Vulgär allzumenschlich: Fischer von Erlach

Wer über die anspruchsvolle Treppe zur Ausstellung steigt, weil man vor dem Besuch dieser Ausstellung erst einmal innehalten und sich sammeln mag, mit vielleicht einem schwarzen Verlängerten im Café mit der umlaufenden Aussichtsterasse des hervorragend umgebauten und erneuerten Wienmuseums, der stößt, die Treppen noch in den Oberschenkeln, auf einen weiten Raum in flacher U-Form mit effektstarker Ausstellungsarchitektur und in Sonderheit, wenn man vielleicht effektskeptisch den Blick ausweichen lässt, rechterhand auf einen nicht sehr großen Spiegel. 

Dieser Spiegel scheint nicht ganz klar, er gibt Bilder, die sich nicht sicher sind, zu schweben scheinen, mit den Dimensionen spielen, den Beobachter, jedenfalls den Autor, minimal ins Schwanken bringen. Hier ist eine Einladung, Realität neu zu entdecken. Dazu trägt dessen ovale, oder viel genauer: elliptische Form bei. Im Nachhinein tritt es zunehmend ins Bewusstsein, dass dies ein Leitmotiv ist – der Ausstellung ja, auch, aber vor allem des künstlerischen Schaffens Johann Bernhard Fischer von Erlachs. Dieses Leitmotiv lässt sich nicht nur in vielen Exponaten erkennen (die hinsichtlich der Architektur und integrierten Großskulpturen selbstverständlich nur Fotografien, Skizzen, Gemälde und Modelle aufbieten können), sondern die Ausstellung als eigenes Werk spielt selbst damit, mit leisem Witz.  

Der Spiegel zum Beispiel ist auf geringer Fläche gleich dreimal präsent und doch sieht man jeweils nur einen allein: Geht man um eine Ecke, weiter rechterhand, erstrahlt, hervorragend in Szene gesetzt, Carlo Marattas Gemälde Batseba im Bade. Auch hier ist man zunächst spontan nur angetan und genießt die Komposition, die Farben und die Perspektiven, und erst nachwirkend kommt das Schwebende, Verunsichernde, für unsere Augen leicht Unscharfe zu Bewusstsein: hier aber ikonologisch, nicht physikalisch. Denn das Gemälde macht den Betrachter mit dem klandestinen Blick König Davids, mit dem wir doch sonst positive Assoziationen verbinden, sinneslüstern schauen. Ein Blick, der zu Verrat und schreiendem Unrecht führte, weil er nicht bei Sinnen war und blieb. Zugleich ist der Blick Batsebas in genau jenen elliptischen Spiegel gerichtet, der uns selbst gerade schon verunsichert hatte. Das Bild, das Batseba von ihrem Gesicht und wir mit ihr sehen, gibt erneut eine andere Realität, diesmal zu der des Bildes, es ist eine andere Batseba, leicht unklar, nicht so schön, fast vulgär. Die Dienerin, die den Spiegel hält, tut es wissend und ohne Freude. Hinter dem Glanz, dem hohen Ansehen des Bewunderten steht die Vulgarität des Allzumenschlichen. Demut mag daraus bestärkt werden, diese Botschaft kommt aber schleichend, nicht pädagogisch. Und dann geht man nochmals um eine Ecke (alles immer gegen die offizielle Wegleitung I-IX) und trifft nochmals auf diesen elliptischen Spiegel, jedenfalls auf seinen Rahmen, gleiches Format, gleiches Material, doch ohne Spiegelglas und ohne weiße Farbe. Im Rahmen eine Skizze, die auf der „Rückseite der Zeichnung des Ehernen Meeres im Tempel von Jerusalem, Faksimile“. Der Inhalt dieser Skizze wird nicht bezeichnet. Es könnte vieles sein, ich rätselte lange, dann sah ich ein erigiertes Geschlecht. Und mehr hätte ich zu diesen elliptischen Spiegeln nicht zu sagen. 

Diese Ausstellung und ihre Inszenierungsarchitektur sind famos und poetisch und zugleich unprätentiös. Zum einen ermöglicht sie allen Besuchern, und mir scheint vieler Bildungsstufen, echtes Lernen, sie geht dazu solide werkchronologisch oder berufsbiographisch vor mit klarer Gedankenführung und hervorragender Verbindung von dichten Informationen und erschließenden Exponaten. Zum anderen, darunter liegend, macht gerade ein zweiter Besuch regelrecht spürbar, dass hier die Form der Ausstellung und ihre Botschaft eine Einheit bilden (bei aller nötigen Zweckhaftigkeit): Sie weist eine klare Geometrie auf, verwendet geometrisch verschiedene Ausstellungskörper in geordneter Unordnung, eröffnet immer wieder überraschende kleine Räume, die aber stets Teil des ganzen Raums bleiben, des großen flachen Us, und sie wählt alles klug und streng aus. So kommen einzelne Exponate zu spektakulärer Wirkung wie die monumentale Schlangenvase gegen Ende der Wegleitung. In einem Park unter Dutzenden mag man daran achtlos vorbeilaufen, hier aber kann man sich an ihren vielfachen Ovalen nicht sattsehen. Und erneut ist es bei aller hinreißenden Schönheit eine nur halbwegs verborgene Ikonologie des immer gegenwärtigen Sündenfalls, der unter einem strafenden Gott das Leben prekär macht. 

Zu danken hat man dieses temporäre Gesamtkunstwerk den Kuratoren Andreas Nierhaus und Peter Husty und ihrer Zusammenarbeit mit dem Gestalter Werner Feiersinger. Feiersingers Fotos und besonders seinen rekonstruktiven Skizzen verdankt der Besucher besonderen Aufschluss. Und dieser Aufschluss besteht in einer Verflüssigung gängiger Klischees über den Barock. Es ließe sich das zweifellos auch mit Bernini oder Rubens zu Wege bringen. Fischer von Erlachs Schaffen als deren naher oder ferner Schüler, als Ultra- oder Transmontaner, wenn man so sagen will, liefert allerdings sehr klar sprechendes Material. 

Il barocco, ursprünglich, einigermaßen, der skurrile Einfall, das überraschend Hervortretende, er zieht heute jedes Jahr millionenweise Heerscharen von Touristen in seinen Bann oder, jedenfalls, wenn vielleicht nicht Bann, so doch vor seinen Selfiehintergrund. Nicht nach edler Einfalt und stiller Größe suchen die gehetzten Touristen, sondern nach dem Aufregenden, Fremden, Merckwuerdigen.  

„Der Barock“ erst gut 150 Jahre nach der Blüte der Werke, die man ihm nun zurechnete, zum Kunststil-Begriff geworden, verbunden zugleich mit dem Boom der historistischen Architektur, so auch des Neobarocken. Wien ist voll davon – so, wie viele Hauptstädte des 19. Jahrhunderts. „Barock“ wurde in diesem Zusammenhang als Beeindruckungsarchitektur und -kunst gelesen und imitiert, als Propagandainstrument gegenreformatorischer and antifreiheitlicher Großinstitutionen. 

Diese beiden Klischeeelemente bestimmen das öffentliche Bild des Barock und diese Ausstellung in Wien (zuvor in Salzburg) unterminiert sie auf eine wirksame Weise. Das schrittweise Entstehen dessen, was später Barock genannt wurde, wird (anhand der Bezüge zu Rom und Bernini) deutlich als eine intellektuelle und keineswegs abrupte, intentionalistisch zu erklärende Entstehung aus der Rezeption der Vorgängerwerke der Renaissance und des Manierismus. Es ging alles Hand in Hand (wie man z.B. auch anhand des Mausoleums Ferdinands II. in Graz sehen kann). Das, was Fischer aus Rom, der Werkstätte Berninis und dem Umfeld Christina von Schwedens, mitbrachte, waren Formideen der Räumlichkeit und intellektuelle Ideen eines Weltzusammenhangs und dessen alle kulturelle Bigotterie verunsichernden tiefen und gleichsam gebogenen räumlicher Dimensionen. Fischer von Erlachs Konstruieren atmet in jedem Moment diese intellektuelle Weite (soweit die Bauherren ihn nicht zu Kompromissen zwangen, aber selbst dann blieb es noch sichtbar). Il barocco, der skurrile Einfall, war vielen Zeitgenossen eben ein solcher.  

Fischer von Erlach war in vielem weit aus der Zeit gefallen und sein großes Glück war vor allem, dass ihm die Romerfahrung materiell möglich war, dass er dann aus 15/16 Jahren Romaufenthalt kam, das seit Sixtus V neu erfunden worden war, und aber auch, dass Louis XIV von den Schlachtfeldern und von Versailles, den auch symbolischen Kampf um die europäische Suprematie führte. Schließlich konnte sich Wien als Residenzstadt der Habsburger dank 1683 und der Siege Prinz Eugens nun auch modern erfinden. Es gab einen Bedarf nach romgesättigten Architekten wie ihm. 

Die Ausstellung führt den Besucher durch neun Abteilungen. 

  1. Fischer von Erlachs römischer Erfahrungsraum wird entfaltet. 
  2. Diese Abteilung widmet sich nur einem, gleichwohl besonders aufschlussreichen Projekt Fischers, nämlich dem Entwurf für den Liechtensteinischen Palast in der Rossau. Der Palastentwurf war dem Fürsten denn doch zu barocco, aber immerhin folgte man zunächst seinem Entwurf für das Belvedere. In den Skizzen sieht man, spürt man das Besondere dieser Architektur, die Öffnung in einen unabsehbaren Raum, die skulpturale Ausgestaltung der Fassaden, die Raumwerdung der Fassaden, die Einbettung des Baus in eine Landschaft. 
  3. Der nächste Schritt wieder erkenntnisreich: Fischer baute in Wien zunächst viele adlige Landvillen, das verschaffte ihm viel Freiheit der Gestaltung. Feiersinger macht es mit rekonstruktiven Grundrissskizzen ausgezeichnet deutlich: Es gibt bei Fischer scheinbar nichts Tragendes mehr, alles scheint zu schweben, Räume verlieren ihre klare Definition. Und allenthalben tanzen die Ellipsen. Il barocco! 
  4. Abteilung 4 zeigt Fischers Ankommen bei Hofe, nun Leopolds I. Buchstäblich verrückte Entwürfe brachte er hervor, die sich allerdings noch nicht in dauerhaften Großarchitekturen realisieren ließen. 
  5. Darauf folgt die Darstellung seines Salzburger Glücks bei Johann Ernst von Thun und Hohenstein, dem neuen Salzburger Fürsterzbischof. In nur wenigen Jahren entfaltete er dort eine gewaltige Bautätigkeit, die Salzburg bis heute prägen darf. Diese Abteilung ist angemessen umfangreich, wieder profitiert die Ausstellung von Feiersinger, hier vor allem von seinen Fotografien, die desgleichen nicht nur abbilden wollen, sondern das Spiel der räumlichen Phantasie durch gewollte Unvollständigkeit fortführen. 
  6. Das Herzstück der Ausstellung bildet allerdings die Auseinandersetzung mit Fischer von Erlachs epochalen schriftstellerischen Werk, seinem „Entwurff Einer Historischen Architectur“, an der er über viele Jahre nebenher gearbeitet, deren Inspiration ihn aus Rom begleitet hatte. 1721 wurden die fünf großformatigen Bücher in Wien publiziert und waren eine europäische Sensation. Hier legte Fischer die Karten gleichsam auf den Tisch, seine künstlerische Idee wurde erkennbar als ein erste Syntheseleistung weltweiter Bau- und Gestaltungsideen. Man fühlt sich an den Bilderatlas Warburgs erinnert, wenn diese Formulierung kein Anachronismus wäre. Natürlich war das gegründet auf nur unsichere Bildquellen hinsichtlich nicht-europäischer Bauten, aber es ist ein Pionierwerk und das Bemühen um respektvolle und interessierte Erschließung nicht-europäischer Gestaltungsideen bleibt verblüffend. Es nimmt um Jahrzehnte vorweg, was Voltaire für die Geschichtsschreibung mit seinem „Essay sur l’Histoire générale et sur les moeurs et l’esprit des nations“ (1756-63) vorgelegt hat. 
  7. Darauf folgt ein eher sachsystematischer Schritt in einem kleinen Abschnitt: die sozialen Grundlagen und Kontexte von Fischers Schaffen in Wien werden aspekthaft entfaltet, vor allem aber wird der Wiener Hochadel in seinem Bauehrgeiz und seinen Formenansprüchen thematisiert. Ob das mit den überaus gut bekannten „feinen Unterschieden“ gut überschrieben ist, bleibe dahingestellt. 
  8. Karl VI. besteigt 1711 den Thron in Wien und mit ihm kommt eine neue, späte Chance für Fischer zu Erlach. Karlskirche, den Prunksaal der Hofbibliothek und die Hofstallungen konnte er konstruieren. 
  9. Schließlich führt die Ausstellung noch in die Geschichte des Karlsplatzes, des Ensembles, das von der Karlskirche geprägt wird und das sehr lange Zeit nicht gut oder nur unter Schwierigkeiten in den expandierenden städtischen Körper integriert werden konnte. Hier wird der Ausstellungsort selbstreflexiv, weil das Wienmuseum ein wesentliches Element dieses Ensembles ist und dessen Ort und Gestaltung ein ausführlicher und langandauernder Gegenstand der Debatte in Wien war.   

Mit dieser Karlskirche steht der Besucher Aug in Aug, wenn er vor dem Besuch seinen Verlängerten genommen hat. Die neue Aussichtsterasse des Wienmuseums macht die Karlskirche zu ihrem Dauerexponat. Was für ein glücklicher Ort für die grosse aktuelle Fischer-von-Erlach-Ausstellung! Die Karlskirche ist das finale Meisterwerk, einmalig in ihrer Spannweite zwischen Konstantinopel, Rom und Wien, in ihrer Synthese der Epochen und Kulturen. 

“Vota mea reddam in conspectu timentium deum”, steht über ihrem Portal. Auch sie ist trotz ihrer Spannweite die vors Auge gesetzte Demut: eine Votivkirche, die Erfüllung eines Gelübdes Karls VI. im Herbst 1713, auf dem Höhepunkt der letzten Pestwelle in Wien.  

Überflüssig zu erwähnen, dass ein Besuch dieser Ausstellung unbedingt empfehlenswert ist. 

„Fischer von Erlach. Entwurf einer historischen Architektur“, Wienmuseum (in Kooperation mit dem Salzburg Museum), Wien, 1.2.2024 – 28.4.2024.