Poetik des Macronismus: Michel Houellebecqs „Serotonin“

I

In Serotonin lässt Michel Houellebecq altbekannte europäische Dämonen aufmarschieren: einen deutschen Pädophilen, Kochsendungen, Holländer, Technokratenpaare im Nudistendorf, Thomas Mann, eine Japanerin, die Hunde “lutscht”, Tierärztinnen, die Ich-Erzähler lutschen, verzweifelte Bauern, die ihre Schrotflinten lutschen, Ex-Bauernfrauen, die nun Pianisten lutschen, Praktikanten, Macron, Alkoholiker. Freilich bildet das nicht die allererste Garnitur europäischer Dämonen, und würde gerade deswegen, eigentlich, hypothetisch, allerbesten Erzählstoff bieten. Keine Philologen, kein prekarisiertes Lumpenprofessoriat wie in Unterwerfung. Houellebecq gibt – und das ist ein Novum – den kulturellen Europhilen: Der deutsche Kinderschänder nennt sein zehnjähriges Opfer bei der Fellatio “Mein Liebchen”, und zwar auf Deutsch im französischen Originaltext. [1. “La fille semblait malgré son jeune âge s’acquitter de sa tâche avec compétence, l’ornithologue poussait de temps à autre un grognement satisfait, qu’il entrecoupait de mots tendres du genre « Mein Liebchen », enfin il semblait énormément tenir à cette fille, je n’aurais jamais cru ça, chez un type aussi froid.” (216).] “Noch nie hat Michel Houellebecq so ernsthaft und voller Emotion über die Liebe geschrieben”, verspricht uns der Klappentext.

Europa ist zur oralen Phase regrediert, und Houellebecq liefert mit Serotonin seinen dämlichsten, wenn auch stellenweise amüsantesten und reaktionärsten Roman. Dämlich ist Serotonin im klassischen, protestantischen Sinne eines Nouveau Roman der 1950er Jahre – repetitiv, formal eitel, fatumbesessen, also letzlich verdruckst bovarysierend. Florent-Claude Labrouste, 46, Agraringenieur, ist nach einer Handvoll gescheiterter Liebesbeziehungen klinisch depressiv. Wo Unterwerfung noch im großen Stil die Sorbonne verscherbeln musste, um einen institutionellen Kultursuizid glaubwürdig zu machen, organisiert Labrouste sein Verschwinden ruhig und methodisch, in der beliebten (und übrigens eher anal ausgerichteten) Marie-Kondo-Methode konsumreuiger bourgeois bohèmes.

Das funktioniert weniger gut, literarisch gesehen. Labrouste kündigt Job und Wohnung, ordnet seine Verhältnisse, zieht “mit einem einzigen Koffer” (ich paraphrasiere Kondo- und Houellebecqgemäß) von Hotel zu Hotel, raucht, möchte seine alte Liebe noch ein letztes Mal sehen, liest Arthur Conan Doyle; er humbertiert. Statt einen Plot zu schreiben, drangsaliert Houellebecq den Leser wiederholt mit den Selbstmorddrohungen Labroustes, mal bei einer Straßenkurve in den Bergen, mal mit einem geliehenen Scharfschützengewehr, mal auf einem Balkon auf der 29. Etage eines Hochhauses im brutalistischen Stil. Noch auf der letzten Seite verspricht Labrouste, es bald zu tun. Die praktische, fernwestliche Ethik des Just Do It® bleibt ihm, wie dem Leser, bis zum Ende verwehrt.

II

Wie kann ein derart biederer Roman in den deutschen Feuilletons als antiliberales Manifest rezipiert werden? Denn – erinnern wir uns – während der letzten französischen Präsidentschaftswahl hatte sich Houellebecq in der ersten, und damit direkt inkriminierenden Wahlrunde als Macronanhänger bekannt, wenn auch auf rührend genierliche Art. Konsequent lädt er in Serotonin nun seinen Leser (meinetwegen seine Leserin) auf eine liberale Butterfahrt ein. Es reihen sich die verschämten soziologischen Halbanalysen aneinander, die für diese Präsidentschaft kennzeichnend sind, und die man bisher eher von Eribon und Eribon-Lesern kannte. [2. Siehe dazu die Ausführungen von Jérôme Lamy und Arnaud Saint-Martin auf. ] So zum Beispiel Houellebecqs vielbeachtete Gelbwestenprophezeihungen, in denen Labrouste und ein Repräsentant des Land- und Wutadels über Milchkühe, Gewaltmonopol und insurrektioneller Politik sinnieren:

Mir kamen “symbolische Aktionen” in den Sinn, aber bevor ich den Satz auch nur zu Ende gesprochen hatte, war ich wie gelähmt vor Scham. “Hektoliterweise Milch auf dem Vorplatz des Landsratsamts von Caen auskippen”, fügte Aymeric hinzu, “natürlich könnte man das machen, aber die Medien würden einen Tag lang darüber berichten, mehr nicht, und ich glaube, eigentlich möchte ich das auch nicht. Ich war 2009 dabei, als wir Milchlaster in der Bucht von Mont-Saint-Michel ausgeleert haben; ich habe eine üble Erinnerung daran. Melken wie jeden Morgen, die Laster betanken und dann alles auskippen wie wertloses Zeug…Ich glaube, da würde ich lieber die Gewehre rausholen. [232]

Im realen Leben, auf das sich Houellebecq als “Seher” und “Seismograph unseres Zeitalters” (so Jörg Schieke) scheinbar bezieht, in Paris also, haben bisher nicht die Gelbwesten, sondern die Bereitschaftspolizisten ihre Gewehre rausgeholt und damit die Desymbolisierung von Gewalt ratifiziert. Die Wesensverwandlung von Ware in “wertloses Zeug” durch die Zerstörung der “lieux sacrés de la République” [3. Minister für Wirtschaft und Finanzen Bruno Le Maire auf Twitter] (Triumphbogen, Dior-Boutiquen) haben die Gelbwesten ausdrücklich nicht als “üble Erinnerung” beibehalten, sondern geradezu als ein wöchentliches Ritual der Reziprozität gefeiert, als eine Art Proletarier-Potlach. Houellebecq erkennt zwar ganz kühn, dass auch der Landadel “am Arsch” ist (199), und die Figur des Aymeric mag einer der diversen politischen Rationalitäten folgen, die in den vielen Protestwellen seit 2012 (dem Jahr, in dem Macrons Karriere begann) zum Vorschein gekommen sind; doch in Serotonin die Vorhersage des grundsätzlich autonomistischen, demokratischen und unbewaffneten Aufstandes seit Oktober 2018 zu erkennen, zeugt von einem quasi-pathologischen Missverstehen-Wollen, das symptomatisch und interessant ist, immerhin.

III

Nun soll man mit der Psychiatrisierung des feuilletonistischen Opponenten sehr bedacht umgehen; bei einer Startauflage von 350 000 Exemplaren bildet aber Serotonin, und allgemein Houellebecqs Werk seit Plattform (2001), ein derart überdeterminiertes soziales Totalphänomen, dass ich mir einen Diagnoseversuch nicht verbieten möchte.

Donald Winnicott hat den Begriff des “Übergangsobjekts” geprägt: ein Kuscheltier, ein Schmusetuch, oder eben eine Heizdecke, die während der frühkindlichen Spaltung der Psyche in “ich” und “nicht-ich” zwischen beiden Polen vermittelt. Der schmerzliche Verlust der subjektiven Omnipotenz des Kindes, und das furchterregende Vordringen einer objektiven Realität, die sich ontologisch von der kindlichen Wunschvorstellung unterscheidet, wird durch die Vermittlungsarbeit des Übergangsobjekt erträglich gemacht; der Teddybär stellt temporär die Illusion einer Ganzheit von Innen und Außen wieder her.

Dieser Prozess bildet in etwa das übergeordnete poetische Prinzip, gar die öffentlichkeitsbildende Funktion von Serotonin, wenn nicht gar von Houellebecqs Werk insgesamt. Verdeutlichen kann man das vielleicht am Beispiel des einhellig attestierten Nihilismus Houellebecqs. Florent-Claude Labrouste erwägt in der ersten Hälfte des Romans beiläufig, welche Konsequenzen sein Verschwinden für seine japanische Freundin Yuzu haben wird. Wohlbemerkt verachtet er Yuzu nicht, weil sie von einem Dobermann und einem Bullterrier gegangbangt wurde (49-50), sondern weil sie von ihm finanziell abhängig ist, und somit das darstellt, was der liberale Jargon einen “Sozialfall” nennt. Geht er, so muss Yuzu sich zwischen einer “Rückkehr nach Japan” (62) und “Nutte”-Werden (64) entscheiden. Doch ist der Nihilismus von Monsieur Labrouste, der in dieser Alternative zum klingen kommt, nicht für den gegenwärtigen Liberalismus selbst konstitutiv? Für einen Liberalismus, der bei der Stellenvermittlung an Hartz-IV-Empfängerinnen erst seit 2017 eine Zumutbarkeitsuntergrenze bei “Vermittlungen im erotischen Bereich” anerkennt, und der Nebeneinkünfte aus dem Prostitutionsgewerbe auf den Regelsatz anrechnet? Was hier als Nihilismus denunziert wird, ist unsere liberale, ökonomisch rationalistische, axiologisch neutrale Wirklichkeit. Könnte Houellebecq somit überhaupt noch liberaler sein? Könnte er. Wenn er die zynisch eingesetzten, andauernden sexistischen und rassistischen Provokationen unterließe. Wenn er ganz darüber schwiege, dass die Möglichkeit eines Bordells eine der legitimen Existentiallösungen des Liberalismus darstellt. Täte er das, könnte die liberale Öffentlichkeit nicht mehr das als Nihilismus denunzieren, was ohnehin immer noch Liberalismus ist (gesetzt, man sieht Prostitution aus ökonomischer Not als eine Verletzung der Menschenwürde an, was das Sozialgesetzbuch eben nicht tut); damit könnte die liberale Öffentlichkeit ihren eigenen liberalen Antiliberalismus, ihre eigene vertraute Negativität nicht mehr sekretieren; damit würde Serotonin seine Funktion als Übergangsobjekt verlieren.

Nun sind die Gelbwesten derjenige peuple, diejenige transversale Bevölkerungsschicht, als deren Fürsprecher Intellektuelle sich üblicherweise besonders gut gefallen. Erhebungen zufolge setzen sich die Gelbwesten mehrheitlich aus Frauen und Provinziellen zusammen, die zu 63% links wählen; ihre inoffiziellen Sprecher sind zum Teil Nachkommen immigrierter Arbeiter und der Opfer des französischen Kolonialismus; sie haben mit dem Référendum d’initiative citoyenne (in etwa einer Volksinitiative) eine demokratische Forderungen gestellt, die sie autonom entwickelt und formuliert haben. Mit der Gelbwestenbewegung entsteht also für die liberale Öffentlichkeit gerade ein “nicht-ich”, von dem man glaubte, es sei schon längst in ihren psychopolitischen Horizont integriert worden. Ganz offenbar ist dies nicht der Fall. Gehen die Frauen, die Minderheiten, die Français périphériques [4. Siehe dazu: Christophe Guilluy, La France périphérique: Comment on a sacrifié les classes populaires, Paris: Flammarion 2014.], von denen behauptet wird, sie seien einem so wichtig, nun ein mal tatsächlich auf die Straße, wird die Polizei losgeschickt. Houellebecq ist noch nicht einmal anzurechnen, deswegen antiliberal zu sein.