Geschichtskolumne: Zeit (Archiv)

Diese Kolumne des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel hatten wir aus Anlass seines Festvortrags zum 60. Geburtstag von Angela Merkel freigeschaltet. Im kostenpflichtigen Volltextarchiv ist sie – für 2 Euro – hier weiterhin abrufbar. 

Von Jürgen Osterhammel

Zwischen einer Nanosekunde und den 13,7 Milliarden Jahren, auf die Lehrbücher der Astrophysik das Alter des Universums beziffern, liegen die Vorträge und Vorlesungen von Historikern ungefähr in der Mitte.[i] Auch sonst sind Historiker Mittelwegbeschreiter. Temporal gesehen, sind sie Angsthasen. Von Amts wegen als Archäologen und Althistoriker für mehrere Jahrtausende, als Mediävisten für mehrere Jahrhunderte, als Experten der Späten Neuzeit nur für mehrere Jahrzehnte zuständig, überblicken sie mit professioneller Seelenruhe bestenfalls noch kürzere Zeiträume. Einige von ihnen haben es sogar geschafft, über einen einzigen Tag – etwa den 7. März 1936, als Deutschland das Rheinland besetzte – ein ganzes Buch zu schreiben.[ii] Wie James Joyce in Ulysses.

Der Zeithorizont von Historikern ist nach rückwärts beschränkt und nach vorne blockiert: Über die Zukunft glauben sie gar nichts sagen zu können, die Gegenwart überlassen sie stillschweigend den (anderen) Sozialwissenschaften, deren eigener Hang zur Geschichte früher einmal größer war als heute. Historiker messen die Zeit nicht besonders genau, können sie in ihren Texten nicht so formklar fixieren, wie Musiker dies in einer Partitur tun. Philosophische Zeittheorien, etwa die der Phänomenologie, finden sie für ihre eigene Arbeit zu kompliziert. Was die Zeit betrifft, sind Historiker also hoffnungslose Dilettanten. Und dennoch: Will man die Art ihrer Erkenntnisleistung auf einen einzigen Begriff bringen, dann wäre es platt zu sagen, sie erforschten so etwas Vages, im Nebel des Erinnerns und Verschweigens Verborgenes wie die Vergangenheit. Nein: Historiker sind auf ihre besondere Weise Fachleute für Veränderungen in der Zeit. Sie können das nur sein und gesellschaftlich toleriert bleiben, wenn sie die Verbindung zum außerwissenschaftlichen Zeitbewusstsein halten und pflegen. Sofern die Öffentlichkeit Zeitfragen stellt, sollten Historiker zu denjenigen gehören, die antworten können.

Eine Verankerung in der Lebenswelt versteht sich für Wissenschaften keineswegs von selbst. Man kann eine bürgerliche Existenz fristen und niemals Wissensfeldern wie Sanskritistik, Alttestamentarischer Theologie oder Insolvenzrecht begegnen. Für die Geschichte ist eine solche Verankerung indes eine Selbstverständlichkeit. Wäre es verwegen zu behaupten, jeder sei ein geborener Gräzist, Finanztheoretiker oder Astronom, so lässt sich mit größerem Recht sagen: Wir alle sind Historiker.

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Diese Kolumne des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel hatten wir aus Anlass seines Festvortrags zum 60. Geburtstag von Angela Merkel freigeschaltet. Im kostenpflichtigen Volltextarchiv ist sie – für 2 Euro – hier weiterhin abrufbar.