Verbiegung eines Lebenswegs. Zu Durs Grünbeins „Der Komet“

Durs Grünbeins viel gelobtem Buch Der Komet etwas Abträgliches nachzurufen, könnte nach Missgunst aussehen. Dass man sich von dem Buch eingenommen und bereichert finden kann, ist auch überhaupt nicht zu bestreiten. Was jedoch, wenn das Lob seiner Wirklichkeitstreue auf einer Täuschung beruht, wenn es den Lebensweg der „einfachen Frau bis zum Untergang Dresdens“, von dem es handelt, Grünbeins Großmutter Dora Wachtel, in maßgeblichen Partien nicht gegeben haben kann, nicht gegeben hat?

Was man an reinen Lebenstatsachen von dieser Dora erfährt, ist schnell zusammengefasst. Geboren im Januar 1920 in einfachen Verhältnissen, wächst sie in Niederschlesien bei einem verlotterten Vater und einer unfreundlichen Stiefmutter auf, besucht die Volksschule und wird mit fünfzehn Jahren Verkäuferin in einem Goldberger Blumenladen. Dort wird ein zehn Jahre älterer Schlachtergeselle auf sie aufmerksam, wirbt um sie, will sie nach Dresden mitnehmen und heiraten, und sie, glücklich über die versprochene Erlösung aus ihrem freudlosen Milieu, trifft mit sechzehn Jahren in Dresden ein. Der Geselle Oskar Wachtel, angestellt im Dresdner Schlachthof, bringt sie als Hausmädchen im Vorort Gruna unter, und die Dienstfamilie stellt ihr auch ein Zimmer. Er seinerseits wohnt zur Untermiete am entgegengesetzten Ende der Stadt, näher zum Schlachthof. Sofort bemüht man sich deshalb um eine Wohnung, und obwohl das längere Zeit in Anspruch zu nehmen scheint – „als die Wohnung, das Haus in der Liliengasse, endlich gefunden war“–, ist Dora doch immer nur erst sechzehn, als man in die schöne gemeinsame Unterkunft einziehen kann. (S. 49 /53) Im Mai darauf bekommt sie ihr erstes Kind, Gisela, und nach drei Jahren, im Mai 1940, die zweite Tochter Rosemarie, die spätere Mutter des Autors. Da ist der Vater aber schon im Krieg und hat nur alle paar Monate mal Urlaub. Weihnachten 1943 kommt er ein letztes Mal, und die Feldpost bleibt bald aus. So ist sie mit den Kindern allein, als Dresden im Februar 1945 in Schutt und Asche sinkt. Obendrein liegt sie mit Scharlach im Krankenhaus, doch eine couragierte Freundin rettet die Kinder, und auch sie, von den Schwestern ans Elbufer gebracht, bleibt am Leben. Vieles oder manches davon hat die Großmutter dem Autor Grünbein selbst noch erzählt, sodass er gewissermaßen ein Vermächtnis einlöst, wenn er es nunmehr der Öffentlichkeit mitteilt.

So überschaubar, wie es sich hier liest, beschreibt Grünbein das Geschehen allerdings nicht. Es lässt es vielmehr in girlandenhaften, zeitlich unsortierten Erzählschleifen mal näher, mal ferner an einem vorbeiziehen, und die gelegentlich eingestreuten Daten verwischen die Chronologie fast mehr, als dass sie sie stützen. Schon das Eintreffen Doras in Dresden wird verschieden datiert. Einmal heißt es, sie sei „eines Nachmittags im Sommer 1935“ dort angekommen (S. 44), fünfundzwanzig Seiten später jedoch: „Ankunft in Dresden, März 1936“, ein kalter Wintertag. (S. 70) Auch der Tag ihrer Entjungferung – man muss das ansprechen – irrlichtert bedenklich. Angeblich geschieht es, als sie noch Blumenverkäuferin in Goldberg und erst fünfzehn ist, und vom Tag danach, einem Apriltag, wird mitgeteilt, dass ihr eine Schlagzeile des Völkischen Beobachters zum „tausendsten Kilometer der Reichsautobahn“ in Erinnerung geblieben sei. (S. 39) Dieses Ereignis jedoch verweist auf den 27. September 1936, der pomphaft an vielen Autobahnstücken – auch in Dresden – gefeiert wurde. Was soll jetzt gelten? Grünbein jedenfalls hätte gut daran getan, sich der zeitlichen Bedeutung seines Autobahn-Hinweises zu versichern, ehe er ihn so markant in seiner Geschichte platzierte.

Widersprüchlich sind aber auch die Angaben zu Doras Heirat. Als sie mit noch nicht einmal siebzehn schwanger wird, würde sie gern rasch heiraten, „musste aber auf den Termin warten, so wollte es das Gesetz“. (S. 138) Welchen Termin? Welches Gesetz? Jedenfalls kommt das Kind Anfang Mai 1937 unehelich zur Welt. Doch das ist für sie kein Drama. Die Hausgemeinschaft hält zu ihr, rückt zusammen, denn gleichzeitig bekommt auch ihre Freundin, Mithausbewohnerin, ein Kind, und so ist geteilte Freude doppelte Freude. Im Herbst 1937, sie immer noch erst siebzehn, ist der Weg zum Standesamt aber frei, am 9. Oktober kann geheiratet werden. (S. 139) Wie jedoch erklärt sich, dass man schon vorher liest, Weihnachten 1938 sei das erste Mal gewesen, dass sie das Fest „in ihrem neuen Heim in der Liliengasse“ gefeiert hätten, das Kind anderthalb Jahre alt? (S. 92)

Es ist dies ausnahmsweise richtig und erklärt sich so, dass Doras erste Dresdner Jahre, wie hier erzählt, eine einzige Erfindung sind. Dass nämlich ein unverheiratetes Paar, sie erst sechzehn, damals eine eigene Wohnung beziehen konnte, ist die reine Unmöglichkeit. Im Wege stand ihr der sogenannte „Kuppelei-Paragraph“, Strafgesetzbuch § 180, der in beiden Teilen Deutschlands sogar noch bis Ende der 1960er-Jahre galt. Er untersagte es Vermietern, unverheirateten Paaren eine Wohnung zu überlassen, bewehrt mit Geldstrafen und sogar Gefängnis. Es erübrigt sich, darüber nachzudenken, wie es Oskar und Dora gelungen sein könnte, diese Hürde zu überwinden, denn tatsächlich geschah es nicht. Den Fleischergesellen Wachtel hat es ja gegeben, und so ist er im Dresdner Adressbuch auch zu finden. Er taucht dort erstmals 1939 auf, Liliengasse 4, und mithin eben dort, wo auch Grünbein die Großmutter Dora wohnen lässt. Erst Ende 1938 sind die beiden also in eine gemeinsame Wohnung gezogen, verheiratet endlich, und das bedeutet auch: drei Jahre konnten sie nur getrennt und zur Untermiete in Dresden wohnen.

Warum erst 1938? Als Dora nach Dresden kam, lag die Möglichkeit einer Heirat für sie eigentlich in weiter Ferne, erst mit 21 Jahren durften Frau wie Mann nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1303, eine Ehe eingehen. Hitler, an der Volksvermehrung interessiert, senkte jedoch im Juli 1938 das Heiratsalter für Frauen auf sechzehn Jahre ab, sodass nur für Männer die Volljährigkeitsgrenze von einundzwanzig noch galt. Für Dora und Oskar, Eltern eines unehelichen Kindes, muss das das reine Geschenk gewesen sein. Endlich konnten sie eine Familie werden! Allerdings war auch die Heirat noch mit erheblichen Auflagen verbunden. Nach den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 mussten alle Heiratenden ihre „arische“ Herkunft nachweisen, also für je vier Großeltern die Geburtsurkunden beibringen. Auch das dürfte für Dora mit ihrem problematischen Elternhaus, ihre Mutter bei ihrer Geburt verstorben, einigen Aufwand erfordert haben. Wenn es von diesen Gesetzen bei Grünbein heißt, „wen betraf das schon, jedenfalls nicht die Mehrheit der Volksgemeinschaft“ (S. 55), so ist das ein großer Irrtum. Millionen von Brautpaaren mussten sich damals mit ihrer Abstammung beschäftigen, erstmals von ihr überhaupt Notiz nehmen, und die Standesämter bekamen komplizierte Tabellen, wie sie nicht nur mit Juden, sondern auch mit „Mischlingen“ jedweden Grades zu verfahren hatten.

Alle die Nöte, die Dora mit dem Getrenntleben, dem unehelichen Kind und der Dokumentenbeschaffung zur Heirat gehabt haben wird, kommen bei Grünbein nicht vor. Dabei hätte es interessant sein können, wie eine minderjährige ledige Mutter damals behandelt worden ist. Hat die Dienstfamilie ihr gekündigt? Haben sich der Reichsmütterdienst, die Reichsarbeitsgemeinschaft Mutter und Kind und noch mehrere weitere NS-Organisationen dieser Art ihrer angenommen, ihr einen Heimplatz angewiesen, ihr einen Vormund zugeteilt? Oder haben ihre Eltern das übernommen? Ihre ganze rechtliche Situation musste ja mit dem Kind amtlich geregelt werden, der Kindesvater Oskar war in keiner einzigen Frage für sie zuständig. So schrumpfen die vier Jahre bis zum Ausbruch des Krieges, die ihre „goldene Zeit“ gewesen sein sollen (S. 41), bei näherer Betrachtung auf kaum mehr als ein Jahr zusammen.

Was hat Durs Grünbein zu dieser Verundeutlichung und eigentlich Beschönigung der Verhältnisse seiner Großmutter bewogen? Die Wahrheit, ihre Wahrheit, hätte zu dem Vorkriegsbild von Dresden, das er entwerfen wollte, nicht gepasst. Dresden, diese schönste, lebendigste, liebenswürdigste, großzügigste, bequemste aller Städte, als die Grünbein sie schildert, ein Juwel, in dem Dora, „aus geringsten Verhältnissen kommend, plötzlich jemand war“ (S. 48) – wie hätte sich diese Hommage ausgenommen mit einer Siebzehnjährigen, die zur Untermiete wohnte, unverheiratet ein Kind erwartete und sich gewiss nichts vom dem Schick, der ihr nachgesagt wird, leisten konnte? Doch Grünbein wird nicht müde, ihr Leben mit den Stadtverhältnissen anzureichern, alles bemerkt sie, genießt sie, atmet sie ein, sodass es ihm ersichtlich mehr auf das Stadt- und Zeitbild als auf Doras individuelles Lebensgefühl ankommt. Eigentlich ist diese „einfache Frau“ nur ein Medium, das mit all dem angefüllt wird, was Grünbein über die Verhältnisse von damals weiß, was man sich aber nicht einmal annähernd als die Wahrnehmung einer jungen Frau dieser Jahre vorstellen kann.

Die Überschreitung ihres Horizontes nimmt dabei mitunter absurde Formen an. Bei Besuchen in Breslau, noch im Mädchenalter, soll Dora mit Rotfrontleuten ins Gespräch gekommen sein und bemerkt haben, dass bei ihnen „dieselbe Disziplin wie bei den Nazis“ und zugleich „dieselbe Strenge“ vorgeherrscht habe, „wenn man sich mit ihnen auf Diskussionen einließ“. Von einem dieser „Kämpfer“ habe sie sich einmal erklären lassen, „was es mit der Mehrheit in Rußland auf sich hatte“. (S. 91) Da sie zu dieser Zeit schon von Oskar begleitet wird, muss das 1935 gewesen sein – und da hätten sich ihr, der Fünfzehnjährigen, in Breslau Rotfrontleute zu erkennen gegeben und sie für den Kommunismus zu gewinnen versucht? Zwei Jahre später in Dresden sind es die Skandale um den Gauleiter Mutschmann, über die sie minutiös informiert ist, und damit sie ihn auch persönlich in seiner Lächerlichkeit wahrnehmen kann, besucht sie „im Winter 37“ – genau genommen im Februar – die Deutschen Skimeisterschaften im Erzgebirge und kann beobachten, „wie er dort unversehens stolperte und in den Schnee fiel“. (S. 142) Rätselhafterweise zieht sie da aber schon ihre Tochter Gisela im Schlitten hinter sich her, die eigentlich erst im Mai jenen Jahres zur Welt gekommen sein soll. Bloß um den Gauleiter ins Bild zu bringen, vernachlässigt Grünbein also ein weiteres Mal sein Datengerüst, von der Unwahrscheinlichkeit ihres Besuches der Skimeisterschaften gar nicht zu reden. Man begreift nicht, wie allgemein gelobt werden kann, dass er sich für das Zeitgeschehen weitgehend der Perspektive dieser Dora bedient, denn noch konstruierter, als oftmals hier der Fall, kann der Zeithintergrund an einen privaten Horizont kaum angeschlossen werden.

Misslich ist aber auch, dass es in Grünbeins opulentem Dresden-Panorama immer wieder Fehler, mitunter sogar unfassbare Fehler gibt. Die Überfülle an baedekerhaften Angaben, also einzeln benannten Gebäuden, Plätzen, Kinos, und Geschäften, ist keineswegs immer mit sicheren Anschauungen verbunden. Das beginnt bei Kleinigkeiten. Im Haus Liliengasse 4, dessen Bewohner fast adressbuchgenau (für 1939 und 1940) vorgestellt werden, wohnen die Wachtels im ersten Stock erst rechter Hand, gleich darauf jedoch linker Hand, und Wachtel soll sogar im Telefonbuch stehen „mit Namen und Adresse“. (S. 52/53, 92) Man möchte seine Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht ein einziger solcher Schlachtergeselle damals Telefon hatte – und Wachtel selbstverständlich hatte es auch nicht. Oder liegt hier nur eine Verwechslung mit dem Adressbuch vor? Dann zöge das die Frage nach sich, warum er nicht auch in den Jahren davor schon als Mieter der Wohnung genannt ist.

Dora in ihrem Bildungsbedürfnis geht mehrmals in die Galerie „Alte Meister“ und sieht dort einige der berühmtesten, einzeln benannten Gemälde. (S. 95) Doch „Alte Meister“? Niemand damals hat diesen Namen gebraucht, weil alles noch eine einzige Sammlung, nämlich „die“ Gemäldegalerie war. Dora eilt aber auch auf Stadtgängen „mit der Routine der Ortsansässigen über den Zwingerhof“, von Fremden „von oben herab“ angestarrt, die dort in Bussen herumgefahren werden. (S. 94) Busverkehr im Zwingerhof – man fasst es nicht. Und wo will sie da „routiniert“ überhaupt hingelangt sein? Aber auch, wenn sie die Oper besucht, um Wagner zu hören, wie sich das für eine „einfache Frau“ gehört, muss man sich wundern: sie nimmt „auf einem der hinteren Ränge Platz“, als ob dieses klassische Opernhaus, in dem es nur obere Ränge gibt, ein Amphitheater wäre. (S. 101)

Bei der Registrierung all der Sehenswürdigkeiten von Dresden und seiner Umgebung, die von Dora bemerkt werden, kann man etliche Male den Eindruck haben, einer Sightseeing-Tour beizuwohnen, so absichtlich werden sie in Szene gesetzt. Wenn sie, „wie so oft, die Abkürzung nahm“, nämlich um von der Liliengasse nahe Postplatz zum Altmarkt zu gelangen, dann geht sie „unter der Seufzerbrücke hindurch, am Fürstenzug entlang“, findet Zeit genug, wahrzunehmen, wer dort alles von den Wettinern abgebildet ist und wie Besucher „aus der ganzen Welt“ die Bilder studieren. (S. 94) Nur: welche Abkürzung? Einen größeren Umweg kann es es nicht geben. Auch zur Neustadt geht sie „flinken Schrittes“ hinüber, natürlich zur „Molkerei Gebrüder Pfund“, weiß aber nicht, dass es der Neustädter Markt ist, den sie streift, sondern hält ihn für den „Neumarkt“, weil sie von dem Markt an der Frauenkirche offenbar noch nie gehört hat. (S. 94 und 186) Und dann noch die wunderschöne Elblandschaft, „flußaufwärts die Weinberge der Lößnitz in Richtung Meißen, flußabwärts zog sich ein Gebirge hin, das man bequem erreichte auf einer Dampferfahrt über Pillnitz hinaus bis in die Sächsische Schweiz“. (S. 46) Flussaufwärts, flussabwärts – die Vertauschung ist ein Versehen, natürlich, doch man soll wohl auch nicht so kleinlich sein, von solchen Satzperioden auch noch Richtigkeit zu erwarten.

Alle diese Schwächen hätten sich durch ein sorgfältiges Lektorat fraglos beseitigen lassen, und man kann sich nur wundern, dass man nicht einen orts- und vergangenheitskundigen Dresdner den Text einmal hat durchsehen lassen. Einzuwenden, das sei bei Literatur, Dichtung, Poesie unangebracht, wäre abwegig. Innere Widersprüche sind auch durch den großzügigsten Literaturbegriff nicht gedeckt, und überhaupt sollte „Literatur“ keine Ausrede sein, sondern sie ist nur eine besondere Form, das Richtige und Wahre mitzuteilen. Insofern ist die Verbiegung des Lebensweges der Dora Wachtel, dessen Fehlerhaftigkeit immer wieder durchscheint, ein schwerer Mangel. „Was mich am meisten bedrückt, ist das Verwischen der Spuren dessen, was überhaupt geschah, unter meinen Vorfahren“, steht auf dem Umschlag des Buches. Es dürfte nicht so gemeint sein, aber man ist versucht den Autor zu fragen, warum er das Verwischen dann nicht unterlassen hat.