Et in Hildesheim ego: Prosanova 14
Florian Kessler war da, und damit stand der Elefant auch im Raum: die Frühjahrsschreibschuldebatte. In seiner durchaus inspirierten Polemik „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ hatte Kessler in der Zeit die deutsche Mittelschichtshomogenität der deutschen Schreibschüler am Beispiel von Hildesheim beklagt. Der oberflächliche Blick auf das Soziotop, das sich zum vierten Hildesheimer Schreibschulliteraturfestival Prosanova versammelte, führt Kesslers Diagnosen jedenfalls nicht sofort ad absurdum. Sehr weiß, sehr mittelschicht, sehr lässig postmaterialistisch gekleidet im Ulf-Poschardt-Herzkaschper-Stil. Der Mann im Anzug: Schreibschulprofessor Hanns-Josef Ortheil. An der Festivalfrittenbude keine Fritten, sondern Chili sin carne. Umgangsformen: rempeliges Hier-komm-ich auf den Gängen, ansonsten gepflegt.
Als dann, in einem der zwanglosen Frühstücksgespräche, Paul Brodowsky – Absolvent des 1. Jahrgangs, Mitgründer der Zeitschrift Bella Triste und von Prosanova, jetzt Prof für szenisches Schreiben an der UdK in Berlin – meinte, an Kesslers Diagnosen sei einiges dran und er fühle sich in der Pflicht, schon im Vorfeld außerhalb deutscher Arzt- und Apothekermilieus für Schreibschulstudiengänge zu werben – mischte sich aus dem Publikum Ortheil ein mit dem klaren Bescheid, die ganze Debatte sei „Kappes“. Derzeit läge der Anteil der aus anderen als den inkriminierten Milieus kommenden Hildesheim-Schreibschulstudenten bei siebzig Prozent. Da war auch Thomas Klupp, Schriftsteller und Mitarbeiter von Ortheil, sehr überrascht. Wie sehr, wenn es stimmt, der Augenschein trügt.
Klupp und Kessler sah man später beim Tischtennisspielen im Hof. Beide spielten ziemlich gut. Man kennt sich, und so kennt der eine des anderen literarische und Tischtennis-Moves. (Später Rundlauf.) Der Hof war der Pausenhof der leer stehenden früheren Hauptschule am Alten Markt. Das Festival, das alle drei Jahre stattfindet, wechselt den Ort, diesmal war die Suche sehr schwierig. In der Hauptschule war Prosanova sanft ironisch am rechten Platz: Wir sind Schule, und wir wollen es sein. Mit Eifer und Geschick und guten Inszenierungsideen hatten die Studierenden – das Festival liegt komplett in ihrer Regie – Lesebetten gebaut, Paletten zu Straßen und Inseln und Podien vernagelt und in den Flur Buchseitenfaltkunst gehängt. Auf dem Pausenhof ausrangierte Sofas schön lässig durcheinander im Berliner Mittneunziger-Wohnzimmerkneipenstil.
Florian Kesslers Text war ursprünglich nichts fürs Feuilleton der Zeit geschrieben, sondern als Beitrag für ein von Jan Fischer herausgegebenes E-Book mit dem Titel Irgendwas mit Schreiben . Darin sind kürzere, längere, witzigere, nüchternere und sonstige Texte von Hildesheim-AbsolventInnen versammelt. Es geht mit dem Witz, dem Mut (und auch der Verzweiflung) der Verzweiflung um das Leben danach. Vom literarischen Schreiben zu leben, das gelingt ja kaum einem. Ein erster Roman im angesehenen Verlag, das ist meist noch nicht einmal die halbe Miete. Vielleicht klappt es mit dem Sprung aufs Förder-, Preis- und Stipendienkarussell. Auskömmlich ist das selten, bleiben Barkeeper, Werbeagentur, Verlagslektorat, eben: irgendwas mit Schreiben – oder jedenfalls Lesen. Ohne Zynismus war in einem der Frühstücksgespräche davon die Rede: Auch wer nicht als Lyriker, Romancier, Dramatiker reüssiert, ist nach dem Studium doch ein genauerer, gewiefterer, professionellerer Leser. Wenn Autoren mit dem Schreiben scheitern, freut sich doch der Betrieb.
In seinem verzweifelt ironischen (oder ironisch verzweifelten) Fischer-Band-Text „Schreibschule für immer & überall“ schreibt Thomas Klupp: „Für andere mag es ein Leben nach der Schreibschule geben. Für mich nicht. Einmal drinnen, bin ich nie wieder raus.“ Stimmt soweit. Er sitzt jetzt hier, moderiert, ist Mitarbeiter am Institut. Erster Roman (Paradiso): durchaus ein Erfolg (Rauriser Literaturpreis). Promotion: fertig. Er sitzt mit seiner Frau Kathrin Zimmermann hier und jetzt auf der Couch: „Ich habe meine Freundin im 1. Semester an der Schreibschule kennen gelernt. Vor zwei Jahren haben wir das erste Schreibschulkind Deutschlands bekommen.“ (Steht im Buch.) Daneben sitzt ein anderes Paar: Lars Claßen, Lektor für junge deutsche Literatur bei Suhrkamp, damit ein wichtiger Passagepunkt für den Zutritt zu den oberen Etagen des Betriebs, sowie Svealena Kutschke, ihr zweiter Roman Gefährliche Arten ist im vergangenen Jahr erschienen. Das doppelte Paargespräch kreist um sich selbst. Wenn Literaten mit Literaten über Literatur sprechen, ist das oft schrecklich ermüdend: Es gibt da eine Überidentifikation mit dem Job. Schreibleidpalaver. Scheindistanzierte Betriebsironieironie. Entschieden versichert der eine der andern, es gehe im gemeinsamen Leben auch um anderes als das Schreiben. Der Eindruck vermittelt sich dem Außenstehenden nicht.
Lesungen waren auch. Die Sonne schien. Die Stimmung war sehr entspannt. Wolfram Lotz performierte sehr druckvoll und in schöner Endlosigkeit Politverweigerungstheater um somalische Piraten mit Kafka, somalischer Lyrik und dem Spiel mit den Rändern der Absurdität. Comic-Szenarist Dietmar Dath rattert Text, während sein Zeichner Oliver Scheibler dazu Platten auflegt und mit sich aber sowas von im Reinen scheint. Beim Verbrecherverlag steht über ihn dies: „Er hat Jahre im Ausland, bei der Bundeswehr, ohne festen Wohnsitz, auf Technopartys, im Kunstarchiv einer Produzentengalerie und in anderen Dimensionen verbracht. Er ist ausgebildeter Zimmermann und studierter Grafik-Designer.“ Keine Schreibschulkarriere, das steht mal fest. Die Mensa ist voll. Die Stimmung ist gut. Es wird gelacht und geklatscht. Vor so vielen Menschen, sagt Aisha Franz, die ihren wunderbar durchgeknallten Geheimagentenhündinnencomic Brigitte vorstellt, hat sie noch niemals gelesen. Draußen dann macht sich Clemens Meyer unmöglich mit unfassbar unkomischem Zotengewitzel. Nach zehn Minuten dieses Gequassels hilft nur die Flucht. Bravourös: Sasa Stanisic, der mit seinem Buchpreisgewinner Vor dem Fest schon 70000 Exemplare verkauft hat. Im Vergleich ist das viel. Auf vier Jahre Arbeit gerechnet, kommt auch nur ein eher mediokres Gehalt dabei raus.
Es wurden ungewohnte Lesungsformate probiert: Im Hof wechseln beim Gong die Zuhörer von Autorin zu Autor, die als ruhende Inseln inmitten des wandernden Publikums lesen. Etwas Soziales mit Jo Lendle, Jan Brandt und Annika Reich (aber da war ich schon weg). In der Turnhalle wird ein Text in einer Steh-, Sitz- und Wanderperformance gelesen, deren Beziehung zum Text sich nicht wirklich erschließt. Einen schönen Stunt gab es am Freitag: Kathrin Passig und Dirk von Gehlen sprechen über das Digitale und die Literatur. So war das angekündigt. Auf der Bühne aber alles verkehrt. Kathrin Passig mit einem riesigen Namensschild „Dirk von Gehlen“ um den Hals. Dirk von Gehlen trägt das Namensschild „Kathrin Passig“. Sie vertreten des jeweils anderen Positionen und ziehen das ziemlich souverän durch. Es kommt allerdings so erheiternd wie erschwerend hinzu, dass Kathrin Passig (als Dirk von Gehlen) zwar Kathrin Passig ist, aber Dirk von Gehlen (als Kathrin Passig) ist nicht Dirk von Gehlen. Dargestellt wird er nämlich von Stefan Mesch, einem Hildesheim-Absolventen. Er ist einer, der die Sache mit der Literatur außerordentlich ernst nimmt. Seit Jahren schreibt er an seinem ersten Roman, er soll im Sommer 2015 fertig sein. Es gibt auch ein Blog. Stefan Mesch liebt die Liste, das Durchnummerieren. Im Irgendwas mit Schreiben-Band hat er ein 100-Punkte-Manifest in eigener Sache verfasst (das man online hier nachlesen kann). Ein ziemlich toller Text, schonungslos, nicht auf einen Nenner zu bringen, offen, peinlich, ehrlich, narzisstisch, nicht auszurechnen. In Paragraph 18 bringt er die Schreibschulsache in subjektiver Richtigkeit auf den Punkt:
Ich will nicht wissen, ob viele Texte/Kurzgeschichten, die ich in Hildesheim diskutierte und verbessern half, die allerletzten Geschichten waren, die meine Freunde schrieben. ‚Höchstens drei von euch machen später mit Romanen Karriere‘, klärte Hanns-Josef Ortheil schon in Woche 1. Wir waren 14 Anfänger – und schreiben heute, zehn Jahre später, fast alle noch in irgend einer Form. Doch ‚Roman-Autor(in), veröffentlicht‘ dürfen sich tatsächlich nur Kai und Nora nennen, bisher. Für mich war Hildesheim eine Schreib- und Lebensverhinderungsanstalt. ‚Durchlässig wie Badeschaum‘? ‚Offene Türen‘?! Oft half über Monate nur grimmiges Weiterschreiben – während Freunde heulten und den Kübler-Ross-Phasen des Aufgebens folgten wie in jeder anderen Casting- und Reality-Show, ihre Romanversuche löschten, Nischen der Kultur-Vermittlung suchten, die schneller Lob oder besser Bezahlung brachten. (Dass bei diesem Ausharren, Weiterschreiben, Sich-Nicht-Beirren-Lassen auch reiche Eltern oder ein Arztsohn-Ego helfen – klar!)
Das sind die Mühen der Ebene. Von ihnen war auch auf Prosanova immer wieder der Rede. Im Litroom erzählte eine Autorin von ihrem Blog, in dem sie einen Countdown zum Aufhören schreibt: Am Ende ist es dann aus und vorbei mit der Literatur. Ich kam zu spät, weiß nicht, wer das war. Die anderen machen weiter, mit Verzweiflung und Mut. Aber ungelogen: Die Stimmung war gut.
Zum Nachhören: Beim Litradio des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben gibt es viele Aufzeichnungen von den Veranstaltungen und Lesungen.
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