Wir sterben. Ein Jahr mit den Goncourts (VII)

Über lange Strecken ist er nicht bei mir, wenn er neben mir im Zimmer sitzt. „Wo bist du, mein Freund?“ habe ich ihn gestern gefragt. Nach kurzem Schweigen hat er mir geantwortet: »Im Weltraum… im leeren.“ (Bd. V)

„Ich bin traurig, zerstört, ausgelöscht.“ Der Tod von Jules erwischt uns, die Leser, wie ein Schock. „9 Uhr, 40 Minuten – Er stirbt, eben ist er gestorben. Gott sei gelobt! Er starb nach zwei oder drei Seufzern eines kleinen Kindes, das einschläft.“ Seit über einem halben Jahr zeigte Jules offenbar schon Symptome einer tödlichen Krankheit, von denen im Tagebuch bis dahin nie gesprochen wurde. Edmond wollte das gemeinsame Protokollprojekt aufgeben. Doch: „Nach Monaten ergreife ich wieder die Feder, die meinem Bruder aus der Hand gefallen ist.“ Er beginnt vorbildlich die letzten Monate des Leidens, des Schmerzes, des Verlustes durchzuarbeiten, der Neuausrichtung seines gesamten Lebens – ohne significant other. „Ich nehme also dieses Tagebuch und das Geschreibsel der in meinen Tränennächtern hingeworfenen Notizen wieder auf.“

Durch die Hintertür hat die Krankheit sich in die Tagebücher eingeschlichen. Ein Verkehrsunfall, Anfang 1869, mutet gleichsam wie eine Vorschau an:

Soeben wurden wir beinahe zusammen umgebracht. […] Ein betrunkener Kutscher, den wir in Auteuil nehmen, läßt uns auf dem Quai de Passy mit losen Zügeln in einen Fuhrwagen rasen; und der Zusammenstoß ist so heftig, daß Edmond in das Glasfenster vor ihm geschleudert wird, es mit seinem Gesicht zerschlägt und wieder zurückprallt… Wir sehen uns an — ein stummer und furchtbarer Blick, bei dem jeder den anderen abtastet! […] Wir gehen zum Telegraphenamt, um einer Depesche in die Rue de Courcelles zu schicken, und er erzählt mir folgende wirklich seltsame Sache, daß er einen Moment vor dem Zusammenstoß den Unfall ahnte; nur sah er, in einer Art Übertragung des brüderlichen Seitenblicks, mich verletzt, und zwar am Auge.

Als die Krankheit erstmals auftritt, die nicht Edmond, sondern den jüngeren Jules treffen wird, erscheint sie zunächst bloß als eine gemeinsame Unpässlichkeit des Brüderpaars. Ihr Arzt untersucht Jules am 17. Februar 1869, kurze Beschreibungen seiner Hydrotherapie finden sich hernach; am 7. Juli des Jahres aber notieren beide anlässlich eines Diners der Prinzessin Mathilde: „Abends schleppen wir uns mühevoll nach Saint-Gratien. Die Fürsten lieben es nicht, daß man krank ist: die Prinzessin bietet uns einen kalten Empfang; spröde Hände sind es, die sie unserem Kuß überläßt. Wir sind leidend.“

Wir? In der ersten Person Plural leiden sie beim Besuch durch Flaubert, dessen robuste Gutlaunigkeit sie aufreizt: „Wir, für die Arbeit unser ganzes Leben war, gerade wir führen uns physisch unfähig zu arbeiten“

Eine Fußnote der Herausgeber weist auf ein wichtiges Detail hin: den Satz »Wir sind leidend« hat, anders als in ihrer Arbeitsteilung üblich (Edmond memoriert, konzipiert, formuliert mündlich — Jules notiert, führt aus, ergänzt, überprüft und redigiert schriftlich) eben nicht Jules ins Buch geschrieben, sondern Edmond: »Von dem Eintrag des 30. Juni bis zu diesem Eintrag zeigt das Manuskript die Handschrift von Edmond. Diese Eintragungen enthalten viele Streichungen: vielleicht schrieb Edmond nach Diktat von Jules, dessen krankhafte Skrupel zu diesen vielen Streichungen führten.« (ebd. S. 79) Das Ausmaß der sich ausbreitenden Krankheit — und der Vereinzelung in ihr — zeigt sich in einem mit antisemitischen Spitzen versehenen Eklat bei der Prinzessin, bei dem Jules die Fassung verliert:

Gestern hatte sie mir anläßlich einer von diesem alten Juden von Franck aufgeworfenen Diskussion eine Grobheit über mein Leberleiden gesagt. Heute morgen entschlüpft mir, da ihr das Loblied auf Franck und das Judentum noch auf der Zunge lag, in einem Augenblick krankhaften Ärgers, den ich nicht beherrschen kann: „Nun, Prinzessin, werden Sie doch Jüdin!“ Daraufhin Schweigen, und die Gäste erbleichen. Der Satz war unhöflich und ich bedauerte ihn, kaum daß ich ihn ausgesprochen hatte, und fühlte, daß ich sie verletzt hatte. Als wir uns vom Déjeuner erhoben, und ich mich bei ihr entschuldigte, wobei ich sie meiner tiefsten Zuneigung versicherte, und in dem nervösen Zustand, in dem ich bin, aus meinen Augen ohne mein Zutun Tränen auf ihre Hände fielen, die ich küßte, nahm sie mich, da meine Erregung auf sie übersprang, in ihre Arme und küßte mich, während sie mich an sich drückte, auf beide Wangen: „Aber nicht doch, woher denn! Sie wissen doch, daß ich Sie liebe. Ich selbst bin auch seit einiger Zeit sehr nervös…“

Im Januar 1870 rief Jules auf einem Spaziergang im Bois de Boulogne aus: „Ich merke, daß ich nie wieder arbeiten kann, nie wieder!“ Ende Februar mag Edmond noch konstatieren: „Heute ging es ihm gut, wunderbar gut“, doch allein die Aussprachefähigkeit seines jüngeren, gerade 39 jahre alten Bruders nimmt merklich ab: „Rs, die er übergeht, cs, die in seinem Mund zu ts werden.“ „In diesem geliebten Gesicht, das die Intelligenz, die Ironie, jene feine und ganz schön freche Miene des Esprits besaß, sehe ich, wie sich von Minute zu Minute die verstörte Maske des Schwachsinns ausbreitet. Nach und nach legt er die Herzlichkeit ab, er dehumanisiert sich; die anderen sind für ihn nicht mehr da, und von neuem macht sich die grausame Selbstsucht des Kindes in ihm breit.“ Edmond klagt: „ich fühle mich nicht mehr geliebt von ihm“. Sein Bruder entschwindet Schritt für Schritt aus seinem Leben, aus der nonchalanten Arbeitszärtlichkeit zu ihm. Erstmals erscheint so etwas wie Feindschaft: „Er verschließt sich in ein hartnäckiges Schweigen, boshaft umwölkt sich sein Gesicht und in ihm erscheint gleichsam ein neues, fremdes, tückisches, feindseliges Wesen.“  „Seit wirklich langem hat sein Gesicht das Lachen, das Lächeln verlernt.“

Da habe ich wie eine Frau angefangen zu weinen. Ich mußte ihn hinter die Böschung ziehen und dort meinem ganzen Kummer Luft machen, während er mich ansah, ohne recht zu begreifen.

Die Härte, das Vertrocknen seines Bruders lassen auch Edmonds Empfindungsfähigkeit leiden. Seine Trauer macht ihn ungewohnt geizig und hartherzig: „In meinem Unglück wächst mir eine Härte gegenüber dem Unglück anderer zu, die ich nie hatte. Dem Bettler biete ich jetzt ein: ‚Ich habe nichts!‘, dessen Unbarmherzigkeit mich verblüfft.“ Die Verdummung nimmt zu: „Wie ein kleines Kind beschäftigt er sich nur mit dem, was er ißt, mit dem, was er anzieht: er freut sich über ein Zwischengericht, er ist glücklich über ein neues Kleidungsstück.“

„Aber du sagst ja gar nichts“, warf er mir nach einer bezaubernden Bemerkung über ein altes Liebespaar vor. „Tut es dir weh, mich so zu sehen?“

Am frühen Nachmittag des 16. Juni 1870, einem Donnerstag, beginnt das lange Sterben des Bruders: „Es ist zwei Uhr morgens. Ich bin wieder aufgestanden und nehme Pélagies Platz am Bett meines armen, lieben Bruders ein, der nicht wieder zu Bewußtsein gekommen ist, der seit Donnerstag zwei Uhr nachmittags die Sprache nicht wieder gefunden hat. Ich lausche dem Keuchen seiner Atmung.“ „Der Tod kommt näher, ich merke es an seiner beschleunigten Atmung.“ Der Todestag, 20. Juni 1870, ist schließlich ein einziges sensorisches Protokoll von Jules’ Sterben. Frühmorgens horcht Edmond im Halbdunkel vor allem auf Lunge und Puls: „Ein Herz in Aufruhr […] eine gellend pfeifende Atmung“, „das herzzerreißende Geräusch einer Atmung, die wie eine Säge in feuchtem Holz klingt“, „von schmerzlichen Klagen und jammervollen Ahs! skandiert“. Gegen 9 Uhr schaut er genau auf Jules’ Gesicht und sieht „das erdige und backsteinartige Gelb des Todes“, „in seinen Augen ein Ausdruck von Leiden und unsäglichem Elend“, „in seinen trüben Augen plötzlich ein lächelndes Aufleuchten, bei dem ein verschwommener Blick lange auf mir liegt und dann langsam in die Ferne taucht“.

Den Leichnam muss Edmond anfassen, diesen Körper genau betrachten, wie um ihn für immer in Erinnerung zu behalten: „Ich berühre seine Hände: feuchter Marmor“, „die Reglosigkeit dieses Körpers“, „sein Kopf liegt etwas höher auf den Kissen“, „Von seiner Physiognomie scheint eine leicht sarkastische Traurigkeit auszugehen“, „am Ende seiner bleichen Hände das Violett seiner Nägel“.

Hatten die Goncourts sich nicht als Physiognomen verstanden? „Je länger ich ihn betrachte, je mehr ich seine Züge studiere, desto mehr“ scheint es uns Lesern, als unternähme Edmond den Versuch, eine möglichst vollständige Holographie des toten Leibes zu archivieren. Nichts soll vergessen werden von diesen Momenten des Leidens, des Sterbens, des Verlassens, der beginnenden Einsamkeit als Bruder ohne Bruder. Über die Jahre des Schreibens an ihren Romanen und diesem Tagebuch hatten Jules und Edmond eine gemeinsame Persona ausgebildet. Ihr literarischer Stil ist ihr gemeinsames Gesicht, ihr type-face – er grundiert ihren Stolz, als Instanz der französischen Literatur zu gelten, den Naturalismus gesellschaftlich behauptet zu haben, in Grammatik und Handschrift: die Goncourts. Jetzt jedoch begegnet der eine dem anderen wie ein aufs offene Land hinauslaufender King Lear (Namensverlust, Würdeverlust, Machtverlust) – oder aber wie die demokratische Figur jedes senilen Alten, der sich hilflos in verlorenen Ichs verfängt: zum Entsetzen des aus den Bildern des Kranken ausgesperrten Bruders. Sobald sich der eine mit seiner Handschrift aus dem Autorenpaar herausbewegt, zerfällt ihnen Signum und Stil – und was immer ihnen Kohärenz geboten hatte.

Heute morgen war es ihm unmöglich, sich an einen Titel, an einen einzigen Titel seiner Romane zu erinnern…

So steht es mit ihm, und doch besitzt er noch zwei bemerkenswerte Fähigkeiten: die malerische Beschreibung, mit der er einen Vorübergehenden charakterisiert, und das seltene Prädikat, mit der er einen Himmel beschreibt.

Im April hatte Jules das herannahende Ende bereits erkannt, symptomatisch im Zeitgebrauch:

Wenn er nach einem Buch greift und dabei auf eines seiner eigenen Bücher trifft, hat er eine verzweiflungsvolle Formulierung parat. Er sagt: „Das war gut gemacht.“ Nie sagt er: „Das ist gut gemacht.“ In diesem grausamen Imperfekt liegt die kalte Erkenntnis, daß der Literat für immer gestorben ist.

Seit Ende 1869 wird der körperliche Akt des Schreibens und Streichens offenbar immer schwieriger, geschweige denn der gedankliche Akt des Korrigats und Lektorats; Cornelia Hasting, die Übersetzerin, notiert in einer Fußnote: „Nach dieser Notiz verändert sich die Handschrift von Jules de Goncourt. Die kleine, feine und enge Schrift wird plump, eckig und überdeutlich. Es gibt keine Streichungen mehr.“ Mit der gemeinsamen Schrift verlieren die Goncourts ihr gemeinsames Gesicht. Der Tod von Jules zwingt Edmond, sich eine neue Persona zu erschreiben: ein neues literarisches Gesicht zu werden, bruderlos.

Montag, 8. August [1870] — Heute morgen lese ich in seinem Zimmer die letzten traurigen Aufzeichnungen, die seine Hand geschrieben hat.

In den großen aufgeregten Menschmassen, durch die ich mich den ganzen Tag zum Umfallen müde, aber mechanisch immer weiter laufend, schleppe, spüre ich meine Einsamkeit weniger.

Genau einen Monat nach dem Tod seines Bruders an einer „Leberkolik“ –  ein Wort, das er zunächst neun Monate vermieden hatte – notiert Edmond: „Alle Tage werden zu immer neuen Gedenktagen meines Schmerzes und meines Kummers…“ Edmond braucht die gesamten 1870er Jahre, viele einzelne Erinnerungsmomente und -episoden, ehe er es im Jahr 1880 endlich übers Herz bringt, seinen Bruder nicht mit einem Gedenkeintrag zu würdigen. In diesen Jahren ringt er merklich darum, sich immer analytischer, auch historisch distanzierter an seinen Bruder zu erinnern. 1871-83 noch völlig unter Schock, verstrickt in Angstphantasien und einsamer Trauer: „Ich verbringe den Tag damit, die Nachrufe zu bündeln, die ihm gewidmet wurden.“ Er löst sich vom Wir vergangener 20 Tagebuchjahre und geht über zum Er und Ich. Er löst sich mählich aus der Dyade. „Es ist eigenartig wie sich unserer Brüderlichkeit in unseren Lebensszenen, von denen ich nachts träume, nicht aufgelöst hat. Er ist immer noch da“, „Den ganzen Tag habe ich mit meinem Bruder verbracht, in einer Art Umgang eines Lebenden mit einem Toten“, „Ich mache alles aus Pflichtgefühl und meistens für ihn„, „An Festtagen fühle ich mich noch mehr allein als an anderen Tagen“. Edmond hat spürbar „Angst vor jenem Unbeschreiblichen und Andersartigen, das sich in ihn einschleicht“. Im Jahr 1874 scheint der Tod zum ersten Mal ein wenig ferngerückt, doch Überraschung herrscht immer noch vor: „Heute ist es vier Jahre her, daß mein Bruder gestorben ist… Vier Jahre!“. „Ein Wesen wie dieses erschaffen, so begabt, so klug, und es mit neunundreißig Jahren vernichten! Warum?“

Erste Versuche zumindest ansatzweise distanzierender Beobachtung und Abstraktion der eigenen Trauer und Angst unternimmt Edmond schließlich ab 1875. Angst und Trauer wird nicht mehr nur als Schmerzensschrei artikuliert, sondern reflektiert: „In dem Monat, in dem man verloren hat, was man liebte, scheint wahrhaftig die Traurigkeit dem Gedenken an den Jahrestag, den er einem bringt, vorauszueilen.“ „Ich habe Angst vor einem Buch, das ich nicht mehr mit dem Vertrauen beginne, das ich hatte, als er mit mir arbeitete.“ „In diesem Restaurant dann, wo mir so oft mein Bruder gegenüber saß, läßt mich der leere Stuhl auf der anderen Seite des Tisches an ihn denken, und mich überfällt eine große Trauer, als ich mir überlege, daß das arme Kind lediglich das Kreuz des Literatenlebens erlebt hat.“

1878 ist die Todeserinnerung dann den politischen Vorgängen des Tages (auch im Satzbau) schon nachgeordnet: „Heute dringt bei meiner Arbeit das lautstarke, fröhliche Lärmen der Truppenmusterung an mein Ohr; und ich bin traurig, wenn ich an diese in Diensten eines Gambetta stehende Armee Frankreichs denke; und ich bin noch trauriger, als mir einfällt. daß heute der Todestag von Jules ist“ (Bd. VI). Und 1879 wird endlich eine mythische Überhöhung und zugleich grammatische Unterordnung des Brudertodes möglich, der zum anekdotischen Einstieg dient: „Ich kam vom Friedhof – es ist der Todestag meines Bruders – und lief ein wenig ziellos zwischen im Gehen Zeitung lesenden Leuten umher, denen ich keine Aufmerksamkeit schenkte, als in der Rue Richelieu ein Mann – es war Camille Douvet – ein Papier hochhält und es mir reicht. Ich lese: Mort du Prince Impérial. Bei dieser Familie Napoléon scheint das antike Verhängnis wieder aufzuleben, das Verhängnis der Familie der Atriden.“ Ganz ferngerückt, vollkommen historisch ist das Geschehen dann noch vier Jahre später 1883:  „Heute, an meinem Jahrestag, durchstöbere ich mit schmerzlicher Neugier den ganzen Tag lang meine Briefe und Tagebucheintragungen von 1870, diesen traurigen Papierberg vom Tod meines Bruders und dem deutschen Krieg.“ (Bd. VII) Als Leser verfolgen wir in diesen Jahren eine höchst erleichternde Leistung der Verdrängung und der Verarbeitung.

„Wie sehr fehlt doch zwischen den Männern und Frauen, die ich einander lieben sehe, diese unbeschreibliche geistige Verbindung, die es zwischen mir und meinem Bruder gab, und wie sehr sind doch diese Zärtlichkeiten von Herz und Hintern, so leidenschaftlich sie auch sein mögen, dem unterlegen, was uns verband!“ Wir sind froh, dass Edmond nicht untergeht im Ringen mit dem Tod seines geliebten Bruders.

Jules war die wichtigste Beziehung seines Lebens.