohne das Demokratie nicht dauern kann.
Und die Institutionen? Die Politikwissenschaftlerin Pippa Norris hat vorgeschlagen, man solle ihnen mit einer Art von skeptischem Vertrauen begegnen. 6 Wer gute Gründe hat, die Vertreter von Institutionen für kompetent und prinzipiell gutwillig zu halten, kann einen Vertrauensvorschuss geben; wer zudem weiß, dass es innerhalb der Institutionen Sicherungsmechanismen gibt, sollte etwas schieflaufen, darf sogar noch mehr vertrauen. Auch hier ist Trumps Vorgehen verheerend: In den vergangenen Wochen sind Beamte, die Korruption und Kleptokratie bekämpfen sollen, massenhaft und systematisch entlassen worden; die inspectors general, die innerhalb von Ministerien über die Integrität der internen Abläufe wachen sollen, wurden ebenfalls grundlos entlassen (was illegal ist). Hier wird mühsam errungenes vertikales Vertrauen zunichte gemacht.
Demokratie sollte nicht mit kommunitaristischem Kitsch überfrachtet werden. Es muss nicht immer ein schönes Miteinander sein; oft tut es auch ein respektvolles Gegeneinander. Aber ein gewisses Grundvertrauen – dass man es nicht nur weiter miteinander aushalten, sondern auch eine gewisse normative Schwelle von Freiheit und Gleichheit nicht unterschreiten will – braucht es schon. Dieses Vertrauen steht heute in vielen Ländern, allen voran jetzt die USA, in Frage.
Dieser Text beruht teilweise auf einem Vortrag, der am 28. Januar dieses Jahres im Rahmen einer von der Universität Bonn und der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam organsierten Ringvorlesung zum Thema „Freiheit, Gleichheit, Vertrauen“ gehalten wurde.
FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN
- Russell Hardin, Liberal distrust, European review, Jg. 10 (2002). ↑
- Zum Verhältnis von Vertrauen und Rechtfertigung, siehe Rainer Forst, The Justification of Trust in Conflict, ConTrust Working Paper, 2, 2022 ↑
- Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit, Berlin, 2022. Siehe auch Michael Zürn, Wie kann eine demokratische Gesellschaft ihre Vernunft verlieren? ↑
- Adam Przeworski, Democracy and the Market, New York, 1991 ↑
- Antipluralismus dieser Art ist das Hauptmerkmal von Populisten; siehe Jan-Werner Müller, Was ist Populismus?, Berlin, 2016. ↑
- Pippa Norris, In Praise of Skepticism, New York, 2022. ↑
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