The Dictionary of Rational Meaning
Die Farbe Violett der NYU ist überall, Fahnen an den Fassaden, Merch, die Kleider der Studerenden, sie ist auf Hinweisschildern, Notrufsäulen, Zugangskarten, Wegweisern und wirkt etwas protestantisch auf mich, die Farbe der Stille und Besinnung, Umkehr und Buße, oder auf eher altmodische Weise feministisch. Die Farbe hinterlegt die Kampagne „We choose to be a community, even if we disagree“, der ich hier überall begegne und die vermutlich eine Reaktion auf die studentischen Proteste anlässlich des Gaza-Krieges im Jahr 2024 ist, und auf der, jeweils besonders gehighlighted, zu lesen ist: Choose Empathy. Oder: Choose Courtesy. Oder: Choose Kindness. Oder: Choose Respect. Oder: Choose Compassion. Mein Lieblingsschild ist: Choose Kindness. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es mir nicht schwer fallen würde, Kindness zu wählen, sozusagen als Default-Position, aber vielleicht empfiehlt es sich, schon sehr bald andere Eigenschaften zu wählen: Choose Courage. Choose No. Überall Campus Safety. Von den Veilchen komme die violette Farbe, lese ich, aber wo, auf Wikipedia? Den Veilchen, die es hier einst (vor der Besiedelung) gegeben habe. Ja, vielleicht.
Die ersten Tage vollkommen verpeilt, bin ich auf die Hilfe der anderen angewiesen. Und sie sind sehr hilfsbereit. Auf der Suche nach einer Adresse zeigt mir eine freundliche Frau, die womöglich nicht genau verstanden hat, was ich suche, eine Kellerpassage, die mich durch einen nicht vorgesehenen Schleichweg in das Nachbarhaus führt. „How did you get here?“ Ich überrasche einen gediegenen älteren Herrn in einem unterirdischen Office, in dem wie eine samtig-dunkle Wolke das 19. Jahrhundert überdauert hat. Er bietet mir einen Sitzplatz auf einem grazilen Sofa an, druckt mir einen Campus-Plan aus und lässt mich durch eine Hintertür wieder hinaus: „You should come back in May, everything will be flowering, pink blossoms.“ So freundlich! Aber im Mai bin ich doch schon weg. Einstweilen erfordert die Kälte ein deutliches Verständnis des Draußenseins. Mütze, Handschuhe und die dunklen jetgelagten Morgenstunden.
Mein Büro hat keine Fenster, aber eine Art seitliches Oberlicht, zum Flur hin, wohindurch etwas Tageslicht fällt. Auch der Seminarraum im Paulson Center hat keine Fenster. Ein Glasstreifen neben der Tür lässt etwas Licht hinein. „Die NYU hat Fenster nur als Gimmicks“, sagt mir jemand, aber ich hab vergessen, wer. Vor dem Büro von Avital Ronell: diskreter Patchouliduft. Draußen Sonnenschein, rund um den großen Ramenladen: Schwaden von Frittierfett. Den Todeskult mit der Kunst des Umwegs kontern, Verlangsamung.
Anlässlich der Eröffnung des Spring Semester an der NYU, in einem großen Raum mit spektakulärem Ausblick, Reception, Wine, Cheese, Gemüsesticks, spricht die Festrednerin von excellent research, sie spricht von World Class Teaching und Resilienz. Später erzählt mir jemand von einer Email, die er jüngst erhalten habe, in der er dazu angehalten werde, seine universitäre Webpräsenz vorsorglich nach einem bestimmten Vokabular durchzusehen und einzelne Begriffe gegebenenfalls herunterzunehmen. Es bleibt zunächst dennoch alles eigentümlich still, doch die Anspannung steigt.
3. Februar 2025: Verweigerung von Forschungsgeldern für Anträge mit (u.a.) folgenden Begriffen: systemic, bias, trauma. A wie activism, activist, advocacy, b wie barrier, biased, c wie community diversity, cultural differences, cultural heritage, d wie diverse backgrounds, diversity and inclusion, e wie equality, f wie female, h wie historically, i wie institutional, l wie lgbt, m wie marginalized, minority, multicultural, p wie political, r wie racial justice und racism, s wie status und stereotypes, systemic, t wie trauma, u wie under served, underrepresented, v wie victim, w wie women. Die ist nur eine Auswahl, es sind noch viel mehr. Der Liste folgt ein Entscheidungsbaum, der ihre Anwendung unterstützen soll: Does the TITLE or ABSTRACT contain keywords and context that implicate the EOs? Wenn Begriffe aus diesem Pool vorkommen: Retain Flag. Oder: No DEIA and other EO language found. Add comment to explain why ‚no‘ was chosen (Category 1)
„These keywords should show up in the text of ANY grant involving human participants. If you are saying you’re going to study men and women, you get flagged.“ Darby Saxbe, Professor of Psychology an der University of Southern California, auf bluesky , am 3. Februar 2025. Und noch nicht genug, dies wird sich fortsetzen. Am 27. Februar lese ich, dass das US-Militär weitere Begriffe von seinen Internetpräsenzen entfernt: as part of DEI review. „A 59-word list was also presented to help identify content for removal.“ Und auf dieser Liste stehen neben „history“ und „historic“ auch die Worte „culture“, „respect“ und „dignity“. Insgesamt sind es 59. U.S. military removes words ‚history,‘ ‚respect,‘ ‚dignity‘ from digital presence as part of DEI review. Texas Public Radio.
Das Blocken von Begriffen geht, wie Adrian Daub unter dem Titel THE CAMPUS strikes again! Or: The Right Wing’s Long Love Affair with Ctrl+F in seinem Newsletter vom Feb 18, 2025 gezeigt hat, vor allem von ihrer sozial- und geisteswissenschaftlichen Verwendung aus und übersieht oft, dass diese Begriffe auch in der Naturwissenschaft und Medizin verwendet werden. So wird eine Medizinerin, wie Daubs Kollegin Arghavan Salles an der Stanford University, wenn sie den Begriff „Trauma“ hört, weniger an ein historisches Trauma denken, sondern an eine Verletzung, die aus einem Unfall resultiert. „When she uses the term “bias”, it’s about statistical bias and eliminating it in study design — not about racism or anything of the kind. So even as an attack on what it thinks it’s attacking, a list like this is incoherent.“
„This list was very much designed by someone fixated on the humanities and social sciences. We in the humanities often feel invisible, as though the university sort of lacked object permanence when it came to us — in this case, it seemed that the authors of the list momentarily forgot that universities have hospitals and that university faculties include surgeons, for instance. In fact, much of the anti-”DEI” crusade (which I think we ought to just call neo-segregation, because why not call things by their name?) represents an extension of the logic of the campus panic to broader and broader swaths of society and the government“, so Adrian Daub.
Die systemische Verweigerung von staatlicher Förderung mithilfe einer keyword-based Methode erinnert von ihrem Sprachverständnis her an das enorme Projekt der Dichterin und Essayistin Laura (Riding) Jackson, die als Antwort auf die deutungsbedürftige und daher letztlich nicht wahrheitsfähige Sprache des Gedichtes in den 1960er Jahren in New York ein Wörterbuch der rationalen (vernünftigen) Bedeutung realisieren will. Dem Projekt des wahrhaftigen Sprechens wollte sie ein belastbares Kompendium an die Hand geben, ein Lexikon, das der mehrdeutigen Verwendung von Worten ein für alle Mal den Garaus macht: The Dictionary of Rational Meaning. Einem Wort dürfe nicht mehr als eine Bedeutung zukommen, was zum Beispiel dazu führt, dass the AIR (of faint distaint) und the AIR (we breathe) als zwei verschiedene Worte definiert werden müssen. Anfangs stehen ihr Robert Graves, dann Schuyler Jackson zur Seite, sowie einige große und renommierte Wörterbuchverlage, die erstaunlicherweise auch dann noch bereit sind, Vorschüsse zu zahlen, als sich das Projekt mehr und mehr von seiner unmöglichen Seite zeigt.
Am Ende scheitert das Großprojekt der Neu- oder Engdefinition bereits daran, dass schon die Begriffe, die jenes Projekt anführen, sich ihm widersetzen und die Jacksons (inzwischen verheiratet) so tief in den vorgelagerten Niederungen des Analytischen stecken bleiben, dass sie fürchten müssen, gar nicht bis zum Definitorischen vorzustoßen. „Wir haben uns gesagt, dass sich unsere Fähigkeit zu definieren an den drei Worten ‚Wort‘, ‚Bedeutung‘, ‚definieren‘, die unserer Arbeit zugrunde liegen, erweisen muss. Wenn wir diese drei Worte, die für Personen, die sich der Definition von Worten widmen, notwendigerweise grundlegend sein müssen, nicht definieren können, dann haben wir den Prozess um die Möglichkeit (des Projekts, MR) verloren.“ (Aus einem Brief der Jacksons an McIntyre und Bozman, Juni 1946, zitiert nach Elizabeth Friedmann: A Mannered Grace. The Life of Laura (Riding) Jackson. New York 2005, S. 381)
Der einzige Trost in dem entmutigenden und aufreibenden Geschäft des Definierens schien Laura (Riding) Jackson, dass diese Art der psychischen Bestrafung, aufgrund der weit verbreiteten Sünde sprachlicher Konfusion, auf die ein oder andere Weise von allen erlitten werden müsse. Der Verleger Alfred McIntyre hatte ihnen da bereits den Vorschlag unterbreitet, statt des großen Wörterbuchs ein kleines Büchlein über die Schwierigkeiten zu verfassen, die sich ihnen im Verlauf ihrer Arbeit in den Weg gestellt haben. Diesen Vorschlag lehnen sie ab. Erst 1997, sechs Jahre nach Laura Ridings Tod, wird mit The Dictionary of Rational Meaning ein Buch erscheinen, das auf fast 600 Seiten genau dies tut: Es demonstriert die Schwierigkeiten des Definierens. (So entnommen aus PARA-Riding, von Laura (Riding) Jackson, Christian Filips und Monika Rinck, roughbook 015, Berlin und Solothurn, September 2011)
Was für eine unglückselige Beharrlichkeit! Es ist ja klar, dass die Mühe des Definierens jede Sache zunächst verdoppelt! Und das ist richtig. Ich musste an einen Gedanken von Klaus Heinrich denken: Wer Fragen nach dem inneren Widerstand der Elemente, die sich als A= A identitätslogisch gegenüberstehen, als sinnlos zurückweist, weist eine Welt zurück, in der Urteile sinnvoll sind. (Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt 1964. Neuauflage im Jahr 2021, im ca ira Verlag.
Wie geht es weiter? Michael S. Roth, President of Wesleyan University, schreibt am 8. Februar 2025: „Corporate and educational leaders must not put on a demure face and stay silent while civil society is undermined by the diktat of executive orders. We must not sacrifice academic freedom and a healthy civil society for the short-term gains of anticipatory compliance. We must instead cultivate in our institutions the ability to bring different kinds of people together in common purpose, the will to protect the vulnerable, and the resilience needed for our institutions to successfully pursue their missions. Their missions, not the agenda of whoever controls the powers of the central government. Let’s hope that the 2025 word of the year isn’t “submissive.”
Say Something: For heads of institutions, it’s all too tempting to do what’s easy. SLATE, 8. Februar 2025.
Am 9. Februar 2025 lese ich von der Idee einer „American University“, die Trump schon im Jahr 2023 beworben hat: „Trump campaigned in 2023 for an ‚American University,‘ an online resource presenting ’study groups, mentors, industry partnerships, and the latest breakthrough in computing‘ that ‚will be strictly non-political, and there will be no wokeness or jihadism allowed.‘ Trump proposed that American University would be funded by „taxing, fining, and suing excessively large private university endowments.“ Anatomy of an AI-Coup, by Eryk Salvaggio.
1 Packung Haferflocken: $ 9,45, 1 Päckchen Creamcheese: $ 8,99, 1 Liter Hafermilch: $ 5,79. Der Rücken, again. Mehr Schlaf, aber der Morgen kommt nicht mit Wachheit oder Erleichterung und Geistesgegenwart. Das Bewusstsein kommt besorgt zu mir zurück und trifft auf ein erschöpftes Trägersystem. Und es ist immer noch dark! 13. Februar 2025: Banning Psychopharmaca Now! Sicherlich eine gute Idee.
Jeff Sharlet, 8. Februar 2025, 10:24 Uhr: „I’ve heard from some very smart professors, politically engaged, who argue that as much as the moment concerns them, there’s no war to incorporate discussions into the focus of their classroom. How about the fact that they may not have a classroom soon?“ (Jeff Sharlet, 8. Februar 2025)
Und es geht natürlich weiter. Was sich gegen Worte richtet, richtet sich auch gegen Proteste und dann vor allem gegen diejenigen, die protestieren. Am 4. März schreibt realDonaldTrump auf seinem X-Account: „All Federal Funding will STOP for any College, School, or University that allows illegal protests. Agitators will be imprisoned/or permanently sent back to the countries from which they came. American students will be permanently expelled, or, depending on on (sic) the crime, arrested. NO MASKS! Thank you for your attention to this matter.“
Der Einsatz von KI-Systemen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, auch in der Bildung, ist eine Entwertung von Sprache und ihrer protestierenden Kraft. Maschinell erzeugte Sprache ist fortgesetzte Sprachlosigkeit. Ich muss noch einmal auf Klaus Heinrich zurückkommen: „Jeder Begriff, auch der des Übersetzens, setzt eine neinsagende Sprache voraus. Wogegen richtet sich der Protest des Begriffs ‚Sprache‘? – Protestari, in der alten gerichtlichen Bedeutung des Wortes, heißt: das Schweigen vor Zeugen brechen, damit Schweigen nicht als Zustimmung missdeutet wird. Protestari heißt sich zur Wehr setzen gegen ein verstrickendes Schweigen. Der Protestierende, der das zweideutige Schweigen durch eindeutig machende Rede bricht, demonstriert nicht bloß eine Sache, sondern zugleich ‚für‘ Sprache. Er demonstriert die Gefahr des Rückfalls in Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit ist das ‚Nichts‘, gegen das sich das Nein des Protestierenden richtet.“ (Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt 1964. Neuauflage im Jahr 2021, im ca ira Verlag.)
Fortsetzung folgt
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