Enorme Streuung. Zur Ausstellung „History Tales“ in Wien
Ein kleiner Bildschirm steht auf einem Sockel, es läuft die Videoaufnahme einer Liveperformance, die zwischen 1977 und 1981 von Eleanor Antin produziert worden ist und in der es um Eleanor Nightingales Engagement im Krimkrieg geht, dem von 1853 bis 1856. Dieses Video hat eine Dauer von 64 Minuten, einen Stuhl gibt es nicht, anscheinend geht man nicht davon aus, dass Besucher dieses Kunstwerk als Ganzes kennenlernen und genießen wird, sondern es steht hier für etwas, dass es nicht selbst ist, nämlich die Exemplifikation der Aussage „wie die Fotografie der Malerei den Rang abläuft“ (so der Sektionstitel), was aber natürlich nicht sein kann. Man ist etwas ratlos.
Wer die zwei steilen Stiegen erklimmt aus dem Hochparterre der Akademie der bildenden Künste am Wiener Schillerplatz, sich auf dem Flur noch etwas orientiert hat, der findet die seit Ende dieses Septembers und noch bis Ende Mai 2024 laufende Ausstellung History Tales. Fakt und Fiktion im Historienbild. Der Stiegenaufstieg lohnt einigermaßen, so viel sei gesagt.
Schiller, an dessen Geburtstag ich die Ausstellung besuchte und dessen gewaltiges Denkmal vor der Akademie errichtet worden und natürlich auch an einem seiner Geburtstage enthüllt worden ist, schrieb einmal sinngemäß, dass auch der schöngeistige, nicht nur der Gebrauchskünstler Hand an sein Material lege und kaum Bedenken trage, diesem Material auch Gewalt anzutun. Er vermeide nur, sie, diese Gewalt, zu zeigen.
Viele Ausstellungsmacher der Gegenwart verorten ihr Metier mit guten oder schlechten Gründen ganz offenkundig eher im, wie Schiller es nennt, Mechanischen. Das gilt insbesondere für die Wiener History Tales. Nicht der ästhetische Wert der Exponate bestimmt den Zweck der Ausstellung, sondern der Blick auf ihre Wirkmechanismen. Wobei, auch das muss man hier schon sagen, als Historienbild konzipiert Werke immer auch beides waren, Monumente eines überzeitlich Schönen und auch Dokumente von Orientierung in der Zeit. Der konzentrierte Blick auf die Wirkmechanismen hindert die Ausstellung allerdings nicht, konventionelle Lichteffekte, Kombinationen und Kulissen zu errichten, als ob es doch um den ästhetischen Wert ginge. Das kann verwirren, aber der Autor dieser Zeilen war willens, den Absichten der Kuration zu folgen und sich nicht blenden zu lassen.
Die Absichten werden formuliert, sowohl in einem Besucherheft als auch, gekürzt, als Schrift an der Wand, und man muss seinen Assoziationsapparat schon gewaltsam disziplinieren, hier kein Menetekel zu sehen. Der Text verrät eine große Belesenheit in das kulturwissenschaftliche Schrifttum der transdisziplinären Gedächtnisstudien, der Ausstellung wird die Aufgabe zugedacht, nahezu alle möglichen Aspekte dieser Studien in breiter historischer Kontextualisierung zur Anschauung zu bringen. Man ist fasziniert.
In der Ausstellung hängen mal Kopien, mal technische Reproduktionen, immer wieder aber auch malerische Preziosen, jedenfalls nach der unmaßgeblichen Einschätzung meiner Betrachtung. Lange kann man vor zwei, ungefähr auf das Jahr 1700 datierten Miniaturen stehen, zum Beispiel, von Pietro Graziani: Aufbruch zur Schlacht und Reitergefecht. Auf kleinstem Format werden in regelrecht unheimlicher Weise eine Plastizität und eine detaillierte, leuchtende Farbigkeit erreicht, die einen auch heute noch zum Zuschauer machen, der den Pulverdampf noch zu riechen meint. Man versinkt darin wie in einem eigenen Erleben. Man ist dankbar, wenn man sich einmal löst, aber man fragt sich, inwiefern diese Bilder History Tales sein sollten? Möglicherweise werden hier auch Bilder des jüngst Vergangenen, der Gegenwartsvorgeschichte (wie sie Hans Günter Hockerts genannt hat), einbezogen. Dann wäre allerdings jedes „realistische“ Bild immer auch Historienbild. Unter den Historikerinnen und Historikern hält man allerdings sehr gern am Unterschied zwischen Quellen und Darstellung fest.
Die Ausstellung wurde in 13, meist kleinere Teile gegliedert. Sie reichen von „Aufstieg und Fall von Zivilisationen“ über „Die Jungfrau als Instrument militärischer Strategie“ und „Vulkane – Katastrophen und die ‚Eiserne Zeit‘ bis zu (in dreisprachiger Kodierung) „L’AVENIR. Who are we? Where we are going? Zeit in der Schwebe”. Das sind fraglos alles bedeutende Themen. Im Grund könnten Themen und Titel der 13 Sektionen allesamt Stoff für große Ausstellungen bilden. Die Bezeichnungen streuen enorm, in logischer Hinsicht, in sachlicher, aber auch kunstsystematischer. Und wer erwartet, sie würden einigermaßen kohärent aus dem anfangs an die Wand gebrachten Gesamtkonzept vermittelbar sein, wird enttäuscht. Abstrakte Theorieäußerung und Ausstellungspraxis stehen nebeneinander und geben sich nicht einmal die Hand, jedenfalls war davon nichts zu sehen. Zur Gattung der Historienmalerei gibt es eine reiche und auch zum Teil kontroverse Theorietradition, aus diesen Theorien mittleren Reichweite hätte sich gewiss Systematik entwickeln lassen. Gut, dass es so phantastische Einzelstücke gibt, die jeder und jedem, die sich für Historienmalerei interessieren, reichlich Stoff zu Anregung und erfreutem Genusse bieten.