Warum Adamowicz?
Am Montagnachmittag ist der Stadtpräsident von Danzig, Paweł Adamowicz, gestorben. Am Abend davor wurde der 53-jährige Politiker bei einer Messerattacke auf der Bühne einer Benefizveranstaltung von einem 27-jährigen Mann niedergestochen. Nach der Attacke griff sich der vorbestrafte Täter ein Mikrofon und brüllte, er sei von der 2007 bis 2015 regierenden Bürgerplattform ungerechterweise ins Gefängnis gesteckt und gefoltert worden. Deshalb müsse Adamowicz umgebracht werden. Das Land ist im Schock. In ganz Polen fanden am Montagabend Gedenkveranstaltungen und Schweigemärsche statt.
Die Motive des Täters werden von den Ermittlungsbehörden untersucht. Die Zusammenhänge zwischen der tödlichen Messerattacke in Danzig und der Radikalisierung der polnischen Öffentlichkeit, die sich seit 2015 beobachten lässt, liegen aber auf der Hand. Adamowicz selbst, seine Stadt und die Benefizveranstaltung, bei der er angegriffen wurde, sind seit über drei Jahren die Zielscheibe organisierter Hasskampagnen, die an die dunkelsten Kapitel der polnischen Zeitgeschichte erinnern.
Paweł Adamowicz war seit über 20 Jahren Stadtpräsident seiner Heimatstadt Danzig. Im Herbst 2018 wurde er mit knapp 65 Prozent der Stimmen zum sechsten Mal im Amt bestätigt und gehörte somit zu den beliebtesten Kommunalpolitikern in Polen. Die Ausdauer hat Seltenheitswert, denn die meisten erfolgreichen Stadtpräsidenten nutzen die lokale Politik als ein Sprungbrett nach Warschau. Adamowicz hingegen lebte stets nach der Devise „Alles für Danzig“. In den 1980er Jahren engagierte er sich als Student in der lokalen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Nach 1989 Jahre war der studierte Jurist unter anderem in der Stadtverwaltung tätig, Prorektor der Danziger Universität und ein aktives Mitglied einer liberal-christlichen Partei, aus der 2001 die Bürgerplattform (PO) entstand. Adamowicz baute die neue Partei von Donald Tusk mit auf und war bis vor Kurzem ihr Mitglied. Nichtsdestotrotz wurde er weiterhin als PO-Mensch und somit Gegner der seit Ende 2015 regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wahrgenommen. Gegen Adamowicz sprach aus Sicht der Rechten auch sein gesellschaftliches Engagement für die Rechte der Minderheiten und die Aufnahme von Geflüchteten. Spätestens seit seiner Teilnahme am Danziger Gleichheitsmarsch, einer Art Christopher Street Day, im Jahr 2017 gehörte Adamowicz zu den in den regierungsnahen Medien und in rechtsextremen Kreisen am meisten kritisierten Politikern.
Wie sehr sich die polnische Medienlandschaft nach 2010 und insbesondere nach 2015 verändert hat, ist für einen außenstehenden Beobachter schwer zu begreifen. Nach dem Flugzeugabsturz bei Smoleńsk im April 2010, bei dem 96 Menschen, darunter der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński, ums Leben gekommen sind, kam es zu einem regelrechten Erblühen der rechten und extremrechten Medien. Allein zwischen 2011 und 2013 wurden drei neue Wochenmagazine, ein Monatsmagazin und ein Fernsehsender gegründet, die Verschwörungstheorien schüren, Fremdenfeindlichkeit propagieren und Identitätspolitik für PiS betreiben. Nach den Parlamentswahlen Ende 2015 wurde der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den Dienst der regierenden Partei gestellt. Die Hauptrolle spielt dabei die traditionsreiche Sendung Wiadomości (Nachrichten), die jeden Tag um 19.30 Uhr ausgestrahlt wird und für viele Polen die wichtigste Informationsquelle ist. Die Themenauswahl, Montagetechnik und Nachrichtenticker dieser Sendung werden bestimmt in die Geschichte der polnischen Propaganda eingehen. Der Journalist Krzysztof Leski, der sich die Mühe macht, Wiadomości jeden Abend auszuwerten, hat allein für das Jahr 2018 rund 100 Berichte dokumentiert, in denen Paweł Adamowicz als „Krimineller“, „Betrüger“ und „Schmiergeldnehmer“ dargestellt wurde. Kein einziger der vielen Vorwürfe wurde von den Ermittlungsbehörden bestätigt.
Wer sich wundert, warum Adamowicz keine rechtlichen Schritte gegen die Diffamationskampagne des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eingeleitet hat, sollte bedenken, dass diese Attacken nur einen kleinen Ausschnitt der Aggression gegen ihn darstellten. Im Juli 2017, als sich Adamowicz zusammen mit ein paar weiteren Stadtpräsidenten in einem öffentlichen Brief für die Aufnahme von Geflüchteten aussprach, wurde er von der faschistischen Organisation Allpolnische Jugend für tot erklärt. Die jungen Faschisten veröffentlichten im Internet Sterbeurkunden mit den Fotos und Personalangaben aller Unterzeichner des Appells. Adamowicz zeigte die Allpolnische Jugend bei der Polizei an. Am 9. Januar 2019 wurde das Ermittlungsverfahren jedoch eingestellt: Die Danziger Staatsanwaltschaft erkannte in der Aktion weder Aggressions- noch Drohpotenzial, sondern lediglich einen „Ausdruck der Unzufriedenheit“. Diese Entscheidung ist symptomatisch für den Umgang polnischer Behörden mit hate speech: Obwohl entsprechende Gesetze existieren, kommt es kaum je zu Urteilen gegen Hassrede.
Die liberalen Werte, für die Adamowicz stand, waren der zentrale, aber nicht der alleinige Grund, warum er zum Hassobjekt wurde. Adamowicz wurde auch wegen seiner Herkunft gehasst. Danzig ist der Geburtsort der Solidarność, der Wirkungsort von Lech Wałęsa, der Wohnort von Donald Tusk und der Standort der kulturellen Großprojekte der PO-Regierung – eine seltene Anhäufung von Feindbildern der PiS-Regierung und ihrer Anhänger.
Als der 33-jährigen Adamowicz 1998 zum Stadtpräsidenten von Danzig gewählt wurde, erfreute sich die Hafenstadt eines nicht sonderlich guten Rufes. Die Danziger Werft war eines der spektakulärsten Opfer der Systemtransformation, die Stadt war von Arbeits- und Hoffnungslosigkeit geplagt, einige Viertel galten als no-go-areas. In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich nicht nur alle Indikatoren für die Lebensqualität in Danzig deutlich verbessert, sondern auch das Image der Stadt. 2009 hingen in vielen europäischen Hauptstädten Plakate mit dem stolzen Spruch „Es begann in Danzig“. Die polnische Kulturdiplomatie hat es zwar nicht geschafft, den Fall der Berliner Mauer 1989 mit der Gründung der Solidarność neun Jahre davor zu überschreiben, um damit den polnischen Beitrag zum Zusammenbruch des Kommunismus in Europa ins Zentrum der europäischen Erinnerungskultur zu rücken, aber die internationale Sichtbarkeit von Danzig ist trotzdem gestiegen. Das 2014 eröffnete Europäische Zentrum der Solidarność, ein Museum für die Gewerkschaftsgeschichte, ihr Zentralarchiv und eine Bildungsstätte zugleich, zieht Touristen aus der ganzen Welt an. Als noch erfolgreicher erwies sich das im März 2017 eröffnete Museum des Zweiten Weltkriegs – eine Art PO-Antwort auf das mit der PiS assoziierte Museum des Warschauer Aufstands, das in der polnischen Hauptstadt seit 2004 existiert. Als die PiS-Regierung alle Register zog, um den Gründungsdirektor des Danziger Weltkriegsmuseums Paweł Machcewicz zu entlassen und die transnational angelegte Ausstellung zu „nationalisieren“, gelang es Adamowicz, diesen Prozess für eine Weile zu blockieren. Die Ausstellung konnte dadurch in ihrer ursprünglichen Form von Machcewicz eröffnet werden. Der konservative Hass auf Adamowicz nahm weiter zu.
Auch der konkrete Ort, an dem der Danziger Stadtpräsident am 13. Januar angegriffen wurde, sagt viel über die Radikalisierung der polnischen Gesellschaft. Es handelt sich nicht um irgendeine Benefizveranstaltung, sondern um die erfolgreichste caritative Unternehmung in der jüngsten polnischen Geschichte. Das Große Orchester der Weihnachtshilfe wurde 1993 von Jurek Owsiak gegründet. Der in Danzig geborene Musikjournalist und Festivalmanager schuf eine NGO gleichen Namens, die an jedem zweiten Sonntag im Januar Geld für die Ausstattung der maroden polnischen Krankenhäuser sammelt. Inzwischen sind ca. 130.000 junge und alte, bekannte und unbekannte Volontäre daran beteiligt. Fast jedes Jahr wurde ein neuer Rekord aufgestellt. 2018 konnten fast 30 Mio. Euro gesammelt werden. Den Aufkleber des Orchesters – ein rotes Herz mit weißer Aufschrift – kann man heute in praktisch jedem polnischen Krankenhaus sehen. Wie viele Menschenleben damit gerettet wurden, lässt sich kaum beziffern.
Über die Jahre verwandelte sich der zweite Januarsonntag in ein nationales Fest, mit unzähligen Konzerten und Auktionen, über die das öffentlich-rechtliche Fernsehen den ganzen Tag live berichtete. Im Januar 2016 wurde diese Tradition jedoch abrupt beendet. Nachdem das von PiS übernommene öffentlich-rechtliche Fernsehen die Zusammenarbeit mit dem Orchester kündigte, übernahm der private Fernsehsender TVN seine Rolle. Jurek Owsiak wurde sofort zum Objekt brutaler Attacken der Regierung sowie ihrer medialen und kirchlichen Unterstützer. Der Vergleich mit Viktor Orbáns antisemitischen Kampagnen gegen den US-amerikanischen Philanthropen George Soros liegt nahe. Um nur ein Beispiel zu nennen: Am 10. Januar 2019 strahlte der Nachrichtensender des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kurz nach 20.00 Uhr eine Satire aus, in der Owsiak als eine ferngesteuerte Puppe präsentiert wurde, die Geld der naiven Polen sammelt, um es danach einer PO-Politikerin zu schenken, die zwischen 2006 und 2018 Stadtpräsidentin von Warschau war. Der auf einigen Geldscheinen zu sehende Davidstern spielte wohl auf die in den rechten Kreisen weit verbreitete „Überzeugung“ an, Hanna Gronkiewicz-Waltz sei jüdischer Abstammung. Drei Tage nach der Ausstrahlung dieser Sendung stand Paweł Adamowicz mit einer Geldbüchse des Großen Orchesters der Weihnachtshilfe in der Hand auf einem Danziger Markt, um sich – wie jedes Jahr – bei den Bewohnern seiner Stadt für ihre Generosität zu bedanken. Kurz nach 20.00 Uhr wurde er niedergestochen. Nach dem Tod von Adamowicz gab Owsiak seinen Job beim Orchester auf. Der stets optimistische und gute Laune ausstrahlende Mann mit seiner unverwechselbaren roten Brille konnte die Hetze nicht mehr ertragen.
Kann der Tod von Adamowicz zur Befriedung der gespaltenen polnischen Gesellschaft führen? Eine ähnliche Frage hat man sich in Polen schon nach dem Tod von Johannes Paul II. im April 2005 und nach der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk fünf Jahre später gestellt. In beiden Fällen erstarrte das Land für viele Tage in Trauer und Schock. Diesmal war der Glaube an die versöhnende Kraft des Todes nur von kurzer Dauer. Bereits am Todestag von Adamowicz strahlte die bereits erwähnte Sendung Wiadomości eine Reihe von Kurzreportagen aus, die die Schuld für das in Danzig Geschehene in die Schuhe von Tusk und Owsiak schoben. Bisher hielten viele Beobachter den Vergleich der Informationspolitik der PiS-Regierung mit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, als die Propagandamaschinerie der polnischen Kommunisten auf Hochtouren lief, für unangebracht und übertrieben. Seit Montagabend sind selbst einige PiS-nahe Kommentatoren vom rechtlich-öffentlichen Rundfunk angewidert. Ob deren Empörung lange anhalten wird – daran kann man leider zweifeln.
Kornelia Kończal ist gebürtige Polin, promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München
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