Die schöne Stadt
Die Stadt war so schön, in der Morgendämmerung, im Abendlicht, mitten in der Nacht, am Vormittag, vor 25 Jahren, heute noch, stellenweise, an den Rändern, in der Mitte, unter all den Schritten, entlang ihres erstaunlichen Rasters. Gehen, gehen, gehen, stehenbleiben. Dann wieder gehen, über die Manhattan Bridge unter dem ohrenbetäubenden Rattern der Metrozüge, die in kurzen Abständen die Brücke passierten, von oben auf die Küstenlinie der Gentrifizierung schauen, weitergehen, einsteigen, zurückfahren. Was so schön und gestern noch lebendig war. Und es morgen wieder ist, mit anderen Lebendigen. Eintreten in eine lange Zeit und gleich darauf, kurz vor der Abreise, kaum je wirklich dort gewesen sein.
No, no, no, Elon Musk and Donald Trump have got to go! What? Again! Far too many syllables!, rief die junge Frau, und ihre Begleiterinnen lachten. Try again! Versucht es erneut! Gelächter. Die längsten Wimpern. Eine kleine Demo vom Washington Square zum Union Square. Sympathische Menschen um mich herum. Eine schnelle Fotografin bedeutete den Demonstrant:innen enger zusammenzubleiben, für die Fotos. Sie leitete, als die Gruppe für Momente verstummt war, auch den nächsten Sprechchor an: „Show me what democracy looks like!“ – „This is how democracy looks like“, antworteten die Leute. Die Sonne schien. Vertreter der NYPD legten dem kleinen Protestzug nahe, doch besser nur eine Spur der Straße in Anspruch zu nehmen. Selbst das schien noch zu viel. „Whose Streets?“ – „Our Streets!“ Der Fahrer eines Lieferwagens wurde von Demonstrantinnen darauf hingewiesen, dass er, nachdem er in die Menge hineingefahren war, nicht in die nächste Querstraße ausweichen könne, da es sich um eine Einbahnstraße handelte. „Believe me, you don’t want to do that, it’s a One Way Street!“ A One Way Street!!!! Sie kümmern sich noch um die, die sie am liebsten einfach überfahren würden, dachte ich. Was für eine mutige Versammlung. Zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht denkbar, zumindest nicht von mir, dass im Rahmen faschistischer Dreharbeiten zu einem Propagandafilm der republikanischen Administration mehr als 200 venezualische Männer ohne Gerichtsverfahren nach San Salvador deportiert werden können. Das kam erst später, wenige Wochen später. Und war sofort denkbar.
Was hatte das mit der Abenddämmerung dieses einen schönen, kühlen, wie galoppierend vergehenden Vorfrühlingstags in SoHo zu tun? Alles und nichts. Die ganzen strahlenden Bilder, Sehnsuchtsbilder, Filmbilder, die inneren Bilder und plötzlichen Durchsichten, die Stadtallegorien und sprachlichen Metaphern, die Schaufenster, die Restaurants, welche soeben erst öffneten, das Atemholen, die Fassaden, Angstszenarien und Wutbilder verkanteten sich zu einem einzigen Moment – was bedeutete es, in diesem Kaleidoskop, unbeteiligt zu sein? Oder sich so zu fühlen? Oder dies zu bezweifeln? Es weiterzudrehen? Einen Schuldzusammenhang einzugestehen?
Eines Abends, schon den Abschied im Blick: Es war ganz zauberhaft. Die vielen schönen Menschen zwischen 18:10 Uhr und 19:20 Uhr in diesem Viertel. Das milde silbrige Licht, die in das Licht hineinragenden hohen Gebäude. Die schnellen Schritte der schönen Menschen in gut geschnittenen, ganz leicht abgetragenen Kleidern und Anzügen. Die fast leeren Galerien und ihr kostspieliger Raum. Das Lyrikregal in der McNally Jackson Buchhandlung 134 Prince Street. Die kühle erwartungsfrohe windige Luft. Les Pas Perdus, sie waren für immer verloren, denn ich hatte die Smart Watch nicht an. Es war ein Dienstag oder Mittwoch, und er ging zuende. Ach, hier ein einziges Mal jung gewesen zu sein. Mehr noch: jung, exzentrisch und reich, oder zumindest from a sound financial background. Wann würde das gewesen sein? Sag, wann wäre das gewesen? Wie weit hätte ich dazu zurückzugehen? Wer wärest du gewesen? Such es dir aus.
Der Aufruhr des Frühlings. Eine melancholische Imitation, die in die Zukunft geht. So viel Anfangsfreude, dass der erinnerte Frühling eintrifft wie ein Vorbote des nächsten. So reißt er auch an der Zwischenzeit, dem Hier und Jetzt. Aber das Haar, die Haut! One day, eines Tages, there will be, da gibt es, einen Frühling, a spring, without you, den wir nicht mehr erleben. Das Suspendieren des TB-Programms, weltweit. Die absolute Hässlichkeit dieser schwarzen DOGE Seite. Da muss es schon einen sehr stabilen Glauben an die eigene Unverletzbarkeit zu geben. Und ich erinnerte mich an die ersten schönen Frühlingstage des Jahres, in dem mein Vater im Februar gestorben war. Es war in Wien, ich war morgens auf dem Weg zu einer Jury-Sitzung, deren Adresse ich nicht fand, so dass ich komplett die Orientierung verlor und tränenüberströmt, eine gute halbe Stunde (wenn nicht sogar länger noch!) zu spät dort eingetroffen bin. Und es war so schön! Der Dannebergplatz war so schön. Das Wetter war so schön. Die Bäume! Und es zerriss mir schier das Herz, dass dies der erste Frühling war, den mein Vater nicht mehr erlebte. Und dass dennoch alles wieder am Anfangen war. Die ganze Wiener Stadt verdrehte sich um mich, sie rannte fort, war fortgerannt, zerbrach in Kacheln, war zerbrochen, fügte sich zu einer Unfuge der Gebrochenheit, war unverfügt und hell und licht und duftig und dennoch wie Tränen aus dem dunklen Grab, doch heller noch, aus Licht und Luft. Oder auch: Wenn man nur ein einziges Mal verliebt gewesen war, dann sollte man doch das Leben wie einen heilig-zerbrechlichen Schrein oder einen vom geringsten Windchen bedrohten nebligen Schein in Kükenhänden halten. Mit Pinzetten beschatten. Was weiß denn ich. „Umbringen musst du dich nicht. Das machen dann schon die anderen“, sagte ein junger deutscher Mann auf der Bleecker Street im Vorübergehen zu einem anderen. Er war vielleicht maximal 22. Oh Hansaplatz-Stadtbücherei in Berlin Tiergarten. Das blitzartig geschickte Bild vor dem inneren Auge. Der nächste Schritt. Wenn es stimmt, was Walter Benjamin in seinem Denkbild vom destruktiven Charakter schreibt, dass sich die Welt ungeheuer vereinfache, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft werde, so verkompliziert sie sich unendlich, wenn ich, ihre Verletzbarkeit im Blick, um ihren Fortbestand fürchte.
Da ist eine Passage in Donna Stoneciphers Buch Ruins of Nostalgia, in der es heißt: „The structure was concentric. Newer inhabitants, whose nostalgia was on the inner rings, tended to talk about it more. One brand-new inhabitant at a dinner party, possibly on coke, was so nostalgic, that he wasn’t even nostalgic for the past, but for the present, a kind of pre-order nostalgia, because he knew it couldn’t last, it couldn’t last, he kept repeating, shaking his head, his wide eyes staring glazed at the table. Couldn’t last? It’s already over! thought the rest of the guests, who were longer-term inhabitants. But they sipped their wine in silence, for their nostalgias – also, of course, the only possible nostalgias – were on wider rings.“ (Donna Stonecipher: Ruins of Nostalgia. Middletown, Connecticut 2023.) Wie alt war ich eigentlich? Das hatte ich mich in diesen Tagen schon öfter gefragt. Ich kam mir kindlich vor und überaltert at the same time. Nicht nur die Sorge, auch das Vergnügen betraf mich als Unbeteiligte. Dass vielleicht doch noch etwas anderes passiert? Dass ich die wäre, die …? Dass ich das natürlich nicht bin. Aber was tun stattdessen? Eine stammelnde, nicht ganz logische Abfolge von Widersprüchen, bestehend aus: aber, aber, aber.
An einem anderen hellen Vormittag saß ich mit MG vor dem jemenitischen Café, Bleecker Ecke Carmine Street, gegenüber Father Demo Square, als eine stattliche, schmale, gepflegte und dennoch leicht verwahrlost auf mich wirkende Dame in Begleitung eines schokoladenfarbenen Königspudels vor uns anhielt und fragte, ob wir verheiratet seien, wir verneinten. Ob wir ein Paar seien, wir verneinten. Ob wir befreundet seien, wir bejahten. Ob sie unsere Einschätzung einholen könne, einen Chatverlauf betreffend. Ja. Es ginge um eine sehr berühmte Persönlichkeit, deren Namen sie uns nicht nennen könne. Der große schokoladenfarbene Pudel, der ein breites orangefarbenes Lederhalsband trug, lehnte sich indes mit seinem ganzen Gewicht an meine Knie und ließ sich dann auf meine Füßen nieder, was mir gefiel. Der Chat hingegen war sehr kompliziert und ging auf langwierige Weise in die Tiefe. Es war ja klar, dachte ich, dass es sich um einen Love Scammer handeln musste. Dennoch hörte ich aufmerksam zu. Der Chat schien endlos. Als eine laute Gruppe von Schülerinnen und Schülern, offenkundig auf einem Ausflug ihrer Elementary School, um die Ecke kam, machte sie eine kurze Pause, um kurz darauf wieder einzusetzen. Die langen grauen Haare trug sie offen, ein, zwei Zähne fehlten, der Rest war gut. Auf einer Skala von 1 bis 10, wie groß sei die Wahrscheinlichkeit, dass er es ernst meinte, wollte sie von uns wissen. Ich sagte: maximal 2, MG sagte: five point five. Sie fixierte uns. „I think, he’s a nine!“, verkündete sie und ging davon. Später machte mich MG auf die äußeren Zeichen ihres Wohlstands aufmerksam, Chanel-Jacke, Gucci-Schuhe, Riesenklunker an der linken Hand, das orangefarbene, vermutlich handgemachte Hundehalsband. Das war mir alles entgangen! Nur das Halsband hatte ich gesehen, ohne weitere Schlüsse daraus zu ziehen, als dass es ein schöner Hund war, der ein gutes Halsband wohl verdiente. „Und dann auch noch der Name ihre Hundes: Gucciboy!“ – „Nein, das war der Name ihres Chatters, der Hund hieß Beachy!“ Wie auch immer. Sie war es wohl gewohnt, dass man ihr zuhörte. Und das über weite Strecken. Das war nichts Außergewöhnliches für sie. Aber was für ein herrlicher schokoladenbrauner und gut getrimmter Pudel das war! Aufstehen, weitergehen.
Stadtspaziergang. In den Nacken werfen. Was? Den Kopf! In die Vertikale wachsen. Beauty with a prize tag on it. Fuck the Rich, stand auf dem gerenderten Zukunftsplan, der an der Fassade eines großen Gebäudes angebracht war, das gerade renoviert, vielleicht sogar entkernt wurde, und darunter: Give it to the people. Die Entschiedenheit der aufrechten Leute, die in der Green Street und in der Wooster Street, wo Celine, Dior, Chanel, Gucci und etliche Galerien angesiedelt waren, die von Wachleuten gesicherten Läden betraten und sie mit großen eckigen Papiertüten wieder verließen – ihr Glow, ihr Unwille auszuweichen. So aufrecht ihr Gang. So erhaben und ganz und gar in ihrem Recht.
An dem erwähnten schönen Vorfrühlingsabend war ein solcher Anfangsfuror in der Luft, als sei wirklich noch gar nichts vorbei, im Gegenteil. Ungeplantes Draußensein, jetzt war ja bestimmt noch nicht die Zeit zurückzugehen. Eine Demonstration gegen die Aufkündigung der Unterstützung der Ukraine kreuzte meinen Weg. Meine taubenblaue Mütze und die gelben Handschuhe passten gut dazu. Ich lief noch ein bisschen mit, rief mit allen anderen: Make Putin pay! Make Putin pay!, und kam mir wie eine Mitläuferin vor. Warum auch nicht, bis unterhalb von Canal Street, dann wieder zurück.
„A consistent theme in the ‚did you say thank you‘ aspect of Trumpian rhetoric is presenting normal responses to insane ideas as discourteous and unhinged.“ Don Moynihan @donmoyn.bsky.social 23. März 2025 um 22:59 Uhr. Das ist die Logik des Missbrauchs. See what you made me do? Diese Logik rast voraus in eine brutale Gegenwart, die es eigentlich noch gar nicht gibt, erreicht sie nichtsdestotrotz, dreht sich dort um, stürmt mir wieder entgegen und verdreht dann den Rest. Ein brutales Rangieren.
Bei Barnes & Noble am Union Square und bei McNallys Jackson in all den Filialen, die ich besuchte, liegt Timothy Snyders On Tyranny bei den kleinen Büchern direkt neben der Kasse: „Twenty Lessons from the Twentieth Century“, und die erste Lektion ist: „Do not obey in advance.“ Kein vorauseilender Gehorsam. „Most of the power of authoritarianism is freely given. In times like these, individuals think ahead about what a more repressive government will want, and then offer themselves without being asked. A citizen who adapts in this way is teaching power what it can do.“ Stur und langsam sein. Was war schon verloren? Was lohnte es noch zu verteidigen? Alles, absolut alles.
Auf dem Heimweg dieses schönen Tages, ging ich kurz vor 9, als es schon dunkel war, noch im Employee Owned Astor Winestore auf der Lafayette vorbei und entdeckte: Es gibt dort RAKETE! Rakete, von der Wiener Winzerin Jutta Ambrositsch. Gemischter Satz Rot, Sankt Laurent, Zweigelt, Blauburger, Merlot, Grüner Veltliner. Noten von Erdbeere, Pfeffer, Gewürzen, ein Hauch von Rauch, reifen Zwetschken, Kirschen, Balsamico und Kräutern, tiefgründig! Yeah! $ 25,99, aber was soll’s, Leben ist kurz! Und Emily Dickinson sagte: „Time is a test of trouble, / But not a remedy.“
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