Das Vergessen ist ein Meister aus Deutschland. Zu einem symptomatischen Scheitern an der eigenen Geschichte

Wollte ein deutscher Journalist, sagen wir aus berufsbedingtem Zeitdruck, sich auf Wikipedia kurz über die Geschichte des Slogans »Nie wieder!« informieren, würde er in seiner eigenen Sprache nicht fündig. Es gibt Einträge auf Englisch, Französisch, Russisch, Hebräisch und Spanisch, aber nicht auf Deutsch. Soweit bekannt, spricht der Berliner Theaterkritiker Simon Strauß ausgezeichnet Englisch. Hätte er doch nur Gebrauch davon gemacht. Ihm wäre ein Abgrund an Peinlichkeit erspart geblieben. Er hätte in seinem Artikel zum 8. Mai 1945 das »Nie wieder!« wohl weder einen »paradigmatischen deutschen Erinnerungsruf« genannt, noch zum Inhalt einer »deutschen Bewusstseinslehre« erklärt. Lassen wir dahingestellt, ob ein Ruf zum Paradigma taugt und was in aller Welt eine Bewusstseinslehre sein soll. Aber die nationale Aneignung einer Parole, deren Ursprung und Form vielfältig, aber eines ganz sicher nicht ist, nämlich deutsch: diese Ignoranz muss beim Namen genannt und ausbuchstabiert werden. Beginnen wir, nicht nur der Einfachheit halber, mit dem Buchstaben A.

A wie Amnesie.

Es ist atemberaubend, wie wenig Strauß, während er das »kollektive Bewusstsein«, das »kollektive Gedächtnis« und die »hart errungenen Bewusstseinswerte« der Deutschen beschwört, sich für die nicht-deutsche Geschichte der Erinnerung an den Nationalsozialismus interessiert. Dabei hätte der Erscheinungstag seines Textes dazu allen Anlass geboten.

*

Mit jedem faktischen Ende beginnt die Möglichkeit des Erinnerns. Wenn aber das Ende, wie am 8. Mai 1945, einem Zustand verbrecherischer Gewalt gilt, dann ist für deren Opfer diese Möglichkeit kaum von einem Zwang zu unterscheiden; und die gegenläufige Möglichkeit des Vergessens nicht von einer Fortsetzung des Verbrechens. Die ersten Forderungen, die Taten der Nazis und das Leid ihrer Opfer nicht zu vergessen, waren daher keine Gebote. Es waren Aufrufe von solcher Dringlichkeit, dass sie in die eine Richtung als Gelöbnis vernehmbar waren, in die andere als Drohung.

»Nie wieder!«

Der Schwur, den die befreiten Häftlinge am 19. April 1945 auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald im Geist dieser Parole ablegten, galt den ermordeten Kameraden. Ihr Angedenken zu bewahren und die Verpflichtung, die Peiniger und Mörder zu jagen, um sie vor die »Richter der Völker« zu stellen, waren zwei Seiten derselben Haltung. Der Frieden, den die Erklärung als Ideal des eigenen Bestrebens nennt, meinte nicht das Ende des Krieges, sondern einen Zustand, in dem die Verbrechen der Lager gesühnt sind. Ihn zu ermöglichen ist der Zweck der Erinnerung an die Ermordeten. Für ihn zu kämpfen der Auftrag an die Überlebenden.

Auf eine Weise, die keinen Trost mehr kennt und doch am Glauben an eine höhere Gerechtigkeit festhält, hat wenig später auch Primo Levi, nachdem er der Hölle von Auschwitz entronnen war, die Erinnerung in ein solches Bedingungsverhältnis gestellt. Die Unmöglichkeit, das Erlittene selbst zu vergessen, erschien ihm als »Fluch« des Überlebens. Diejenigen aber, die weiterhin ungebrochen Mensch sein dürfen, weil sie noch vergessen können, verpflichtet er nicht nur darauf, sich an die stattgefundene Entmenschlichung anderer zu erinnern. Er stellt sie vor die unbedingte Wahl, dieser Pflicht entweder nachzukommen oder selbst dem Fluch anheimzufallen, der für Davongekommene wie ihn zum Schicksal geworden ist. »Denket, daß solches gewesen. / Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. / Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet / In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, / Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; / Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern. / Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, / Krankheit soll euch niederringen, / Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.«

Die persönlichen Erinnerungen an das Kriegsende sind so gut wie versiegt. Die erste Forderung an uns Nachgeborenen sollte daher sein, dem 8. Mai 1945 seine historische Signatur zurückzugeben. Und das heißt auch: zu begreifen, warum das mit diesem Datum untrennbar verbundene »Nie wieder!« sich zwar auf verschiedene Weise konsistent formulieren, aber unter keinen Umständen sinnvoll als »deutsch« bezeichnen lässt. Drei Varianten der Parole erscheinen besonders zwingend: die antifaschistische, die humanistische und die zionistische.

Der Vorrang der Überlebenden

Dass der Schwur von Buchenwald auf einen kommunistisch geprägten Antifaschismus zurückging, tat seiner Überzeugungskraft keinen Abbruch. Die mit ihm gesetzten Forderungen – Erinnerung, Frieden, Demokratie – waren so anschlussfähig, dass sich unterschiedlichste Gruppen in seinem Geist vereinen konnten. Das betraf zum einen die Herkunft der Häftlinge. Die Urheber des Gelöbnisses mochten Deutsche gewesen sein, und Deutsch die Sprache, in der das Original verfasst wurde; die Schwurgemeinschaft selbst aber gab sich demonstrativ internationalistisch: »Wir Buchenwalder, Russen, Franzosen, Polen, Tschechen, Slovaken und Deutsche, Spanier, Italiener und Österreicher, Belgier und Holländer, Engländer, Luxemburger, Rumänen, Jugoslaven und Ungarn, kämpften gemeinsam gegen die SS, gegen die nazistischen Verbrecher, für unsere eigene Befreiung. Uns beseelte eine Idee: Unsere Sache ist gerecht – der Sieg muss unser sein.«

Es betraf aber auch Glauben und Weltanschauung. Im Zuge der propagandistischen Verengung, die der Antifaschismus mit Beginn des Kalten Kriegs erfuhr, ist heute in Vergessenheit geraten, wie inklusiv er lange gewesen war. Und wie attraktiv über politische Lagergrenzen hinweg. Ihren Ursprung hatte die antifaschistische Haltung nicht nur in den revolutionären Kaderparteien, sondern auch in republikanischen Bündnissen zur Verteidigung der Demokratie. Die Vorbilder des Widerstands, der in diesem Geist gegen die Nazis und die deutsche Besatzung gekämpft hatte, waren auf ganz Europa verteilt. Sie lagen in Italien, wo der Begriff herkam, in den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, in der französischen Volksfront, im sozialdemokratischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Dank und Anerkennung der »Buchenwalder« galten daher nicht nur den alliierten Streitkräften, sondern auch dem kurz zuvor gestorbenen US-Präsidenten F.D. Roosevelt, dem »großen Freund der Antifaschisten aller Länder« und Kämpfer für eine »neue demokratische, friedliche Welt.«

Die ideologische Zurückhaltung war aber auch der Offenheit einer Lage geschuldet, in der die politische Gestalt Deutschlands und Europas bis in das Jahr 1948 hinein ungeklärt war. Anders ließe sich nicht erklären, warum etwa die 1947 gegründete Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), die den Schwur von Buchenwald als ihr Gründungsdokument ansah, anfangs auch jüdische Überlebende wie Heinz Galinski, Philipp Auerbach und Hans Mayer oder dezidiert christliche Nazigegner wie Konrad Adenauer und Heinrich Grüber zu ihren Mitgliedern zählte.

*

Die zweite Form des »Nie wieder!« geht auf individuelle Erfahrungen zurück, deren gemeinsamer Hintergrund die erlittene Willkür war. Man mag die entsprechende Haltung als »bürgerlich« bezeichnen, würde damit aber ihr Wesen genauso verfehlen wie bei der Reduktion des Antifaschismus auf eine »kommunistische« Ideologie. Hier wie dort geht es um eine Hinterlassenschaft, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. Doch im Gegensatz zum kämpferischen Antifaschismus ist die in humanistischem Geist vorgetragene Forderung, zu erinnern und der Wiederholung vorzubeugen, von Gefühlen der Gebrochenheit, der Einsamkeit und des Entsetzens grundiert. Prägnanten Ausdruck hat sie in einem Wort Hannah Arendts gefunden, das wie eine resignative, weil rückwärtsgewandte Übersetzung des »Nie wieder!« klingt. »Dies hätte nie geschehen dürfen«, notierte Arendt, als sie 1943 im Exil von den Vernichtungslagern erfuhr. Und so zeigt sich der zeitlose Ausdruck dieser Haltung denn auch eher in der philosophischen Reflexion und in der Kunst als in der Parole.

Menschlichkeit konnte im Lager ebenso systematisch zerstört werden, wie sie sich unter glücklichen Umständen bewahren ließ. Primo Levis literarischer Bericht aus Auschwitz, dem das oben zitierte Gebot zur Erinnerung vorangestellt ist, trägt nicht umsonst den Titel: Ist das ein Mensch? Denn die grauenvolle Erfahrung, die er bezeugt, das Ende des Lebens noch vor dem Tod, geht mit dem Verlust des humanen Minimums einher: »Denket, ob dies eine Frau sei, / Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, / Die keine Kraft mehr zum Erinnern hat, /Leer die Augen und kalt ihr Schoß / Wie im Winter die Kröte.« So unvermeidlich, wie der menschliche Blick hier erlosch, konnte er nur ein paar Meter weiter aber auch seine ganze Kraft entfalten. Dina Gottlieb, eine tschechische Jüdin mit künstlerischer Begabung, wurde von Josef Mengele gezwungen, Porträts von Insassen des »Zigeunerlagers« anzufertigen. Wer sie heute in der Gedenkstätte Auschwitz ausnahmsweise zu sehen bekommt, schaut auf ein Wunder. Mit Buntstiften gezeichnet, geben diese Porträts die Gesichter genauer wieder, als es die Fotografie vor Erfindung des Farbfilms je gekonnt hätte. Sie erfüllten also ihren Zweck, eine sogenannte Rassenphysiognomie zu dokumentieren. Zugleich aber machte Gottlieb, kaum merklich und doch überwältigend, von ihrer Freiheit Gebrauch, als sie den Porträtierten unverkennbar einen Ausdruck von Würde verlieh.

Ein Echo hat diese Form des »Nie wieder!«, deren Ursprung in der Willkür der Konzentrations- und Vernichtungslager liegt, auch in Theodor W. Adornos Neuformulierung des Bildungshumanismus gefunden. »Die Forderung«, sagte Adorno 1966 in einem Radiovortrag, der bis heute zu den Grundlagentexten der politischen Bildung gehört, »daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Dabei bezog sich die Chiffre des Lagernamens ausdrücklich nicht allein auf die Opfergruppe, für deren Katastrophe »Auschwitz« zur Metonymie geworden ist. Wo die »Buchenwalder« die reale Solidargemeinschaft aller Häftlinge beschworen, da betonte Adorno die potentielle Gemeinschaft aller Verletzlichen: »Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen, oder einfach abweichende Gruppen.«

Den philosophischen Hintergrund dieses Arguments hatte Adorno zur gleichen Zeit in seinem Buch Negative Dialektik formuliert. Wenn er dort »Nie wieder Auschwitz!« einen »neuen kategorischen Imperativ« nannte, dann war das keinen Bruch mit Kant. Die Autonomie des Subjekts blieb für ihn das Prinzip der Moral. Aber die Verbrechen des Nationalsozialismus hatten den Fokus verschoben. Statt der Fähigkeit, sich selbst zu regieren, betonte Adorno nun die sozialen und psychologischen Voraussetzungen, unter denen Menschen dazu fähig sind, sich selbst heteronomen Zwecken zu unterwerfen und ihre Mitmenschen auf zweckdienliche Mittel zu reduzieren. Weil der Massenmord an den Juden durch massenhaften Gehorsam ermöglicht worden war, liege die »einzig wahre Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz« in der »Kraft zum Nicht-Mitmachen«. Ganz ähnlich, wie Hannah Arendt davon sprach, dass »kein Mensch das Recht hat zu gehorchen«, drückt sich auch für Adorno diese Kraft im Verhältnis zur Herrschaft aus: »Indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt«, schreibt er, um dann das Elend auf einen Begriff zu bringen, der mit Blick auf die Gegenwart wie eine schwarze Pointe klingt: Staatsräson.

*

Weil der nationalsozialistische Verfolgungswahn keine Gruppe so gnadenlos traf, ist es kein Zufall, dass alle gerade Genannten – Primo Levi, Hannah Arendt, Dina Gottlieb und Theodor W. Adorno – Juden waren. Neben der individuellen gab es aber auch noch eine kollektive Erfahrung jüdischen Überlebens. Und das heißt in diesem Fall, wie bei den Antifaschisten: eine politische. Während die Befreiung der Lager, beginnend in Auschwitz-Birkenau am 27. Januar, sich auf viele einzelne Tage verteilte, wurde die deutsche Kapitulation vor allem auf den Straßen und Plätzen der Siegermächte gefeiert. Am 8. Mai 1945 glichen die Bilder aus New York denen aus Paris, die aus London denen aus Moskau. Die berührendsten Fotos von diesem Tag aber zeigen eine Massenansammlung von feiernden Menschen, deren Angehörige, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gar keine Soldaten waren. Und sie wurden in einer Stadt aufgenommen, die noch zu keinem Staat gehörte: Tel Aviv.

Was sich im Jishuv, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, nach der deutschen Niederlage öffentlich zeigte, war nicht nur Verbundenheit mit den überlebenden Juden Europas. Es war auch Erleichterung. Hätten die Briten nicht die Panzerschlacht bei El-Alamein gewonnen, wäre für die Wehrmacht der Weg zum Kaukasus frei gewesen. Was eine deutsche Besatzung Palästinas für sie bedeutet hätte, war den dort lebenden Juden klar. Sie waren darauf vorbereitet, um ihr Leben zu kämpfen und im Widerstand zu sterben. Dass es dazu nicht kam, war ein Glück. Aber das Bewusstsein, den Nazis trotz der Auswanderung aus Europa nur knapp entronnen zu sein, ist aus der Vorgeschichte der zionistischen Staatsgründung nicht wegzudenken.

Die Shoah war für den Zionismus eine Zäsur. Die Idee jüdischer Wehrhaftigkeit aber ist älter, sie geht auf die Frühzeit der Bewegung zurück. Und das zionistische »Nie wieder!« war in den 1920er Jahren entstanden, im Kontext des beginnenden Nationalitätenkonflikts zwischen jüdischen Einwanderern und lokalen Arabern. Wenn der Jishuv sich im Geist dieser Parole in Palästina behauptete, dann geschah das vor dem Erfahrungshintergrund einer antisemitischen Gewalt, der man durch Auswanderung hatte entkommen wollen. Und so war der symbolische Ort dieser Gewalt zunächst auch nicht Auschwitz, sondern eine Stadt im Russischen Reich, in der im April 1903 ein furchtbarer Pogrom gewütet hatte: Kischinjow.

Von allen Formen des »Nie wieder!« hat die zionistische den weitesten Resonanzraum. Er reicht vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Und sie gehört untrennbar zu Israel. Über den Arabischen Aufstand, den sog. Unabhängigkeitskrieg von 1947/48, die Kriege von 1967 und 1973, die erste und zweite Intifada bis hin zum Massaker vom 7. Oktober 2023 – aus jüdisch-israelischer Perspektive bestätigt jede neue Runde der Gewalt die Notwendigkeit eines wehrhaften Zionismus, dessen Botschaft lautet: Wir haben die Schutzlosigkeit des Exils hinter uns gelassen, um uns nie wieder wie Schafe zur Schlachtbank führen zu lassen. Dass es historisch, gelinde gesagt, fragwürdig ist, in den regionalen Konflikten in und um Israel eine Fortsetzung der antisemitischen Gewalt Europas zu sehen, ändert nichts an der zwingenden Plausibilität, die dieses Deutungsmuster für israelische Juden hat. Nach wie vor, mehr denn je; und nicht nur für sie.

*

Alle drei Varianten des »Nie wieder!« sind aber nicht nur in sich schlüssig, sie sind auch füreinander offen. Zwischen dem politischen Wir der »Buchenwalder« und dem des Zionismus gibt es keinen prinzipiellen Widerstreit; beide haben Wurzeln im Humanismus der Aufklärung. Weil diese Geisteshaltungen sich ideengeschichtlich berührten, konnten sie in der Realität zahlreiche Verbindungen eingehen. Die interne Lagerverwaltung, die im KZ Buchenwald von den »politischen Häftlingen« organisiert worden war, agierte nicht gemäß ideologischer Maximen, sondern im gleichen Geist menschlicher Solidarität wie Dina Gottlieb im KZ Auschwitz. Während die Kibbuzim von sozialistischen, wenn nicht sogar kommunistischen Idealen inspiriert waren, wurde umgekehrt die israelische Staatsgründung anfangs nicht nur von den USA, sondern auch der Sowjetunion unterstützt. Sofern sie sich auf die biblischen Propheten beruft, ist die israelische Unabhängigkeitserklärung ein Dokument des Judentums; aber zugleich klingt ihr Bekenntnis zu den »Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden« wie ein doppeltes Echo des Appells von Buchenwald und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die im selben Jahr von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde.

Es gehört jedoch zu den Tücken der politischen Geschichte, dass mit der Gründung von Staaten und dem Ausbruch von Kriegen die Ideen ihre Offenheit verlieren. Wenn sich seit dem Schlüsseljahr 1948 in Europa und im Nahen Osten die Grenzen wieder verfestigten, dann galt das nicht nur für die Territorien, sondern auch die Köpfe und Herzen der dort lebenden Menschen. Im sowjetischen Machtblock, wo der Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben wurde, erschien der Zionismus nun als Stellvertreter des imperialistischen Klassenfeindes. Und Israel, das seine nationale Gedenkstätte Yad Vashem einem verengten »Nie wieder wir!« widmete, fand seinen Platz unter den Staaten des Westens, wo wiederum Aufklärung und Humanismus eher identitär beschworen als denkend praktiziert wurden. Die Kraft der Ideale versiegte nicht, aber sie wurden zu einem Unterstrom. Viel deutet darauf hin, dass er derzeit wieder an die Oberfläche drängt.

Schuld und Konsum

Es mag aus deutscher Sicht mittlerweile angemessen scheinen, im 8. Mai 1945, so wie Richard von Weizsäcker es vor 40 Jahren erstmals tat, nicht nur einen Tag der Niederlage, sondern auch der Befreiung zu sehen. Zeitgenössisch aber gab es für die Deutschen, die keinen aktiven Widerstand geleistet hatte, nur eine Haltung, die konsistent genug war, um in die Zukunft zu weisen: das Eingeständnis der Schuld. Und genauso, wie einige Deutsche Anlass hatten, sich von einer Herrschaft befreit zu fühlen, die sie als »Gemeinschaftsfremde« verfolgt hatte, so war umgekehrt diese Schuld ihrem Wesen nach »deutsch«, nicht weil Deutsche die Taten begangen, sondern weil sie es als Deutsche getan hatten. Das Stuttgarter »Schuldbekenntnis«, das der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland schon Herbst 1945 ablegte; Karl Jaspers philosophische Auseinandersetzung mit der »Schuldfrage« von 1946; die »Schulderklärung«, die Konrad Adenauer im Vorfeld des sog. Wiedergutmachungsabkommens mit Israel 1951 im Deutschen Bundestag abgab: all diese dezidiert »deutschen« Verlautbarungen sind heute noch überzeugend, weil ihre Gründe damals zwingend waren. Dass Deutschland 1945 befreit wurde, ist dagegen eine – nicht unplausible, vielleicht sogar notwendige – Fiktion, die sich erst rückwirkend, unter der Voraussetzung der eingestandenen Schuld, formulieren ließ.

Alle deutschen Wege zum »Nie wieder!« bedürfen der Vermittlung. Als Kampfruf und moralischer Appell gehörte die Forderung den Überlebenden. Aber es war durchaus möglich, sie zum Ausgangspunkt deutscher Selbstreflexion zu machen. So übersetzten etwa die Mitglieder des Parlamentarischen Rats die Frage, unter welchen Voraussetzungen Staatsverbrechen dieses Ausmaßes möglich gewesen waren, in einen Auftrag. Das von ihnen verfasste Grundgesetz enthält sich der Parole. Aber es bringt unverkennbar den Willen zum Ausdruck, ein deutscher Staat möge nie wieder zur Gewaltherrschaft entarten und seine Nachbarn mit Krieg überziehen.

Wenn Strauß nun vor diesem Hintergrund das »Nie wieder!« zu einem »deutschen Bewusstseinswert« und zum Kernbestand unseres »kollektiven Gedächtnisses« erklärt, dann wirft das Fragen auf. Worin besteht dieser Wert? Und warum verleiht hier ein Nachgeborener der genuin nicht-deutschen Parole eine deutsche Signatur? Die Antwort auf die erste Frage lautet: Gemeint ist der Holocaust, also ein »Nie wieder!«, das man nicht als zionistisch bezeichnen muss, um in der Beschränkung auf die jüdische Opfergruppe eine partikularistische Geste zu erkennen. Und auf die zweite: Strauß betreibt nationalistische Identitätspolitik. Wer das nicht glauben mag, sollte sich den Schluss seines Artikels auf der Zunge zergehen lassen:

»Der Vorrang des Holocausts in unserem Gedächtnis ist keine Frage der individuellen Entscheidung, er ist eine Konsequenz der nationalen Geschichte. Man darf sogar sagen: eine Frage der deutschen Ehre.«

Der einzige Grund, sich mit solchen Sätzen überhaupt zu beschäftigen, liegt in ihrer symptomatischen Qualität. Denn sie stehen ja nicht irgendwo im Internet, sondern in einem Leitorgan der bundesrepublikanischen Mitte. Alle Zutaten des deutschen Ungeistes sind da. Eine von der Geschichte schicksalhaft zusammengeschweißte Gemeinschaft; ein kollektives Gedächtnis, dem sich das individuelle Bewusstsein zu fügen hat; ein metaphysisch überhöhter Gedächtnisinhalt von absolutem Rang; ein Begriff von Zugehörigkeit, deren Kriterium kein für alle verbindliches Recht, sondern die Wahrung einer korporativen Ehre ist; eine politischen Romantik, die Geschichtsgefühl mit Geschichtsbewusstsein verwechselt: Was soll das sein, wenn nicht Nationalismus? Eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern gegenüber so herrisch auftritt, nicht zuletzt den neu zugewanderten, ist undenkbar ohne Imagination einer Bedrohung. Dass es keinen Nationalismus ohne die Beschwörung von Feindschaft gibt, gilt auch für den deutschen Holocaust-Nationalismus. Dazu gleich mehr. Doch was genau ist denn da eigentlich bedroht?

*
Das nationale Heldenepos, das Strauß den Lesern der Zeitung für Deutschland in kargen Brocken auftischt, wurde Kindern seiner Generation an der Wiege, in der Schule und im Fernsehen gesungen. Es erzählt von der Genesung eines Volkes, das einst die Juden Europas ermordete und erst wieder Ja zu sich selbst sagen konnte, als es im Verlauf der 1980er Jahre in der Erinnerung an dieses Verbrechen eine neue Identität gefunden hatte. »Hart errungen« nennt Strauß den »Bewusstseinswert« dieser Erinnerung, an dessen Fortbestand angeblich das Schicksal der Nation hängt.

Nun, der Kampf um die deutsche Identität nach Hitler hat tatsächlich stattgefunden. Aber auch ihn muss man dem Vergessen entreißen. Die Behauptung, dass es dabei um die Erinnerung an Holocaust gegangen sein, beruht nämlich auf einem Missverständnis, dem nur aufsitzen kann, wer die eigene Geschichte nicht kennt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Deutsche, die entweder selbst verfolgt worden waren oder Widerstand geleistet hatten, mit Deutschen zusammenbrachte, die zu jung waren, um selbst schuldig geworden zu sein, galt der Sichtbarkeit aller NS-Verbrechen. Die Täter nicht davonkommen zu lassen; die Taten, nachdem sie so lange beschwiegen worden waren, zu erforschen und zu dokumentieren; die Tatorte vor Abriss und Zweckentfremdung zu bewahren: Dieses Anliegen entfaltete seit Ende 1970er Jahre eine solche Kraft, dass es – nachdem die revolutionäre Hoffnung in Asche lag – in die gesamte Gesellschaft ausstrahlte. Und wie bei allen sozialen Bewegungen dieser Jahre traf auch die Geste der historischen Selbstaufklärung auf heftige Gegenwehr. Denn so umfassend, wie sich Deutsche im Nationalsozialismus schuldig gemacht hatten, so allgegenwärtig war auch die Präsenz der noch lebenden Täter.

Ihre paradigmatischen (sic) Orte hatte diese historische Arbeit in den Gedenkstätten, die damals in den Überresten der NS-Konzentrationslager errichtet wurden. Hier traf gegenkulturelles Engagement auf Forschergeist. Das Wissen, das dabei im Pendelschwung mit der Geschichtswissenschaft entstand, förderte die monströse Erkenntnis zutage, dass der Nationalsozialismus die gesamte deutsche Gesellschaft in einen Tatzusammenhang verstrickt hatte. Nicht alle Deutschen waren gleichermaßen schuldig. Aber alle, die nicht ausgegrenzt und verfolgt worden waren, hatten von den Verbrechen profitiert. Es war unvermeidlich, dass im Zentrum dieser historischen Selbstaufklärung die Verfolgung und die Ermordung der Juden stand. Doch monströs erschienen die dabei gewonnenen Erkenntnisse nicht allein, weil die nationalsozialistische Gewalt diese Gruppe auf eine so beispiellose Weise getroffen hatte; sondern auch, weil sie von einem völkischen Rassismus ausgegangen war, der sich das Gedeihen des eigenen Volkes nur durch unter der Bedingung vorstellen konnte, dass alles »Undeutsche« ausgegrenzt, beherrscht oder vernichtet wurde. Mörderisch war das antijüdische Ressentiment ja erst im Kontext eines Krieges geworden, dessen Ziel in der Eroberung, Ausbeutung und Unterwerfung Ostmitteleuropas lag, also genau jener Regionen, in denen die große Mehrheit der europäischen Juden lebte. Die Mikrogeschichte der Tatorte zeigt, wie sehr der Holocaust in andere Verbrechenskomplexe eingebettet war. Die ersten Opfer massenhafter Tötungen waren Polen; die ersten Opfer von Vergasungen psychisch Kranke und Rotarmisten; die völkermörderische Gewalt erfasste auch sowjetische Kriegsgefangene und die Bevölkerung Leningrads; auf den Todesmärschen trafen jüdische Überlebende in deutschen Konzentrations- und Arbeitslagern auf Häftlinge aus ganz Europa, die aus anderen Gründen verfolgt und verschleppt worden waren.

Und die Täter kamen keineswegs nur aus den Riegen der Staatsführung und der SS. Nicht ohne Grund fand die historische Selbstkritik ihren Zenit in einer Ausstellung, deren Thema die Verbrechen der Wehrmacht waren. Erstmals sah sich eine breite Öffentlichkeit hier mit der schmerzhaften Wahrheit konfrontiert, dass deutsche Soldaten, also die eigenen Angehörigen, nicht nur gekämpft, sondern auch – direkt und indirekt – massenhaft gemordet hatten: Juden, Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Zivilisten in den besetzten Gebieten, vor allem in Polen, dem Baltikum, Weißrussland und der Ukraine. Der Widerstand gegen diese Aufklärung in eigener Sache löste in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit heftige Konflikte aus. Deren Folgen betreffen uns heute noch, obwohl – oder vielmehr: weil – kaum noch jemand ihre Geschichte kennt. Und es geschah auf einem Kulminationspunkt dieses deutschen Ringens mit sich selbst, dem Historikerstreit von 1986, dass die Identität der Bundesrepublik erstmals mit dem Holocaust verknüpft wurde.

Strauß‘ Forderung, der Erinnerung an den Holocaust den »Vorrang« einzuräumen, klingt wie ein verzerrtes Echo der Position, die Jürgen Habermas damals gegen Ernst Nolte und Andreas Hillgruber vertreten hatte. Mit dessen Argument aber hat sie nicht nur nichts zu tun, sie pervertiert es geradezu. In der Tat hatte auch Habermas einen Primat des Holocaust behauptet. Doch er bezog sich nicht auf das Gedenken an das Verbrechen und die von ihm betroffenen Opfer, sondern auf die Schwere der deutschen Schuld und auf die Unverrechenbarkeit des jüdischen Leids. Auf der »Singularität von Auschwitz« zu bestehen war das Argument einer ultima ratio. Habermas‘ Anliegen war defensiv und präventiv, weil es einer doppelte Tendenz der deutschen Selbstentlastung Einhalt gebieten und zukünftig vorbeugen sollte. Noltes Behauptung, der sowjetische Gulag sei das »faktische und logische Prius« von Auschwitz gewesen, betrachtete Habermas mit guten Gründen als Versuch, eine spezifisch deutsche Schuld unter dem Vorwand des wissenschaftlichen Vergleichs zu relativieren. Und mit ebenso guten Gründen sah er in einem Buch Hillgrubers, das von »zweierlei Untergang« sprach und damit die Verluste der östlichen Reichsgebiete und den Holocaust meinte, eine Relativierung der spezifisch jüdischen Opfererfahrung.

Die Stoßrichtung des Arguments war dezidiert anti-nationalistisch. Gegen eine Geschichtspolitik, die sich im Zeichen der von Helmut Kohl ausgerufenen »geistig-moralischen Wende« um eine Normalisierung des deutschen Nationalgefühls bemühte, brachte Habermas moralphilosophische Reflexion in Stellung. Aus dem kategorischen Gebot »Nie wieder Nationalismus!« folgte für ihn aber weder ein antifaschistischer Internationalismus, noch die Utopie einer Weltrepublik, sondern ein Universalismus der Rechte. Gemäß eines zweiten, notorisch übersehenen Arguments kann dessen Realisierung aber nur im Licht – Habermas selbst sprach von einem »Filter« – partikularer Nationalgeschichten gelingen. Das Pendant zum Singularitätsdogma, das mit Blick auf die eigene Geschichte dem Nationalismus einen Riegel vorschieben sollte, lag daher im Postulat eines spezifisch deutschen Verfassungspatriotismus.

Es gehört zur (ungeschriebenen) Wirkungsgeschichte des Historikerstreits, dass der Topos der Singularität von Auschwitz auf eine deutsche Öffentlichkeit traf, die gerade erst – mit großer Verspätung, aber dafür umso heftiger – mit der konkreten Realität des Holocaust konfrontiert worden war. Und das hieß auch: mit dem Gebot, der Opfer dieses unvorstellbaren Verbrechens zu gedenken. Dabei kann man gar nicht stark genug betonen, dass dieses Erinnerungsgebot und das damit einhergehende Bewusstsein für die Dimensionen des Völkermords an den europäischen Juden kein Ergebnis deutscher Selbstreflexion war. Als Helmut Schmidt am 9. November 1978 in Köln als erster Bundeskanzler in einer Synagoge sprach, geschah das noch im engen Rahmen des nationalen Gedächtnisses. Dem Datum gemäß hatte Schmidt der antisemitischen Pogrome gedacht, die 1938 in ganz Deutschland gewütet hatten. Als aber nur zweite Monate später die TV-Serie Holocaust das deutsche Publikum mit der Wucht eines Schocks traf, löste das nicht Trauer über das Ende der »deutsch-jüdischen Symbiose« aus, sondern Entsetzen über ein monströses Verbrechen, dessen Tatorte »im Osten« lagen: Regionen, die bis dahin vor allem Objekt eines deutsches Verlustschmerzes gewesen waren.

*

Um die Geschichte des deutschen Holocaustbewusstsein zu begreifen, auf das Strauß sich so wortreich wie kenntnislos bezieht, muss man zwei Dinge wissen. Zum einen traf es, anders als die Einsicht in die kollektive Tatverstrickung, auf keine nennenswerten Widerstände. Das überwiegende Gefühl, das die Serie Holocaust und später zahllose andere Darstellungen des Holocaust, von Claude Lanzmanns Shoah bis zu Spielbergs Schindlers Liste, beim deutschen Publikum auslöste, war nicht Abwehr, sondern Betroffenheit. Man kann den Unterschied kaum überbetonen: Während die Sichtbarmachung der Täter und ihrer Taten Konflikte auslöste, mobilisierte die Sichtbarmachung der jüdischen Opfer vor allem Beschämung und Mitgefühl. Und das lag nicht nur am dargestellten Inhalt, sondern auch in der Art der Darstellung. Es ist kein Zufall, dass die beispielhaft genannten Filme den Holocaust in einer kulturell vermittelten Form präsentieren. Sie waren bereits Produkte einer lebendigen Erinnerungskultur, deren Ursprünge sich leicht rekonstruieren lassen, sofern man sich nicht nur für Deutschland interessiert. Denn wenig überraschend liegen sie dort, wo sich das jüdische Leben nach der Shoah hauptsächlich entfaltete: in Israel und den USA.

Vom zionistischen »Nie wieder!« war bereits die Rede. Doch auch das Holocaustbewusstsein Israels hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Während anfänglich, wie etwa Tom Segev gezeigt hat, der heroische Widerstand im Warschauer Ghetto im Zentrum der nationalen Erinnerung stand, wurde im Laufe der 1960er Jahre immer stärker die jüdische Opfererfahrung betont. Vor dem Hintergrund des Eichmann-Prozesses, der 1961 die Details des Völkermords sichtbar gemacht hatte, und des Juni-Krieges 1967, in dem innerhalb weniger Tage eine traumatische Angst der nationalen Euphorie gewichen war, formierte sich das Narrativ einer wehrhaften Verletzlichkeit. Das Leiden der europäischen Diaspora, das zuvor – auch in Gestalt der Überlebenden – eher beschämt ignoriert worden war, wurde nun in die israelische Selbsterzählung integriert. Wo es vorher hieß: Wir gedenken der Helden von Warschau, weil die Gründung Israels ihrem Geist verpflichtet ist, da hieß es nun: Damit den Juden Israels nicht wieder geschieht, was den Juden Europas geschehen ist, gedenken wir der Opfer von Auschwitz.

Wenn es aber ein Holocaustbewusstsein gibt, in dessen Spiegel Deutschland etwas über sich selbst lernen könnte, dann ist es nicht das israelische, sondern das amerikanische. Unter anderen Voraussetzungen traf es dort nämlich auch auf eine mehrheitlich nicht-jüdische Gesellschaft. Wie Peter Novick in seiner Studie The Holocaust in American Life gezeigt hat, war die Erinnerung an das Leid der europäischen Juden ein kulturelles Mittel, um im Kontext der Kriege von 1967 und 1973 Solidarität mit Israel zu mobilisieren. Das Ergebnis dieser nachhaltig erfolgreichen Kulturarbeit war eine Erinnerung, die den Massenmord an den Juden in einer für Christen zugänglichen Form erzählte: als opferzentrierte Passionsgeschichte. Und es war diese Form, in der das größte NS-Verbrechen auch hierzulande ins Bewusstsein trat. Die deutsche Erinnerung an den Holocaust wurde eher konsumiert als errungen.

Vergessen, weil nicht konsumierbar, ist dagegen eine aufschlussreiche Debatte, die in den USA um die Holocausterinnerung geführt wurden. Ihr Anlass war die Gründung des U.S. Holocaust Memorials, die auf einen Impuls von Präsident Jimmy Carter zurückging. »Out of our memory …of the Holocaust we must forge an unshakable oath with all civilized people that never again will the world stand silent, never again will the world fail … to act in time to prevent this terrible crime of genocide … we must harness the outrage of our own memories to stamp out oppression wherever it exists. We must understand that human rights and human dignity are indivisible.« Diese Worte Carters von 1978, die heute den Besucher am Eingang des Memorials empfangen, stellen eine Variante des »Nie wieder!« dar, die 1945 so noch nicht formuliert wurde, aber in viele Richtungen anschlussfähig ist. Der Universalismus der Menschenrechte stellt die Erinnerung an den Holocaust in den Dienst der Prävention jeglichen Genozids. Carter reagierte damit auf die Frage, wie sich der Holocaust in einer überwiegend nicht-jüdischen Nation außerhalb Europas repräsentieren lässt. Der abstrakte Rechtsbegriff des Genozids hebt die Spannung einseitig auf, löst aber das Problem nicht. Denn der Genozid des Holocaust ist und bleibt ja ein spezifisch jüdischer Erfahrungshintergrund.

In klassischer Verdichtung wurde diese Spannung in einer Diskussion sichtbar, deren Protagonisten interessanterweise zwei Juden waren. Auf die Frage, wem genau das Andenken des Memorials gelten solle, antwortete der Auschwitz-Überlebende Eli Wiesel partikularistisch: den sechs Millionen ermordeten Juden. Simon Wiesenthal dagegen, der als »Nazijäger« mit der Täterperspektive vertraut war, antwortete mit ebenso guten Gründen universalistisch: den elf Millionen ermordeten Nicht-Kombattanten. Diese Zahl, gab Wiesenthal später zu, war ausgedacht. Denn sie folgte einer rein symbolischen Logik: Sechs ist mehr als fünf, womit einerseits der Dimension des jüdischen Opfers Rechnung getragen wird, andererseits aber auch der Solidarität aller Opfer des Nationalsozialismus.

Um von dieser Diskussion zu profitieren, müsste man aber gar nicht in die USA schauen. Denn sie wurde auch in Deutschland geführt, und zwar aus dem gleichen Anlass: der Frage, welche Form und welchen Sinn ein Holocaustdenkmal haben kann, das nicht in Israel steht. Obwohl sie keine 30 Jahre zurückliegt, ist auch diese Diskussion, wie sollte es anders sein, vollständig vergessen. Dabei war sie ein intellektueller Höhepunkt der deutschen Selbstkritik, der im Rückblick vor allem eines zeigt: Den »hart errungenen« Erinnerungskonsens, den Strauß so vehement verteidigt, hat es nie gegeben. Im Gegenteil, wenn es eine Errungenschaft der deutschen Erinnerung an den Holocaust gibt, dann ist es nicht das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, sondern die Debatte, die seiner Errichtung vorausging.

Es liegt auf der Hand, dass das Projekt eines Holocaustdenkmals in Deutschland eine andere Bedeutung haben musste als in den USA. Intensität und Tonlage waren deutlich schärfer, doch der zentrale Streitpunkt war der gleiche. Die Initiatoren des Mahnmals, die sich am Ende durchsetzten, argumentierten auf der Linie Wiesels. Die beispiellose Dimension des Holocaust müsse als solche, in einem eigenständigen Monument, sichtbar werden. Was aber aus Sicht eines jüdischen Überlebenden, ähnlich wie in Israel, Sinn ergab, warf in Deutschland eine grundsätzliche Frage auf: Kann im Land der Täter die Perspektive der Opfer eine repräsentative Form annehmen? Während die Befürworter des Holocaustdenkmals diese Frage ausweichend beantworteten, indem sie sich auf die Evidenz der Betroffenheit beriefen, sind die guten Gründe der Gegenseite längst verhallt. Denn anders als im Historikerstreit gab es sie. Und sie waren überzeugend.

Die Ablehnung eines Holocaustdenkmals war kein Akt der Selbstentlastung. Sie stand nicht im Zeichen der Schuldabwehr, sondern einer historisch informierten Nachdenklichkeit. Es ist daher kein Zufall, dass der schärfste Kritiker des Projekts der philosophierende Historiker Reinhart Koselleck war. Dessen Argument lag auf der Linie Wiesenthals, formuliert wurde es aber aus einer dezidiert deutschen Perspektive, also nicht im Geist der Opfersolidarität, sondern im Bewusstsein des Tatzusammenhangs. Wenn ein Land, das Menschen mit ganz unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten entwürdigt, verfolgt, misshandelt und ermordet hat, einer dieser Gruppen ein zentrales Denkmal widmet, dann, so Kosellecks schlagender Einwand, wird dadurch die Lebenswerthierarchie der SS unter umgekehrten Vorzeichen reproduziert. Ein konsistentes Denkmal müsse daher die Opfergruppen an einem Ort gemeinsam würdigen. Wer bezweifelt, dass damit ein fundamentales Problem der deutschen Erinnerungskultur angesprochen war, möge sich an Strauß‘ Schlusssätze erinnern. Im »Vorrang« der Holocausterinnerung einen absoluten »Wert« und eine Frage der »deutschen Ehre« zu sehen: Viel nackter kann sich der Gallert eines kollektiv Unbewussten kaum zeigen.

Aber auch die kontrafaktische Stilisierung des Holocaust zu einem nationalen Gedächtnisgut ist nicht vom Himmel gefallen. Strauß spricht nur schamlos aus, was sich verdruckst schon in der Rhetorik der Gründer zeigte. »In anderen Ländern«, sagte etwa Eberhard Jäckel, einer der Initiatoren des Holocaustdenkmals, »beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.« Der Verweis auf den Neid der anderen und das Bild des aufrechten Gangs sind Attribute des Stolzes. Wie verräterisch. Und wie falsch. Wenn es eine Körpermetapher dafür gibt, dass Deutsche nach 1945 allmählich wieder zu sich selbst und ihren Platz in der Welt finden konnten, dann ist es nicht der durchgedrückte Rücken, sondern der offene Blick. Sich selbst im Spiegel wiedererkennen und in den Augen der anderen bestehen zu können – darin lagen die Voraussetzungen der guten Normalität, die Deutschland heute genießt. Darin lägen aber auch die Voraussetzung für das, woran es den Deutschen nicht erst seit 1945, sondern vom dem ersten Tag ihrer Staatlichkeit an so schmerzlich mangelt: Selbstvertrauen. Wo es fehlt, bleibt nur das Rasen einer Selbstbehauptung, die ständig von sich selbst reden muss, weil sie Angst hat, von anderen beschämt zu werden. Seine Rationalisierung findet dieser Zustand in den Projektionen, die das Gefühl der Unsicherheit in Agenten der Bedrohung verwandelt.

Die Provokation von Buchenwald

Bei Simon Strauß haben diese Projektionen verschiedene Namen, Gesichter und Orte. Die Bedrohung für das deutsche Erinnerungskollektiv kommt mal von rechts, mal von links, mal ist sie »linksliberal«, wohnt also quasi nebenan. Doch das Herz der Gefahr schlägt für Strauß dort, wo sich – ewiger Horror der deutschen Mitte – die Extreme zum inneren Pendant des Zweifrontenkrieges zusammentun: an der Querfront. Dass die AfD das »Nie wieder!« nicht im Sinne der deutschen Erinnerungskultur auslegt und im Schulterschluss mit der pazifistischen Lebenslüge, wie sie das BSW geschlossen und Die Linke mehrheitlich verkörpert, ist so richtig wie geschenkt. Nicht durchgehen lassen kann man Strauß hingegen die infame Behauptung, auch Omri Boehm bediene das »querfrontische« Ressentiment gegen die deutsche Gedächtnisgemeinschaft.

Es spricht Bände, dass Boehm als »New Yorker Philosoph« eingeführt wird. Etwas weniger gewunden hätte Strauß nämlich auch sagen können, dass es sich um einen Enkel von Holocaust-Überlebenden handelt, der nicht nur in Israel aufgewachsen ist und Wehrdienst geleistet hat, sondern auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Doch das hätte seiner Pointe, nämlich dass es bei der »linksliberalen« Kritik an der die Holocausterinnerung irgendwie immer um Israel geht, viel von ihrer sophistischen Überredungskraft genommen. Man hätte Boehms Herkunft aber auch einfach ignorieren können, um sich, was bei einem Philosophen eigentlich selbstverständlich sein sollte, seinen Argumenten zuzuwenden.

*

Es ist von abgründiger Dialektik, dass der Text, um den es dabei geht, mittlerweile zwar in schriftlicher Form vorliegt, aber eigentlich als Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald gedacht war. Dass sie nicht gehalten wurde, verdankt sich einer Intervention des israelischen Botschafters Ron Prosor. Ohne ihren Inhalt zu kennen, genügte Prosor der Name des Redners, um ihn für inakzeptabel zu halten. Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätte, blieb kaum eine andere Wahl, als mit Rücksicht auf die noch lebenden KZ-Häftlinge, die der Veranstaltung als Ehrengäste beiwohnen sollten, und in Absprache mit Boehm dessen Auftritt abzusagen. Wie konnte es zu diesem Eklat kommen? Boehm versteht sich selbst als Zionist. Aber er gehört zu den Israelis, die sich dafür einsetzen, dass ihr Staat allen seiner Gewalt unterworfenen Menschen die gleichen Rechte gewährt, was heißt: auch in den besetzten Gebieten. Mit dem Willen zur Pointe könnte man sagen: Hier übt ein Verfassungspatriot Kritik an einer Demokratie ohne Verfassung.

Wenn Boehms Nachdenken über sein Heimatland ein Zentrum hat, dann ist es die Überzeugung, dass der Zionismus ohne Humanismus theoretisch nicht haltbar und praktisch nicht überlebensfähig ist. Weil jene Tradition nicht nur offen für diese ist, sondern sie sogar voraussetzt, kann die jüdische Nationalbewegung, solange sie mit dem prophetischen auch ihren humanistischen Ursprung verleugnet, nichts sein als ein ethnischer Nationalismus, der kein anderes Prinzip kennt als das Recht des Stärke. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass der Humanismus – und sei es in postkolonialer Gestalt – sich auf nichts als das Recht der Stärke berufen kann, sobald er das jüdische Recht auf nationale Selbstbestimmung in Frage stellt.

Im Grunde fordert Boehm für Israel nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine Einsicht, die auch Deutschland schmerzlich hat lernen müssen: dass nämlich ein Nationalstaat nur dann eine echte Demokratie sein kann, wenn es ihm gelingt, die eigene – unvermeidlich partikulare – Geschichte im – unvermeidlich universalen – Recht zu verankern. Das absolute Bestehen auf der eigenen Erfahrung führt in den Sumpf des nationalen Narzissmus, das absolute Bestehen auf universalen Prinzipien in die Bodenlosigkeit der Abstraktion. Dem lateinischen Wortsinn nach ist Boehms »radikaler Universalismus« durchaus nicht realitätsfremd, selbstherrlich oder gar extrem, sondern: verwurzelt. Und im Sinne dieser Metapher impliziert der Begriff der Verfassung auch die Notwendigkeit von Erinnerungskultur. Denn eine Demokratie, die sich nicht immer wieder aufs Neue ihrer doppelten Wurzel im universalen Recht und im nationalen Erfahrungshintergrund vergewissert, droht entweder in eine Tyrannei der Moral oder die Idiotie der Selbstbehauptung zu entarten.

Die erinnerungspolitische Provokation, die der Philosoph Boehm seinem Heimatland Israel in der Streitschrift Haifa Republic zugemutet hat, liegt in einem »Lob des Vergessens«. Die Formulierung stammt von einem Mitbürger Boehms, dem Holocaust-Überlebenden Yehuda Elkana. Anders als Elkana, der 1988 – in einem mittlerweile klassischen Text – den jüdischen Erinnerungszwang als Hindernis für den Frieden mit den Palästinensern betrachtete, plädiert Boehm für eine Erinnerungskultur, die Frieden ermöglicht, weil sie auf der Freiheit zum Vergessen beruht. Aus gutem Grund spielen die arabisch-israelischen Politiker Ahmad Tibi und Mansour Abbas eine Schlüsselrolle in seinem Buch. Beide hielten in der Knesset Reden, in denen sie den Opfern der Shoah die Reverenz erwiesen. Die frohe Botschaft dieser Geste liegt für Boehm darin, dass sie ebenso öffentlich wie freiwillig geschah. Tibi und Abbas verzichteten darauf, von ihren Adressaten, den israelischen Juden, eine reziproke Anerkennung des Unrechts zu fordern, das Israel den Palästinensern angetan hat. Anders gesagt: In diesem für das jüdische Erinnerungskollektiv feierlichen Moment vergaßen sie die Partikularität der eigenen Perspektive. Sofern sie nicht unbedingte Geltung beansprucht, sondern im Geist der Freundschaft andere Götter neben sich akzeptiert, ist die öffentliche Erinnerung gemäß dieser Deutung sogar ein Schlüssel für das Gelingen der Demokratie.

Die kritische Botschaft Boehms jedoch liegt darin, dass die israelischen Juden umgekehrt nicht bereit sind, ihren palästinensischen Mitbürgern das gleiche Geschenk zu machen. Die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung, ohne die der Staat Israel nicht hätte gegründet werden können – denn wie sollte ein jüdischer Nationalstaat mit einer arabischen Mehrheit aussehen? –, auch öffentlich als das zu bezeichnen, was sie war, hieße keineswegs, die Schwere dieses Unrechts mit der des Holocaust gleichzusetzen. Es hieße nur, aus staatsbürgerlicher Räson mit der Leiderfahrung der Palästinenser auch die eigene Schuld anzuerkennen – und einen feierlichen Moment lang die eigene Opfererfahrung zu vergessen. Dass umgekehrt, wie Boehm in einem Artikel für Haaretz schrieb, die Unterdrückung der Nakba-Erinnerung das Risiko der Wiederholung in sich trägt, liest sich heute, angesichts der aktuellen Entwicklung in Gaza, fast prophetisch. Apropos:

Die erinnerungspolitische Provokation, die der Philosoph Boehm Deutschland nicht zumuten durfte, lag darin, dass er in Anwesenheit von Holocaust-Überlebenden auch – und im Übrigen: sehr kurz – über Gaza sprachen wollte. Strauß nennt diese Absicht eine »hochamtliche Instrumentalisierung der deutschen Holocausterinnerung«, deren Verwirklichung einen »Tabubruch« dargestellt hätte. Obwohl die Abwehrformel den Sinn der Rede spektakulär verfehlt, spricht sie doch unverblümt aus, was Strauß in der Holocausterinnerung sieht: ein deutsches »Hochamt«, bei dem es nichts zu bereden gibt. Worte können in einem derart quasi-religiösen Rahmen nur einen liturgischen Zweck erfüllen. Sprecher und Zuhörer, heißt das, sind nicht durch ein Gespräch verbunden, in dessen nächster Runde auch die Zuhörer sprechen könnten und der Sprecher zuhören müsste. Als repräsentative Figuren mit festgelegten Rollen sollen sie nur eine Ordnung bekräftigen, die nicht zur Disposition steht.

Mit Blick auf ihre performative Qualität hat der Soziologe Y. Michal Bodemann diese Erinnerungskultur ein »Gedächtnistheater« genannt. Anders als Strauß behauptet, will diese Bezeichnung aber nicht »ridikülisieren«, sondern erhellen. Die Theatermetapher bezieht sich auf eine staatliche inszenierte Identitätspolitik, bei der die Mehrheit »ideologische Arbeit« an einer Minderheit verrichtet, indem sie ihr eine bestimmte Rolle zuweist. Und die Rolle der Juden im bundesrepublikanischen Gedenkritual besteht für Bodemann darin, durch ihre wohlwollende Präsenz die moralische Läuterung der Deutschen zu bezeugen.

Die theatralische (oder performative) Natur des deutsch-jüdischen Verhältnisses besitzt aber auch eine außenpolitische Dimension. Wie Daniel Marwecki kürzlich in seiner Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen gezeigt hat, folgt das Verhältnis der beiden Staaten der Logik eines rituellen Tauschs. Die Bundesrepublik lieferte Israel seit dem sog. Wiedergutmachungsabkommen von 1952 dringend benötigte Industriegüter, und später auch Waffen, was Israel dadurch vergalt, dass es dem »neuen« Deutschland moralische Absolution erteilte. Wie die Rede vom »Hochamt« die deutsche Erinnerungskultur, so bezeichnet auch der Begriff der »Staatsräson« das deutsch-israelische Verhältnis verräterisch präzise. Nimmt man seine Bedeutung ernst, bringt er nämlich zum Ausdruck, dass die vermeintlich einseitige »Verantwortung« für Israel in Wahrheit Teil einer bilateralen Tauschbeziehung ist, in der die Beschwörung von Moral auf beiden Seiten dem Staatsinteresse dient.

*

Ein Schlüssel zum Verständnis des Philosophen Boehm liegt im Begriff der Öffentlichkeit. Er bezeichnet den Ort, an dem auch die Philosophie politische Wirkung entfalten kann, weil sie sich vor einem Publikum rechtfertigen muss. Anders als die politische Rede, die ein Lager für bestimmte Ziele mobilisieren soll, bezieht sich die philosophische Rede auf die allgemeinen Voraussetzungen des Staates, einen ideellen Gemeinbesitz, ohne den jede Herrschaft in Tyrannei zu entarten droht. Das Scharnier zwischen Philosophie und Politik erkennt Boehm in der Universalität des Rechts, die ihren Ausdruck ebenso in einer demokratischen Verfassung wie im Menschen- und Völkerrecht findet. Dass Deutschland den vom Internationalen Strafgerichtshof verhängten Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu vollziehen muss, ist für Boehm – anders als für die israelische Regierung und den Bundeskanzler – keine Frage. Ron Prosor traf also durchaus einen Punkt, als er monierte, dessen Rede würde das Gedenken »politisieren«. Zugleich aber verhüllte er den Elefanten im Raum. Denn seine eigene Forderung war ja alles andere als unpolitisch. Oder wie wollte man es nennen, wenn der Botschafter Israels Einfluss auf eine Gedenkveranstaltung in Deutschland nimmt, um einen Keil zwischen das humanitäre Völkerrecht und die deutsche Verantwortung für sein Land zu treiben?

Was Prosor verteidigte, war nicht der unpolitische Charakter des Gedenkens, sondern eine Idee von Öffentlichkeit, die man – mit Habermas und im Sinne Bodemanns – »repräsentativ« nennen könnte. Boehm dagegen bestand darauf, dass Buchenwald ein Ort der – wieder mit Habermas – »kommunikativen« Öffentlichkeit ist, an dem eine demokratische Gemeinschaft ihre Ziele und Zwecke verhandeln kann. Anders als behauptet, steht im Zentrum der ungehaltenen Rede nämlich nicht die Kritik an Israel, sondern die Möglichkeit deutscher Selbstkritik. Wie haltlos die ganze Skandalisierung ist, beweist Strauß im Übrigen ohne jedes Zutun selbst. Indem er in Buchenwald auch über Gaza reden wollte, führe Boehm »jüdische Opfergeschichte gegen israelischen Regierungshandeln ins Feld« und treibe »damit einen Keil in den Konnex zwischen Holocaustverbrechen und Existenzrecht Israels«. Nicht nur, dass es Strauß‘ Geheimnis bleibt, wo der Zionist Boehm dieses Recht auch nur ansatzweise in Frage gestellt hätte. Er schenkt ihm sogar noch die guten Gründe: »Wer Israels Regierung kritisieren will, kann das tun, ohne das Israels Existenzrecht in Zweifel zu ziehen.« Aha! – um nicht zu sagen: Häh?! Aber schenken wir dem Autor den Seufzer der Ratlosigkeit, der sich jedem nüchternen Leser angesichts dieser wirren Simulation von Rationalität entringen muss. Stimmen wir einfach dem zweiten Satz vorbehaltlos zu und ergänzen: Das Völkerrecht schützt Israels Existenz, nicht seine Politiker. Und es garantiert den Palästinensern die gleichen, unbedingten, also nicht erst durch Wohlverhalten zu verdienenden Rechte.

*

Wer an einem 8. Mai als Deutscher nicht anders kann, als die nationale Vergesslichkeit in die Sprache der Täter zu kleiden, macht kein Angebot zu einer – überfälligen – Revision der deutschen Erinnerungskultur. Er bezeugt ein intellektuelles und moralisches Versagen, aus dem es nur einen Rettungsweg gibt: historische Bildung.

Im Gegensatz zum Berliner Theaterkritiker Strauß weiß der israelische Philosoph Boehm sehr genau, in welche Geschichte sich seine Rede eingeschrieben hätte. Ohne dass er es aussprechen müsste, steht sein »Nie wieder!« in der Tradition des antifaschistischen Schwurs von Buchenwald, des humanistischen Minimums bei Adorno und der zionistischen Unabhängigkeitserklärung. Auf Gaza wäre er nicht zu sprechen gekommen, um eine Rechnung mit Israel zu begleichen, sondern um an Deutschland eine Frage zu adressieren, die im Grunde die ganze Welt angeht: Wozu erinnern wir uns eigentlich an den Holocaust und das Ende der nationalsozialistischen Tyrannei? In dieser Frage nach dem Zweck der Erinnerung hätte die wahre Provokation seiner Rede gelegen. Gibt es, wie es ein (anti-)deutscher Intellektueller zugespitzt formulierte, einen »zionistischen kategorischen Imperativ«, der den jüdischen Nationalstaat zum absoluten Zweck erklärt? Oder hat Boehm Recht, wenn er darin nicht nur einen Verrat am Kategorischen Imperativ Kants sieht, sondern auch an den Juden, weil sie damit als ein gesondertes Kollektiv aus der Universalität der Menschheit ausgeschlossen wären?

Meine Antwort als deutscher Patriot steht fest. Ob sich im verengten »Nie wieder wir!« ein ungelöstes Problem des Zionismus verbirgt, mag eine Frage sein, die nicht nur Israel angeht. Dass aber die Verstrickung in den israelischen Partikularismus Deutschland in die Sackgasse der Selbstvergessenheit geführt hat: Dieser Missstand lässt sich historisch rekonstruieren, aber er ist keine Konsequenz der deutschen Geschichte. Es liegt in unser aller Verantwortung, dass sich, wie Boehm hätte sagen wollen, »Buchenwald niemals wiederholt«. Aber was bedeutet das? Will die Parole Geltung beanspruchen, muss sie, um ein Wort Dan Diners zuzuspitzen, mehr zu bieten haben als nur eine »negative Symbiose« deutsch-israelischer Identitätspolitik. Lässt sie sich die Frage nach ihren Gründe gefallen, kann die Antwort nur lauten, dass alle partikularen Perspektiven sich vor dem Hintergrund einer geteilten Menschlichkeit rechtfertigen müssen. Weil es der Universalität des Rechts, der Philosophie und der Literatur genauso an Macht ermangelt wie der Solidarität mit den Verdammten dieser Erde, mag das utopisch klingen. Einer Macht aber, die sich auf nichts berufen kann als die eigene Stärke, wird die Kraft zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zum Frieden ewig fehlen.