Auf Gedeih und Verderb. Eine Erwiderung auf Egon Flaigs Lehren aus dem Ukrainekrieg

Es hinterlässt einen mehr als unangenehmen Nachgeschmack, wenn der Althistoriker Egon Flaig im Feuilleton der FAZ vom 11. März 2025 in seinem ganzseitigen Gastbeitrag nicht nur ein Loblied auf heroischen Opfermut und militärische Entsagung anstimmt, sondern der Ukraine dabei auch noch freigiebig Haltungsnoten für ihre Kriegsführung erteilt. 1 Das Land habe seinen Kairos-Moment im Frühjahr 2022 verpasst, so Flaig, als ein Großteil der Bevölkerung bereit war, „das Äußerste zu geben“ und die „Generalmobilmachung“ dennoch ausblieb. Weil Selenskyj es versäumte, alle wehrfähigen Männer ab 18 Jahren zum bewaffneten Dienst an der Front zu verpflichten, tummelten sich die Jungmänner nun in den ukrainischen „Diskotheken“ und „Fitnessstudios“. 2 Diese Mutmaßung aus dem Ohrensessel heraus scheint merkwürdig genug, aber mit solchen mikrosoziologischen Quisquilien hält sich Flaig gar nicht erst auf, denn er will auf anderes, ja Größeres hinaus: Diese „pulsierende Sphäre zivilgesellschaftlicher Normalität“ untergrabe den für die Soldaten an der Front so wichtigen moralischen Rückhalt der Nation – kein Wunder also, dass Erschöpfung, sinkende Kampfmoral und mehrere Tausend Deserteure das Ergebnis seien. Auch die niedrige Geburtenrate belege schließlich, dass die Ukraine längst zu einer postheroischen Gesellschaft geworden sei. Jede Zeile dieses Textes durchweht eine Verachtung für die verweichlichte und ‚todverneinende‘ Moderne, und so ist es kaum verwunderlich, dass der Historiker zu einer wuchtigen Rehabilitierung der heroischen Selbsthingabe ausholt, die er zur unabdingbaren Bürgerpflicht und zur Grundbedingung von politischer Gemeinschaft schlechthin überhöht. 

„Gesellschaften beruhen auf dem Tausch, Gemeinschaften auf dem Opfer – nämlich auf der Bereitschaft ihrer Mitglieder, füreinander einzustehen, also Gaben ohne Gegengabe zu leisten.“ schreibt Flaig. Das ist richtig und mitunter auch der Grund, warum wir häufig mit dem Begriffspaar Staat und Gesellschaft operieren. Selbstverständlich gibt es für den Menschen immer eine Form der ‚primären‘ Einbettung (Familie, Dorf, Kultur, Sprache), die eine gemeinschaftliche Sphäre begründet. Dass diese Form des Gemeinschaftlichen aber gerade nicht als politisches Programm taugt, sondern ihre Grenzen hat, darauf hat der Soziologe Helmuth Plessner bereits 1924 hingewiesen. „Zu wissen, dass man dazugehört kraft Geburt, Einweihung, Überzeugung, Wahlverwandtschaft bedeutet“, so Plessner, „den Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst […], das dem Ganzen zum Opfer gebracht wird.“ 3 Für ihn gilt es daher, jenseits dieser Grenzen, also da, „wo Gemeinschaft unerträglich und würdelos wird“ zu einer gesellschaftlichen Lebensordnung vorzustoßen, die nicht in den Logiken von Eintracht, Blutsbande und Selbstaufgabe aufgeht, sondern mit Diplomatie, Distanz und Takt operiert. Nur weil Menschen, wie Flaig ganz treffend festhält, immer notwendigerweise beides sind – Mitglieder einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft –, heißt das nicht, dass diese unterschiedlichen Logiken sich alle anderen Lebensbereiche einverleiben oder beliebig miteinander vertauscht werden können. Auch im Ausnahmefall des Krieges regiert das Gebot der Gemeinschaft nicht unumschränkt.

So war Kant, der daraufhin von Flaig als Befürworter der Opferbereitschaft ins Feld geführt wird, zwar ein Verteidiger der Pflichtethik, sicher aber kein glühender Heroiker. 4 Auf die Frage „Welches Recht hat der Staat gegen seine eigenen Untertanen, sie zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen, ihre Güter, ja ihr Leben dabei aufzuwenden?“ 5 antwortet der zunächst einmal: im Grunde keins. Weil Staatsbürger keine Kartoffeln oder Haustiere sind, „die man gebrauchen, verbrauchen, und verzehren (töten lassen) kann“. Folgt man Kant, steht es dem Staat nicht frei, seine Angehörigen nach Gutdünken aufs Schlachtfeld zu schicken, eben weil Menschen kein „Gemächsel (artefacta) des Staates“ sind, sondern „gesetzgebendes Glied“. Daraus schließt Kant, der Staat könne dies nur fordern, – und zwar nur dann – wenn die Staatsbürger vermittels ihrer Repräsentanten ihre freie Bestimmung nicht „zum Kriegführen allein überhaupt, sondern auch zu jeder besondern Kriegserklärung geben“. Bei Flaig klingt das zerrupfte Zitat leicht missverständlich, nämlich so, als hätten die Bürger die Pflicht, ihr Leben für den Staat einzusetzen und ihre Zustimmung zum Krieg zu geben. Dabei verhält es sich genau andersherum: Nur unter der einschränkenden Bedingung, dass sie zustimmen, kann der Staat von ihnen den Kriegsdienst fordern. Es macht einen Unterschied ums Ganze, von wo hier die Entscheidungsgewalt ausgeht. Kant formuliert an der Stelle glasklar: „Wir werden also wohl dieses Recht von der Pflicht des Souveräns gegen das Volk (nicht umgekehrt) abzuleiten haben.“ So gewendet handelt es sich nicht um eine Opfergabe, sondern um ein quasi-vertragliches Verhältnis: Das Recht zur Einberufung seiner Untertanen erhält der Staat erst im Tausch gegen die Zustimmung seiner „gesetzgebenden Glieder“.

Der vielleicht vehementeste Einwand richtet sich allerdings gegen die bedingungslose Forderung nach einer geschlossenen Heimatfront, die Flaig zum Unterpfand der gelebten militärische Werte, der Kampfbereitschaft der Soldaten und ihrer „blutig errungene Würde“ stilisiert. In dieser zur Gesellschaftstheorie aufgeblasenen Dolchstoßlegende erfordert das Überleben der Nation eine martialische Durchdringung noch der hintersten Winkel der Zivilgesellschaft. Der Heimatfront „obliegt es“, schreibt Flaig, „die sozialen Energien anzuspannen für das politische Ziel, nämlich die kriegerische Selbstbehauptung der sich bildenden Nation“. Flaigs irritierende Gönnerhaftigkeit zeigt sich auch daran, dass er der Ukraine die Eigenstaatlichkeit – im Unterschied zu Jörg Baberowski oder Helmut Schmidt – 6 nur stillschweigend abspricht, so als könnte das ukrainische Nationalbewusstsein nicht auch ohne diesen „gründenden Krieg“ auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurückblicken. 7 Dass das Land im 20. Jahrhundert Invasoren immer wieder trotzte und fünfmal seine Unabhängigkeit – zuletzt 1991 – erklärt hat, das muss Flaig wohl entgangen sein. 8

Ganz davon abgesehen befremden diese Ausführungen durch ihre starke Einseitigkeit. Hatte nicht gerade die deutsche Geschichte zur Genüge unter Beweis gestellt, wie verhängnisvoll die Heroisierung eines kollektiven Opfermuts sein kann? Der Historiker George Mosse beschreibt in Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars die Wunde, die nach Beendigung des ersten Weltkriegs klaffte – „between the horror and the glory of the war“– weswegen alle Nationen verzweifelt nach einer Symbolsprache suchten, die dieses Geschwür zu kauterisieren vermochte. 9 Indem man sich an der Erinnerung jener Veteranen orientierte, die den Krieg und ihren Einsatz bejahten, wurde der Glorifizierung von Krieg, Opferbereitschaft, heroischer Selbstlosigkeit und Männlichkeit Vorschub geleistet. Für Mosse war das eine geistige Fortsetzung des ersten Weltkrieges nach seinem Ende. Dieser Kriegsmythos höhlte nicht nur die Friedens- und Demokratisierungsbestrebungen der 1920er Jahre aus, sondern bot der NS-Bewegung zudem ein ideologisches Sprungbrett. Nach 1933 nahm ein thanatophiler Kriegskult im Hitlerdeutschland Züge einer Staatsreligion an – bis zum letzten Mann, auf Gedeih und Verderb. Wie fahrlässig solche Umdeutungen auch jenseits der NS-Zeit sind, liegt auf der Hand: Dem Tod wird der Stachel gezogen, die Realität des Krieges negiert und stattdessen zu einer nationalen Erlösungsreligion verklärt. Dann bleibt als Parole nur das Durchhalten: Glaubt man Flaig, entscheiden über Sieg und Niederlage vor allem Ausdauer, Unnachgiebigkeit und der Wille zur Selbstaufopferung. 

Schließlich wartet Flaig gegen Ende seines Artikels noch mit einem Bonmot aus der bildungsbürgerlichen Hausbibliothek auf: „Die postheroische Gesinnung setzt Schillers Diktum ‚Das Leben ist der Güter höchstes nicht‘ außer Kraft. Doch dann verschwände, wie Hannah Arendt gesagt hat, alle Moral und jede Ethik aus dem menschlichen Leben; und so fiele dieses auf ein animalisches Niveau.“ Sieht man darüber hinweg, dass eine postheroische Gesinnung hier geflissentlich mit der Frage nach dem Wert des Lebens kurzgeschlossen wird, stolpert man nichtdestotrotz über die knappe Wiedergabe von Arendts Gedankengang. In dem angedeuteten Passus wollte sie sicher nicht darauf hinaus, dass Menschen auf ein animalisches Niveau sinken, sobald sie das Leben als höchstes Gut ansehen. Ihr ging es vielmehr darum, dass „im Leben immer mehr auf dem Spiel steht, als die Aufrechterhaltung und Hervorbringung lebendiger Organismen“. 10 Für Arendt ist ein lebenswertes Leben ein politisches Leben, in dem Menschen freiheitlich handeln und denken können, das summum malum dagegen, „der totalitäre Versuch, Menschen nicht nur ihrer Freiheit und Würde zu berauben, sondern ihrer Welt.“ 11 Sie plädierte also wesentlich für Welt- und nicht für Lebenssicherung. Dass Menschen nicht nur ein biologisches Faktum, sondern auch moralische Wesen sind, heißt aber gerade nicht, dass man ihre bedingungslose Selbstaufgabe fordern oder sie erbarmungslos im Krieg als Ressource verheizen kann. Gerade die Totalmobilmachung des Nazi-Regimes hatte Arendt zufolge offenbart, wie Moral „ohne große Vorwarnung über Nacht zusammenbrach“ und in einen Wertekanon überführt wurde, indem niemand ein überzeugter Nazi sein musste, um sich für die Sache stark zu machen. 12 Werte, Gewohnheiten und Sitten können daher vielleicht als moralisch geboten ausgeflaggt werden, ob sie das auch sind, muss schließlich das Individuum im Hinblick auf sich selbst entscheiden. Was also genau unter den von Flaig gepriesenen „Werten als historische Existenziale“ zu verstehen ist, für die Menschen „nötigenfalls das Äußerste drangeben würden“, das bleibt diffus und eher raunende Beschwörung als überzeugende Darlegung. 

Sicher geht es in dem Text um eine Reihe brennender Fragen, die uns die weltpolitische Lage derzeit aufnötigt: Wie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Soldatenehre und Antimilitarismus umgehen? Welche Formen kann politische Opferbereitschaft in demokratischen Gesellschaften annehmen? Und wie können wir angesichts des lange vorherrschenden Radikalpazifismus wieder sprechfähig in Kriegsfragen werden? Kampfeswille auf Gedeih und Verderb einzufordern und das Vokabular von Pathos, Feind und Opferkult aus Carl Schmitts Mottenkiste hervorzukramen, nimmt sich als Antwort auf die drängenden Herausforderungen unserer Gegenwart jedoch eher dürftig aus. Bis auf Weiteres ist man daher gut beraten, sich an die Replik des Philosophen Ludwig Marcuse zu halten: „‘Das Leben ist der Güter höchstes nicht‘ sagt Schiller. – Wer so zitiert, meint für gewöhnlich: Das Leben der anderen.“

 

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Egon Flaig, „Die Demokratie vor dem Ernstfall“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Februar 2025, S. 12.
  2. Das Nachtleben scheint einigen Herren der Bundesrepublik gegen den Strich zu gehen. So etwa auch Jürgen Elsässer, für den die iranischen Proteste gegen das Regime der Mullah im Jahr 2009 kaum mehr waren als eine Zusammenrottung von „Discomiezen, Teheraner Drogenjunkies“ und den „Strichjungen des Finanzkapitals“.
  3. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt am Main 2001, S.58.
  4. Dass Kant ganz grundsätzlich dem zu seiner Zeit gängigen Lob des Krieges widersprach und den Gedanken ablehnte, dass Menschen gegen ihren Willen für das Töten in Sold genommen werden, ist u.a. auch bei Oliver Eberl nachzulesen: Oliver Eberl, „Kant im Krieg“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2024, S. 73-82.
  5. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd.VIII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp,1977, S.467-469.
  6. Jörg Baberowski, „Zwischen den Imperien“, in: Die Zeit, 13. März 2014: „Helmut Schmidt, „Ich traue Putin nicht zu, dass er Krieg will“, in: Bild, 16. Mai 2014.
  7. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Beck, 2023, S. 130-229; Martin Schulze Wessel, Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, München: Beck, 2023, S. 171-292; Gwendolyn Sasse, Russlands Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen, München: Beck, 2024, S. 25-56.
  8. Cristina Florea, „Ukraine’s Long Self-Determination”, in: New York Review of Books, 7. Dezember 2022.
  9. George L. Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford University Press, 1991.
  10. Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München: Piper, 2006, S.12.
  11. Dana Richard Villa, “Politics, Philosophy, Terror: Essays on the Thought of Hannah Arendt”, Princeton University Press, 1999, S.180-203, hier S.201.
  12. Hannah Arendt, Über das Böse, S.11.