Der hässliche Eiffelturm. Ein Jahr mit den Goncourts (XI)
Der Eiffelturm […] etwas Häßlicheres für das Auge eines alten Stadtbewohners läßt sich nicht erträumen (Bd. IX, S. 62)
Die Pariser Weltausstellung 1889 gilt als ein Krönungsfest der europäischen Moderne des 20. Jahrhunderts: gekrönt wird hier vor allem Paris als europäische Metropole der modernen Kunst. Edmond Goncourt aber ist wenig angetan von diesem Spektakel — die Aversion gegen obsessiv gutgelaunte Massenveranstaltungen formt hier schon einen Kern moderner Autorenpersönlichkeiten. Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich wurde rund 100 Jahre später David Foster Wallace’ Erzählung über Kreuzfahrtvergnügungen betitelt in der deutschen Übersetzung; und diese Grundskepsis kennzeichnet Autoren der Moderne in der Regel bis heute. Schon bei Goncourt verbindet sich der Rückzug auf die eigenen Kreise — sei’s des Denkens, der Empfindsamkeit, aber auch der Kultur — mit einer fast angeekelten Abwehr von vermeintlich sinnentleertem und beschleunigtem Treiben der Metropole:
Minarette, Kuppeln, Muascharabien, ein ganzer falscher Orient aus Pappe, kein einziges Gebäude, das an unsere französische Architektur erinnert. Man merkt, daß diese Weltausstellung die Weltausstellung der Hochstapelei sein wird. (Bd, IX, S. 94; Hervorh. im Original)
Bei der Weltausstellung. Die Kommenden und Gehenden, eine ganze Welt blödsinnig geschäftiger, todmüder, verwirrter, kopfloser Leute: eine Menschheit, die an die verrückt gewordenen Tiere erinnert, die ich 1870 [während des Deutsch-Französischen Krieges; DS&HS] außer sich durch den Bois de Boulogne laufen sah. (Bd. IX, S. 116)
Im weiteren Verlauf des Jahres 1889 wird Edmond doch immer wieder »Bei der Weltausstellung« sich aufhalten. Der 9. Band der Tagebücher gerät zu einem Panorama der sukzessiven Modernisierung und Globalisierung der französischen Hauptstadt. Ein Argument, das seither jede Vorbereitung und Bewerbung einer derartigen Großveranstaltung des Sports, der Kunst oder der Politik unaufhörlich begleitet: Die Welt zu Gast bei Freunden! In kleinen Beobachtungen, nebensächlichen Begegnungen und Aufregungen dringen Splitter der erweiterten Welt jenseits der Landesgrenzen in das tägliche, oft viel zu geordnete Leben Edmonds hinein: Allein aufgrund dieses zunächst verachteten Spektakels. Oft sind es dabei weniger Begegnungen mit tatsächlich fernen und unbekannten Kulturen, als mit ganz nahen, ja benachbarten Kulturen, etwa jenen grobschlächtigen und übergriffigen im Osten des Landes:
Eine harte Strecke auf der Ostlinie durch diese Weltausstellung. Die erste Klasse ist völlig von Deutschen überschwemmt, die sich als ebenso schlecht erzogen erweisen wie reisende Engländer, mit einem vielleicht noch verletzenderen Anklang von Jovialität. (Bd. IX, S. 198)
Die rüpelhaft-herablassenden Deutschen und Engländer empören den 67-jährigen Edmond. Wie um Dampf abzulassen muss er sich gleich über einen »nach Käsefüßen stinkende[n] dicke[n] jüdische[n] Bankier« (ebd.) mokieren, dessen Tochter »mit leicht nuttigem Aussehen« (ebd.) sich an ihren Vater schmiegt: »Ich habe nie im Leben etwas so Schamloses gesehen, wie diese öffentliche Bekundung von Vaterliebe« (ebd.). Die Anderen machen ihm Angst, dabei müssen es noch nicht einmal Besucher von anderen Kontinenten sein, es sind die Verachteten des eigenen oder des Nachbarlandes, die er kaum erträgt, »in dieser semitischen, auvergnischen oder marseillischen Gesellschaft« (Bd. IX, S. 94):
Erstes Symptom der Weltausstellung. Ein unerträglicher Moschusgeruch, der der wogenden Menge entströmt, ein unerträglicher Moschusgeruch in einem Boulevardcafé, in dem nur Männer sitzen (Bd. IX, S. 108f.)
Die neue Zeit ist unelegant, wenig anmutig, umdräut von drögen, humorlosen Moschusmaskulisten. Mit der behaupteten Weltoffenheit des belesenen Sammlers und bekennenden Kosmopoliten ist es da nicht weit her. Nur selten kann er im Anrempeln der Besuchermassen wenigstens etwas Amüsantes entdecken, das er aber sofort herabwürdigen muss zur Lakaien-Ebene der »Hausmädchen«:
Es ist amüsant, das Defilee der Leute bei der Weltausstellung: man könnte meinen, sie in einem Stuhl sitzend vorüberziehend abspulen zu sehen. Es ist eine Gesellschaft, die nichts Angriffslustiges, nichts Feindseliges hat, eine Gesellschaft von Hausmädchen. Wohl tritt sie einem auf die Füße und schubst einen und rempelt einen mit den Ellbogen an, aber das ist nur Unerzogenheit. (Bd. IX, S. 186)
Die Weltausstellung und der ganze neumodische Kram von überallher, sie konvenieren ihm nicht. Die Einladung zu einem Diner auf der Plattform des Eiffelturms, dieses geschmähten Eisenmonsters, nimmt er schließlich aber an — mit großem Ausblick über die Ausstellungsfläche: »Das Hinauffahren im Lift, das Gefühl in der Magengrube von einem Schiff, das in See sticht, aber nichts Schwindelerregendes.« (Bd. IX, S. 146) Der Autor eignet sich die neue Technik, das neue Bauwerk dadurch an, dass er dort, auf ihm niedergelassen, ihn dadurch in Besitz nehmend, mit Freunden ein ausgedehntes Menu verspeist. Diese gastronomische Form der Aneignung verbindet ihn mit wenigstens einem anderen Zeitgenossen und Schriftsteller, von dem Roland Barthes seinen beeindruckenden Essay zum Tour beginnt:
Maupassant aß häufig im Restaurant des Eiffelturmes zu Mittag, obwohl er den Turm nicht mochte: »Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe«, pflegte er zu sagen. (Barthes, Der Eiffelturm, 1964/2016, S. 9)
Barthes erkennt im Eiffelturm nicht nur eine Aussichtsplattform oder eine verkörperte Ekstase der Ingenieurskunst, sondern vor allen Dingen eine Zuschauerbühne für Stadtbesucher des beginnenden Massentourismus. Diese Besucher und diese vertikale Tribüne verwandeln die ungreifbare Hauptstadt und Metropole endgültig in ein zugängliches und konsumierbares Objekt, das sich darbietet:
Man muß dem Turm opfern durch einen Aufnahmeritus, den gerade der Pariser sich sparen kann. Der Eiffelturm ist der Ort, der es ermöglicht, sich einem Völkerstamm einzufügen; auf Paris blickend, empfängt der Turm die Essenz der Hauptstadt und bietet sie dem Fremden der, der ihm seinen Initiationstribut gezahlt hat. (Barthes, S. 30)
Unter dem Eiffelturm liegt die Pariser Welt übersichtlich ausgebreitet. Edmond notiert:
Dort oben eine weit über das, was man sich zu ebener Erde darunter vorstellt hinausgehende Wahrnehmung von der Größe, der Ausdehnung, der babylonischen Grenzenlosigkeit von Paris und dabei in der untergehenden Sonne Gebäudestellen mit der Farbe des Steins von Rom, und zwischen den großen, ruhigen Horizontlinien das Aufragen und der pittoreske Himmelsausschnitt des Hügels von Montmartre, der in der Abenddämmerung den Aspekt einer großen Ruine annimmt, die man beleuchtet hat. (Bd. IX, S. 146)
Die Stadt ist Kulisse — der Eiffelturm degradiert Straßen und imposante Bauten zu unterhaltsamen Stichpunkten und Sichtpunkten für jedermann. Was ehedem aristokratisches Vorrecht der Wenigen war — zu ambulieren, zu spintisieren und zu ästhetisieren –, das ist nunmehr Menschenrecht und Massenkultur. Paris aus der Draufschau, Paris als Flachware und Konsumprodukt:
Unter dem Blick des Eiffelturms setzt sich Paris zusammen wie ein abstraktes Gemälde, auf dem dunkle Vierecke (die aus einer sehr weit zurückliegenden vergangenheit stammen) neben den weißen Rechtecken einer modernen Architektur liegen. (Barthes, S.27)
Für einen Autor wie Edmond Goncourt, der Paris von innen her erwandert und protokolliert hat, für den der Plan der Stadt unter den Sohlen und in den Schritten lag, bietet der Tour eine Umkehrung seiner Schau: Die urbane Silhouette wird um die Dimension der Wolken erweitert, sie wird als Abstraktion distanziert und entfremdet, Lärm und Bewegung im Kleinen sinken ins Tableau zurück — die Stadt wird verwandelt im Bild. Während die Impressionisten das Tafelbild zeitgleich pointillistisch aufheben, indem sie es nur noch im Sehen der Salonbesucher stattfinden lassen, suggeriert die Aussichtsplattform eine Stadt so geordnet und objektiviert wie auf einem planen Stadtportrait alten Typs. Das Bauwerk — obwohl immer noch als unästhetisch und grobschlächtig und kaum erhaben gebrandmarkt — wandelt die Sicht des alternden Autors. Im Laufe des Jahres kann Edmonds Auge sich die Struktur des Bauwerkes von Alexandre Gustave Bonickhausen dit Eiffel zunehmend einverleiben. Die Stimmungsmache der Protestation des artistes contre la tour de M. Eiffel, die zum Baubeginn 1887 in der Zeitung Le Temps erschien, tritt langsam zurück. Das fremdartige Eisenwerk wurde in diesem Protest der »écrivains, peintres, sculpteurs, architectes, amateurs passionnés de la beauté« angeklagt als ein technisches Gerät, dessen Unnatur die Stadt stört und zerstört. Das Eisenmonster würde, so der Tenor, die elegante Stadt entehren: Alle ruhmreichen Denkmäler von Paris, sei’s Notre-Dame, Sainte Chapelle, der Louvre, der Dôme des Invalides, Arc de Triomphe, sie alle würden von diesem Fabrikschlot der Lächerlichkeit preisgegeben, verzwergt, der Eiffelturm würde alles andere verdecken. Die grauenvollste Dystopie dieser Protestanten: Paris würde künftig nur noch mit dem Eiffelturm identifiziert werden, die Amerikanisierung der französischen Hauptstadt wäre damit vollkommen. So kurios diese Tirade beim ersten Lesen anmuten mag, so zeigt sich beim zweiten und dritten: Die Autoren haben recht behalten. Nach über einem Jahrhundert steht der Eiffelturm tatsächlich nahezu allein für Paris. Weltweit kennt man den Eiffelturm, man identifiziert diese Stadt dadurch — die anderen erwähnten Gebäude rufen in aller Regel kaum noch Bildvorstellungen oder Fassadenerinnerungen hervor. Architekten und Stadtliebhaber mögen sie kennen, so wie sie nun auch La Défense kennen, das Stade de France im Vorort Saint-Denis, die Pyramide von I.M. Pei im Innenhof des Louvre, das Centre Pompidou oder La Maroquinerie; doch sie sind tatsächlich verschwunden aus der kollektiven Erinnerung, vollständig ersetzt durch die Tribüne des Eiffelturms. Der Kulturpessimismus der Literaten und Künstler hat somit einerseits recht behalten — andererseits ist mit dem Verschwinden der Erinnerung auch jedes Bewusstsein, jedes Beklagen dieses vermeintlichen Verlustes verschwunden: Paris ist nun etwas ganz anderes geworden und der Eiffelturm selbst trug entscheidend dazu bei, dass die Modernität und die globale Bedeutung dieser Metropole wenigstens noch im 20. Jahrhundert erhalten blieb:
Man kann sagen, dass der Eiffelturm, seinen Platz als Symbol für Paris gegen Paris selbst erobert hat, gegen dessen alte Steine, gegen die Dichter seiner Geschichte. Er hat die alten Symbole bezwungen, so wie er materiell deren Kuppeln und Turmspitzen überragt. In einem Wort: Er hat erst voll und ganz das Symbol von Paris werden können, als er in sich die Hypothek der Vergangenheit abzutragen vermochte und Symbol der Modernität werden konnte. (Barthes, S. 53)
Bei allem Widerstand spürte wohl auch Edmond dieses Potenzial des eisernen Konstrukts. Selbst anfangs, als er noch ganz gegen das Bauwerk war, begann er frohgemut ihn zu poetisieren:
Die Weltausstellung vom Trocadéro aus gesehen. Der Eiffelturm, die exotischen Bauwerke, das versetzt einen gleichsam in einen Traum. Diese Ausstellung ist nicht real; man scheint durch die Versatzstücke eines orientalischen Stückes zu laufen… Außerdem ist sie eigentlich zu groß, zu gewaltig, durch nichts gefesselt. (Bd. IX, S. 115)
Das neue Ding wird als abartig und ungehörig geziehen, der Autor zeigt sich aber schon fasziniert von der technischen Exotik des Tour. Der Charme beginnt sich zu entfalten. Der Charme der Exotik scheint ihn noch ergreifen zu können — zumindest aus der Ferne: Sie »plaudern über Javanerinnen« (Bd. IX, S. 146) und Émile »Zola sagt: ›Es gibt etwas Weiches in dieser Fülligkeit, das nicht das der europäischen Fülligkeit ist‹« (ebd.), die erotisch-geschmäcklerische Körperkritik und exotische Projektion verbindet sich mit Edmonds Wille zum Wissen:
Und dann der Bauchtanz, ein Tanz, der interessant für mich wäre, wenn er von einer nackten Frau getanzt würde, die mir die Verschiebung der Organe der Frau klarmachen würde, den Positionswechsel ihres Bauches. (Bd. IX, S. 147)
Das instrumentelle Verhältnis Edmonds zu den Frauen seines Lebens tritt weiter hervor, exotistisch bis zum Zoobesuch pervertiert. Ein Zoobesuch samt Sodomie und komparativen Sexualstudien des Herrenliteraten:
Hier eine Anmerkung, auf die mich meine Vögeleien mit maurischen Frauen in Afrika bringen. Er ist kaum erklärlich dieser Tanz, mit dieser wilden Entfesselung des Bauches und des Hinterns bei Frauen, die beim Koitus die am geringsten ausgeprägten Bewegung haben, ein fast unmerkliches Rollen, und die einem, wenn man sie bittet, dieses Rollen mit dem Auf-und-Nieder unserer europäischen Frauen zu würzen, zur Antwort geben, man bitte sie, Liebe zu machen wie Hunde. (ebd.)
Der koloniale (Sexual-)Genuss der Waren exotisierter Länder — zu denen auch die Sexualfigurinen dieser Länder zählen, die als tierische entsubjektiviert werden — er belässt den Autor in seiner Heimeligkeit, seiner personellen und hegemonialen Integrität. Welche Bewegungsarmut oder befremdliche Bewegungsneigung beim Geschlechtsverkehr, welche Körperformen wären wohl an Edmond in diesem Alter zu beobachten gewesen? Das peinliche Tabu, welches allein diese Frage darstellt, kennzeichnet Edmonds Rolle in einer faktischen Hierarchie des Sexismus, des Rassismus und des Kolonialismus bis heute. Die andere Kulturen und anderen Menschen des eigenen Landes sollen nicht die eigenen Plätze, nicht die gewohnten Cafés, Theater oder Bahnwaggons in Beschlag nehmen! Nicht mit gleichem Recht, mit gleicher Chuzpe oder Selbstgefälligkeit wie er: Das bleibt unangenehm. Da rettet nur noch der heimelige Rückzug in die Betrachtung. Mit dem Blick des Japonisten und Kenners zartester Zeichnungen, Aquarelle und Kupferstiche lobt er gerne die Avanciertheit japanischer Kunst: »Es gibt wirklich französische Ironie bei diesem japanischen Volk.« (Bd. IX, S. 182) Jedes Lob aber kommt von oben herab, aus einer Haltung der (vielleicht pietätvoll oder diplomatisch verdeckten) Überlegenheit. Bleibt diese Überlegenheit gesichert, so kann er sogar einen Aspekt des exotischen Eiffelturms loben, in dem spätere Vortizismen und Kubismen schon von Ferne antizipiert werden:
das eiserne Bauwerk ist nur erträglich in seinen durchbrochenen Teilen, wo es das Glitterwerk von Schiffsgetäu vortäuscht (Bd. IX, S. 62)
Edmond bewundert dieses »Spitzengewebe aus Eisen« (Barthes, S. 57). Keinen Zweifel aber hat er an der Zerstörungskraft seiner technischen Zeit:
Noch bevor hundert Jahre um sind, wird die Industrie die Natur in Frankreich vernichtet haben. (Bd. IX, S. 191)
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