Verarmung und Verdunkelung. Ein Jahr mit den Goncourts (VI)

Ich komme durch Stellen mit verwüsteten Feldern, herausgerissenen Zäunen, zertrümmerten großen Bäumen, Steinhaufen, Häusern ohne Türen und Fenster, an denen noch das Skelett eines halb herausgerissenen Strauches hängt, durch ganze Straßenzüge ohne ein Licht, ohne einen Passanten, ohne eine lebende Seele. Und immer weiter fahre ich unter dem verlöschenden Himmel, auf dem sich auflösenden Weg durch all diese zerstörten oder verlassenen Dinge, die sich in der finsteren Nacht in den Pfützen spiegeln, so daß ich schließlich den Eindruck bekomme, in einen Weltuntergang getragen zu werden. (Bd. V, S. 241)

Im Laufe des Jahres 1870, im 5. Band der Tagebücher, erzählt Edmond de Goncourt, der ältere der Brüder, wie das Leben und die Kultur in Paris immer deutlicher zerfällt. Die tiefe Freude über die Dinge, ihre Sammlung der Kunststücke, den Hauskauf, der zuletzt ihr Leben für immer nun zu bestimmen schien, diese Freude wird Schritt für Schritt zerstört. Der Tod des jüngeren Bruders am 20. Juni 1870, nach monatelanger Krankheit, ist dabei nur ein erster, unausdenklich schmerzlicher Einschnitt (über den wir in unserer nächsten Lieferung schreiben werden); der große deutsch-französische Krieg, der zunächst wie ein Betriebsunfall aussieht, weckt dagegen alle Erzfeindschaften wieder auf, der alte Hass wird ausgelebt, ganz atavistisch:

daß in diesem Jahr 1871 die nackte Gewalt trotz so vieler Jahre der Zivilisation, trotz so vielen Predigens über die Brüderlichkeit der Völker, trotz so vieler Verträge für ein europäisches Gleichgewicht, daß da die nackte Gewalt, sage ich, ebenso uneingeschränkt ausgeübt wird und herrscht wie zu Attilas Zeiten. (Bd. V, S. 315)

Anfangs, im Spätsommer 1870, beschäftigt Edmond noch die befremdete Faszination der militärischen Ordnung und der neuartigen Waffenerfindungen als ein ihm ganz neuer Gegenstand literarischer Beschreibung; eine Faszination, der auch in den folgenden Weltkriegen nicht wenige Schriftsteller und Philosophen erliegen werden:

Die Seine nimmt auf ihren Fluten den Klang der Hornsignale und Trommelwirbel mit, vollführt an beiden Ufern, von denen sich, überragt von seiner riesigen Kanone, hier und da der mattgraue Rumpf eines Kanonenbootes abhebt. Die Rasenflächen des Parks von Saint-Cloud verschwinden unter den roten Hosen der exerzierenden Liniensoldaten; und man kann sich mitten im Krieg wähnen, so wie man sich umgeben sieht von diesen Männern, verteilt unter den großen Bäumen, mit gymnastischem Schritt rennend, kniend, aufs Gras gestreckt und heute im Leeren das Scheingefecht der Schießerei führend, die sie morgen machen müssen. (Bd. V, S. 163f.)

Die Wanderungen Edmonds — Omnibusfahrten, Wegstrecken den Montmartre rauf und runter, Besteigungen von Barrikaden — werden in endlosen, rauschhaften Absätzen festgehalten, eine lose Verkettung aus Aufzählungen, Farbtupfern, hehren Metaphern, die sich im Geröll der Beobachtungen gleich wieder auflösen. Eine Flüchtigkeit wie auf den zeitgleichen Skizzen des Soldaten Edouard Manet, das richtige Ungefähre: der Anspruch Edmonds, es den Zeichnungen Gavarnis gleich zu tun und innerhalb eines großen Menschenstroms einzelne Farbpunkte aufblitzen zu lassen, als würde er die Bewegung selbst (des Augenblicks? der Geschichte?) mal verwischen, mal pointieren wollen. Man könnte meinen, dass der Impressionismus überhaupt — Malerei blühender, sonniger Blumenwiesen — nur das fotografische Positiv dieses Krieges und dieser Zerwerfung gewesen sei. „Und alle Augenblicke die zauberhaftesten Motive für die Malerei.“ (Bd. V, S. 174)

Spätestens ab Oktober 1870 aber werden Edmonds Eintragungen immer deutlicher von der unabweisbaren Ödnis eines militärisch geprägten Lebens beherrscht. Die gewohnte Lebensart, der Genuss großstädtischen Wohllebens, das alles verarmt, trocknet aus, erschlafft, verschwindet:

Die Waren sämtlicher Läden sind darauf aus, sich in Festungsartikel zu verwandeln: es gibt nur noch Festungsdecken, Festungspelze, Festungsbetten, Festungskopfbedeckungen, Festungshandschuhe. Die Schaufenster der Händler und Lieferanten bekommen durch die fehlende Auslage etwas Düsteres. Die ganze Auslage der Garküchen besteht aus den schmierigen Servietten der Stammgäste; zwei faule Lorbeeren in leeren Terrinen sind die ganze Auslage des Fleischers. (Bd. V, S. 227)

Edmond leidet unüberlesbar an der kulturellen wie ästhetischen, der gastronomischen und handwerklichen Verarmung des täglichen Lebens. Sie ist ihm eine charakterliche Verarmung, „das Gelb [der Gesichter; HS&DS], das die Belagerungsnahrung darauf hinterläßt“ (Bd. V, S. 238) ist das Anzeichen einer umfassenden Reduktion des Menschlichen, des Persönlichen zu Kriegszeiten.

Die Überlebenden des Bombardements und der jede Minute herrschenden tödlichen Bedrohung machen einen stumpfsinnigen, schläfrigen Eindruck. Viele scheinen die Resignation des Fatalismus zu haben. (Bd. V, S. 410)

Erstaunlich, wie man sich gewöhnt an dieses von Kanonenschlägen skandierte Leben, an dieses schöne ferne Grollen, an dieses furchtbare Knallen, an dieses mächtige Beben der Luft; und diese starken Schallwellen fehlen einem und lassen einen auf den Horizont horchen, wenn er stumm ist. (Bd. V, S. 216)

Verzweifelt rettet er sich in die wenigen noch ästhetischen Momente: einmal in die Technik und das merkwürdige Maschinenspektakel neuartiger Waffengattungen:

Dieses Ding, das in der Ferne tötet ist eine wahres Spektakel für Paris, das wie an schönen Tagen am See rund um die Butte Kaleschen und Landauer stehen hat, aus denen sich die Frauen unter die Mobilgardisten mischen und sich so nah wie möglich zu dm furchtbaren Getöse drängen. […] Die Kanone gibt sechs Schüsse ab; dann nimmt der alte Kommandant das kleine Messinginstrument zum Messen der Zielhöhen von seinem Dreifuß, legt es sorgfältig in eine Schachtel aus Holz, steckt es in seine Tasche und geht, während sich ein junger Schütze auf das in Ruhestellung gebrachte Geschütz setzt, ein Blondschopf mit weiblichem Gesicht mit dem irgendwie heroischen Ausdruck, den Gros seinen Soldatengesichtern verleiht, der sich, die Polizeimütze quer auf dem Kopf, einen algerischen Gürtel mit leuchtenden Streifen stramm um die Taille, den Patronengürtel über dem Bauch, ganz lässig und charmant vor malerischer Liederlichkeit von der Erschöpfung dieser tödlichen Übung ausruht… Die Vorstellung ist zu Ende, die Menge zerstreut sich. (Bd. V, S. 225f.)

Neben solcher Technikverliebtheit und Schauspielsucht rettet Edmond sich aber auch in die selten pittoresken Momente jener Monate und schreibt ganz hingerissen kleine Genreminiaturen des Mangels und des Hungers.

Überall Pferde, Munitionswagen, Soldaten, Feldküchen, wo das Feuer, das die Suppe kocht, zugleich das frischgewaschene blaukarierte Tschentuch trocknet, ein Schauspiel, das sich in seinen Mußestunden unter seinem Dreispitz ein dickbäuchiger Bankdiener zu Gemüte führt. (Bd. V, S. 211)

Die Markthallen sind eigenartig. Dort, wo frischer Fisch verkauft wurde, verkaufen alle Buden Pferdefleisch; und statt Butter bietet man Rinder- oder Pferdetalg in Form von großen weißen Seifenstücken feil. Aber Andrang und Betrieb herrscht bei den Ständen für Gemüse, das durch die Plünderungen zahlreich vorhanden ist. Die Menge drängt sich um die kleinen Tische voller Weißkohl, Sellerie, Blumenkohl, den man sich streitig macht und die die Bürgersfrauen in Tüchern davontragen. (Bd. v, S. 228)

Katzen zu sechs Francs, Ratten zu einem Franc und Hundefleisch zu einem Franc das Pfund. (Bd. V, S. 273)

Chronologie einer guerre en cuisine: sie begänne mit ersten, „unfranzösischen“ Hamsterkäufen der vom Savoir-vivre verwöhnten Lebemänner — 24. September 1870, der Horror der Konsverdendosen beginnt das Protokoll:

In der Hauptstadt der frischen Kost und der frischen Gemüse ist es wirklich Ironie, die Pariser dabei zu überraschen, wie sie vor den Blechkästen der kosmopolitischen Delikateß- und Lebensmittelhändler beratschlagen. Endlich entschließen sie sich hineinzugehen und kommen mit dem Boiled Mutton, dem Boiled Beef etc. unter dem Arm heraus, mit allen möglichen und unmöglichen Fleisch- und Gemüsekonserven und Dingen, von denen man nie geglaubt hätte, daß sie zur Nahrung des reichen Paris werden würden. (Bd. V, S. 187)

1. Oktober 1870, die Speisekarte wird vielfältiger:

Vorgestern hatte Pélagie ein Stück Filet mitgebracht, das ich bei ihrer unsicheren Miene nicht gegessen habe. Gestern bringt man mir bei Peters ein Roastbeef, dessen wäßriges, fettloses und mit weißen Nerven durchzogenes Fleisch ich untersuche und dessen so sehr von dem Rosarot des Rindfleischs abstechendes, schwärzliches Rot meine Maleraugen erkennen. Der Kellner versichert mir nur sehr unentschlossen, daß dieses Pferdefleisch Rindfleisch sei. (Bd. V, S. 198)

Am 29. Oktober 1870 ist Pferd kein Thema mehr: „Heute abend speise ich Eselsfilet.“ (Bd. V, S. 241) 18. Oktober 1870 — gerade noch im Bereich europäischer Küche:

[…] Charles Edmond versichert, in Sibirien gefundenes Mammut gegessen zu haben, von dem Sankt Petersburg gnädigerweise den Wahrschauer Obrigkeiten ein Stück geschickt hat. (Bd. V, S. 226)

29. November 1870 — Ein homme de lettres zwischen Kunstsammlung und Hühnerstall:

Mir bleibt nichts anderes übrig als eigenhändig mit einem japanischen Säbel eines meiner kleinen Hühner zu töten. Das war furchtbar, da mir dieses Flügeltier entschlüpfte und ohne Kopf im Garten umherflatterte. (Bd. V, S. 279)

8. Dezember 1870 — Gesprächsprotokolle:

— Ich habe Hundekoteletts gesehen, wirklich sehr appetitanregend: das sieht ganz so aus wie Hammelkotelett.
— Wer hat denn eigentlich Känguruh gegessen?
— Da verrate ich Ihnen mal was sehr Gutes! Sie kochen Maccaroni und bereiten sie als Salat mit vielen Kräutern zu… Was soll man jetzt denn sonst machen!
— Denken Sie dran, bei Corcelet gibt es noch Tomatenkonserven. (Bd. V, S. 289)

25. Dezember 1870: „Ein Juwelier in der Rue de Clichy hat jetzt in Watte gepackte frische Eier in seinen Schmuckkästen.“ (Bd. V, S. 300)

Am 31. Dezember 1870 kennen die Pariser kein Halten mehr:

An der Wand hängt an einem Ehrenplatz der abgezogene Rüssel des jungen Pollux, des Elefanten aus dem Jardin d’Acclimatation; und mitten unter namenlosen Fleischstücken und auffälligen Hörnern bietet ein Ladenjunge Kamelnieren feil.

Der Schlachtermeister salbadert in einem Kreis von Frauen: „Das macht vierzig Francs das Pfund für das Filet und den Rüssel… Ja, vierzig Francs… Sie finden das teuer? Sie wissen ja nicht, daß ich gar nicht weiß, wie ich damit auskomme. Ich hatte mit 3000 Pfund gerechnet, und er hat nur 2300 gebracht… Die Füße, Sie wollen von mir den Preis für die Füße wissen? Das sind zwanzig Francs… Bei den anderen Teilen geht das von acht bis vierzig Francs… Oh! gestatten Sie mir, Ihnen die Blutwurst zu empfehlen. Das Elefantenblut, müssen Sie wissen, ist das ergiebigste Blut. Sein Herz, wissen Sie das? hat fünfundzwanzig Pfund gewogen… Und es ist Zwiebel drin, meine Damen, in meiner Blutwurst.“

Ich gebe mich mit zwei Lerchen zufrieden, die ich für mein morgiges Déjeuner mitnehme. (Bd. V, S. 310)

Jedoch (ebd.): „Heute abend treffe ich bei Voisin wieder auf die berühmte Elefantenblutwurst und esse sie zum Diner.“ Hierzu Edmonds Besuch im verwaisten Pariser Zoo später, nach dem Ende von Krieg, Kommune und Hunger:

Der von seinem Publikum verlassene  Elefant lehnt gleichgültig an einer Mauer und frißt sein Heu wie ein Mann, der plötzlich verurteilt ist, allein zu dinieren. (Bd. V, S. 406)

Nach der Niederlage der Franzosen bricht der Aufstand aus. Burty, dessen Wohnung Edmond während der semaine sanglante nicht zu verlassen wagt, sympathisiert mit der Kommune, auch wenn er nicht wirklich Teil hat; als auf der Straße die Granateneinschläge näherrücken und die Kämpfer niedergemetzelt werden, stürzen sich beide in einem toten Winkel der Wohnung schützend auf die Stücke ihrer kostbaren Sammlung, zusammen mit den mit Granatensplittern spielenden Kindern. Und es ist doch nicht ohne Komik: der Antikommunarde Goncourt vergräbt sich unter den Schüssen, um sich von der Angst abzulenken, ausgerechnet in ein Buch über Delacroix, dem Maler der Liberté guidant le peuple. (Bd. V, S. 443)

Die Niederschlagung der Kommune findet direkt unter ihren Fenstern statt. Leichen werden nicht aufgehoben, Männer an Ketten zu ihrer Erschießung geführt.  Vor dem Invalidendom beginnt jemand neben Goncourt zu zählen: „Eins, zwei, drei…“ (Bd. V, S. 461):

„Das wird nicht lange dauern, bald werden Sie das erste Krachen hören.
— Was für ein Krachen?
— Nun ja, man wird sie erschießen.“
Fast im selben Moment bricht, als zwischen Türen und Wänden eingeschlossenes Getöse, eine Schießerei los, die etwas von der regelmäßigen Mechanik einer Kartätsche hat. (Bd. V, S. 461)

„[…] und so höre ich auch einen Offizier, während er einem Oberst einen Zettel übergibt, halblaut rufen, 407, davon 66 Frauen.“ (Bd. V, S. 455) — Frauen unter den gefangenen Kommunarden frappieren den konservativen Goncourt — teils denunziert er sie („der Anführer von Belleville mit seinen Männern und Mätressen“, Bd. V, S. 454), teils beschreibt er sie in einer Mischung aus Ehrfurcht und wohligem Grusel:

Man sieht bürgerliche Frauen, Arbeiterinnen, Nutten, von denen eine als Nationalgardist uniformiert ist. Und in all diesen Visagen sticht der bestialische Kopf eines Wesens heraus, dessen eine Gesichtshälfte ein blauer Fleck ist. Keine dieser Frauen zeigt die apathische Resignation der Männer. Auf ihren Gesichtern liegt Wut, liegt Ironie. Viele haben einen gleichsam wahnsinnigen Blick. (Bd. V, S. 456)

In all dem Geschehen ist Edmond ein Überlebender: die zurückgebliebene Hälfte eines Brüderpaars. Er nennt den Bruder so gut wie nie beim Namen, ausgerechnet im Krieg ist Edmond dazu verurteilt, „ich“ zu sagen. In Momenten des Alleinseins überrascht ihn die Trauer wie ein Dieb in der Nacht:

Da ich es nicht übers Herz bringe, nach Paris zu fahren und nichts zu essen habe, töte ich in meinem Garten eine Amsel. Als die Amsel erst einmal mit ihren steifen Flügeln auf meinen Tisch geworfen ist, kommt mir, obwohl ich nicht an Seelenwanderung glaube, aus irgendeinem Grund mein Bruder in den Sinn, und sein Bild verbindet sich mit dem toten Vogel. Mir fällt ein, wie er jeden Abend in der Dämmerung erschien und mit seinem hellen Flötenton offensichtlich die zwei oder drei Überquerungen des Gartens in seinem hübschen, schnellen Segelflug ankündigen wollte. Mir fällt ein, wie er ein paar Sekunden auf einem Ast ausruhte, immer demselben, dem eines Maulbeerbaums ganz nah am Haus, den er reglos und rätselhaft betrachtete; dann plötzlich sein unerwartetes Verschwinden im Dunkel der Nacht. Da beschlich mich so etwas wie eine abergläubische Vorstellung, daß etwas von meinem Bruder in dieses kleine Flügeltier, in dieses um die freie Luft trauernde Tierchen übergegangen sei; und mich packte ein unbestimmtes Entsetzen, mit dem Schuß aus meinem Gewehr etwas Jenseitiges und mit mir Verbundenes getötet zu haben, das über den Erhalt meiner Person und des Hauses wachte.  (Bd. V., S. 325)