Unfälle der Digitalisierung

In vielen Bereichen meiner Universität, die Opfer eines Angriffs auf ihre digitale Infrastruktur geworden ist, kann man derzeit die Wiederkehr des Analogen, des Präsentischen innerhalb der Ära der Digitalisierung beobachten. Es ist die Wiederkehr der prädigitalen Universitätskommunikation. Die Universität ist wie früher: Sprechstunden werden über Zettel an der Bürotür bekanntgegeben, der Lehrkörper ist bis auf die geforderte Präsenz in den Lehrveranstaltungen und in den Sprechstunden nicht erreichbar, korrigierte Hausarbeiten werden per Post versendet, aus PDFs in digitalen Semesterapparaten, auf die man von überall aus Zugriff hatte, werden Kopiervorlagen in Aktenordern, die in Regalen in der Bibliothek stehen. Die Dauerkommunikation der digitalisierten Universität scheint für wenige Augenblicke angehalten worden zu sein.

Funktionierende Infrastrukturen einer Institution garantieren Beständigkeit ihres Handelns und ihres Betriebs. Ein Angriff auf die digitale Infrastruktur gefährdet immer die Beständigkeit und die Verlässlichkeit des universitären Handelns oder macht die Risiken der Digitalisierung sichtbar. Sind die dazu notwendigen Infrastrukturen lahmgelegt oder nicht zugänglich, so ist die Universität als Institution nicht oder nur sehr eingeschränkt handlungsfähig. Ein Beispiel: Wenn das zentrale Prüfungsverwaltungssystem einem Angriff ausgesetzt bzw. vom Internet genommen worden ist, kommen weder die Studenten noch die Mitarbeiter aus der Verwaltung an den Notenspiegel. Noten können auch nicht eingetragen werden. Es können keine Zeugnisse ausgestellt werden.

Der Aufbau von digitalen Infrastrukturen an den Universitäten und Hochschulen dieses Landes wird von politischer Seite in einem erheblichen Maße mit Innovationsdruck aufgeladen. Wenn diese Elemente digitaler Infrastruktur in ihrem Kern angegriffen werden und nicht mehr funktionieren, dann belehrt uns dies über zwei Dinge: erstens über grundsätzliche Probleme moderner Infrastruktur und zweitens in mancherlei Hinsicht über die Probleme der Krisenkommunikation an der Universität.

Infrastrukturen, ob digital oder nicht, sind Strukturen der Daseinsvorsorge und der -verbesserung an den Universitäten. Sie sind einerseits, wie der Historiker Dirk van Laak formuliert, „Garanten der Beständigkeit“. Andererseits bietet der Aufbau von Infrastruktur diverse Möglichkeiten der Mobilisierung von gesellschaftlichen Prozessen. Das ist das Innovationsversprechen. Mit der Digitalisierung kann man Flexibilisierung von Lernorten erreichen, um so den unterschiedlichen Lebenslagen der Studenten entgegenzukommen. In seinem Aufsatz Garanten der Beständigkeit zitiert van Laak einen Text des Publizisten Ferdinand Fried aus dem Jahre 1951 (Das technische Werk). In diesem heißt es, dass der Aufbau von Infrastruktur „das einzige Mittel“ sei, um die Menschen heute noch zu größeren Gemeinschaften zusammenzuhalten.“ Das scheint heute noch sehr aktuell zu sein: nur durch das ‚technische Mittel‘ der Digitalisierung kann sich die Universität als community of practice, als Gemeinschaft der Innovation erleben, die durch eine gemeinsame Technik zusammengehalten wird. Gleichzeitig offenbart Blick auf die Infrastruktur die Komplexität technischer Prozesse in der modernen Gesellschaft. „Was ist nicht alles erforderlich“, heißt es bei Fried weiter, „daß eine elektrische Glühbirne brennt. Alles das setzt ein unübersehbares Heer von Menschen in Bewegung, erfordert eine langfristige und umsichtige Planung und Ordnung, durch die alle diese Menschen mehr oder weniger, ständig oder vorübergehend verbunden und zusammengehalten werden“. Es entsteht „ein ungeheures Netz gegenseitiger vertraglicher Verflechtungen, und man fügt sich damit in eine gewaltige Organisation ein, ohne die das moderne Dasein in Anarchie verfallen würde.“ Man spürt diese Anarchie genau dann, wenn die digitale Infrastruktur einer Hochschule nicht mehr zur Verfügung steht. Ein Angriff auf die Infrastruktur ist eine Kippfigur, die die Organisiertheit von Prozessen in die reine Anarchie zurückfallen lässt: in den Alptraum jeder Verwaltung also.

Gleichzeitig belehren uns Angriffe der oben genannten Art, dass Infrastrukturen nur scheinbar Garanten für eine sichere oder bessere Zukunft der Organisation sind. Die modernen – hier nur andeutbaren – Verhältnisse führen hingegen zum Verständnis der Gesellschaft als ‚Versicherungsgesellschaft‘, in denen es Institutionen geben muss, die dieses, zeitgenössisch formuliert, Risiko übernehmen, managen und steuern.

Der Foucault-Schüler François Ewald hat in diesem grundlegenden Werk Der Vorsorgestaat wie folgt beschrieben: Die institutionelle Ordnung der Gesellschaft „ ist nichts anderes als eine umfassende Versicherung gegen die Risiken, die sie durch ihre eigene Entwicklung verursacht.“ Erfolgreiche Angriffe, die in der Lage sind, eine Infrastruktur außer Kraft zu setzen, offenbaren ein nur unzureichend gemanagtes Risiko.

Man kann die Ereignisqualität solcher Angriffe aber auch anders beschreiben. Es sind Unfälle der Digitalisierung. Unfälle erhalten ihr Profil durch eine doppelte Abgrenzung gegen die Katastrophe einerseits und die vorsätzlich herbeigeführte, von einem Subjekt verantwortbare Handlung andererseits. Von der Katastrophe ist der Unfall vor allem durch sein soziales Wesen und seine Regelhaftigkeit unterschieden. Angriffe finden immer statt. Katastrophen werden als außergewöhnliche Ereignisse wahrgenommen, die gleichsam von außen in die Räume der digitalisierten Zivilisation eindringen und diese bedrohen.

Demgegenüber ist der Angriff auf eine IT-Infrastruktur im modernen Sinne eher ‚normal‘, jedenfalls nicht außergewöhnlich, er gehört zur technischen Zivilisation der Digitalisierung. Digitale Infrastrukturen werden auf die Möglichkeit des Eintretens künftiger Schäden oder Verletzungen hin geprüft und abgesichert. Man müsste also jederzeit mit dem Eintreten dieses Ereignisses rechnen. Das ist die Aufgabe der IT-Sicherheit, die ja nichts anderes als eine Risikomanagement ist. ,Die digitalisierte‘ Hochschule beginnt so, sich gegen die von ihr selbst ausgelösten Risiken zu versichern. Die digitalisierte Hochschule kann, idealiter, eine Ordnung grundsätzlich nicht mehr bedrohen oder zumindest temporär außer Kraft setzen, da die neue, auf die Kalkulation mit zivilisatorischen Risiken abzielende Ordnung immer schon mit dem Eintritt eines Ereignisses dieser Art ‚rechnet‘.

Die, wie es im Jargon des Managements heißt, „IT-Governance“ von Hochschulen gerät an ihre Grenzen, mit denen sie eigentlich hätten rechnen müssen. Unter „IT-Governance“ versteht man ein organisationales Konstrukt, das in Kompromissfindung zwischen der Zentrale und der Dezentrale der Fakultäten, Institute und Dezernate Prozesse regelt, steuert und organisiert, um eine effiziente IT-Infrastruktur und effektive IT-Services zu ermöglichen. Eine IT-Governance hat immer das Ganze der Organisation im Blick, muss also Forschung, Lehre und Verwaltung koordinieren über digitale Technologie ‚verzahnen‘. So ist die Einführung sogenannter integrierter Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Instrumente auf digitaler Basis hochgradig organisationsverändernd, da sich Routinen, Arbeitsabläufe, Zuständigkeiten und eingeschliffene Kommunikationswege zwangsläufig verändern. Die Einführung von digitalen Lehrplattformen ist dahingehend weitaus schwieriger, da es die Autonomie des Lehrpersonals, der Studenten und der Lehrveranstaltung bedroht. Während man in der Verwaltung angewiesen werden kann, ERP-Instrumente zu benutzen, gilt dies für die Lehre im Hinblick auf die Nutzung digitaler Instrumente gerade nicht. Auch lässt sich an vielen Hochschulen beobachten, dass, ob aus Tradition oder aus Faulheit, bis auf die Ebene der Lehrstühle hinunter ein Potpourri von unterschiedlichen Systemen und IT-Architekturen besteht, die eine IT-Governance zusätzlich erschweren, zu Redundanzen und Risiken führen und somit der Effizienz entgegenlaufen.

Digitale Infrastrukturen, die ja Kontinuität und den effizienten Betrieb der Universität und ihrer Teilbereiche garantieren, sind dann als zentrales Elemente der universitären Ordnung bedroht, wenn sie unter den Auspizien des Digitalisierungsdrucks ausgebaut werden, ohne dass die gleichen Ressourcen in die IT-Sicherheit investiert würden. Deswegen bedeutet idealiter IT-Governance auch, die Systeme vor Angriffen möglichst gut zu schützen. Kein Biotechnologe, kein Ingenieur kann es sich unter der Auspizien des Wettbewerbsdrucks derzeit leisten, über einen gewissen Zeitraum keinen Zugriff auf Forschungsdaten zu haben. Das wäre für die Position in Wettbewerben wie der „Exzellenzstrategie von Bund und Ländern“ fatal. Bis zum 01.02.2023 muss eine Absichtserklärung für Exzellenzcluster eingereicht, Anträge müssen bis zum 31.05.2023 eingereicht werden. Vor allem datenintensive Wissenschaften sind von einer funktionierenden Infrastruktur abhängig. Eine Verzögerung in der Datengewinnung oder im Zugriff auf gemeinsame Daten im Rahmen kollaborativer Forschungsprojekte kann sich niemand leisten, der Ende Mai 2023 oder wann auch immer einen Antrag einreichen möchte.

Ein Angriff und das temporäre Aussetzen der universitären Infrastruktur sind auch kommunikative Großereignisse. Man nennt dies Krisenkommunikation. Die Kommunikation der Krise in solchen Fällen beinhaltet immer das Versprechen, dass der Betrieb auch unter schwierigen Bedingungen möglichst weiterläuft. Das Ereignis wird als Katastrophe in Szene gesetzt, als gleichsam ‚unerhörte Begebenheit‘, die die Ordnung der Universität außer Kraft setzt. Nur in dieser Form der Kommunikation gelingt es, die Frage nach der Verantwortung und des internen Umgangs mit den Risiken der Digitalisierung zunächst einmal zu verschieben.

Die Aufgabe der Verwaltung aber ist die Aufrechterhaltung des Betriebs. Als solche ist die Verwaltung, auch die Universitätsverwaltung, dann, wie Wolfgang Seibel in Verwaltung verstehen schreibt, immer eine „formale Organisation, deren Zweck nicht die Dienstleistung selbst, sondern die Aufrechterhaltung des Betriebes ist.“ Die Universität dekretiert beispielsweise, dass die Lehre trotz des Ausfalls von digitaler Lehrinfrastruktur in Präsenz weiterläuft. Der Betrieb der Lehre ist damit für die Studenten in Präsenz gesichert, für den Lehrkörper aber nur eingeschränkt. Es war dieselbe Universität, die ihre Lehrenden mit sanftem Druck dazu aufgefordert hat, die Infrastruktur der Lehre, wie Seminarmaterialien und anderes mehr, zu digitalisieren und online zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wird damit die Universität als Ort des Analogen und der Begegnung besonders hervorgehoben: Kommt zu uns, es geht halt weiter. Es entsteht der Eindruck, dass die Zuständigen für Digitalisierung für ihren Einsatz in der Bewältigung der Krise über alle Maßen hervorgehoben werden, damit die Frage nach der Verantwortung für dieses Digitalisierungsdesaster nicht in der Vehemenz gestellt wird, wie sie es verdient hätte. Es treten hier nämlich Rollenkonflikte auf, die für die moderne Universität typisch sind: Aus Innovatoren müssen zwangsläufig Aufrechterhalter des Betriebs werden, Transformatoren müssen als Stabilisatoren auftreten. Alle bitten um Geduld oder Verständnis im Moment der Krise. Sie appellieren damit an Tugenden organisationalen Verhaltens und Kommunizierens, die sonst rar gesät und auch unter Innovationsdruck nicht mehr gefordert sind. Im Falle solcher Desaster stellt sich die Frage nach einem, schreibt Wolfgang Seibel in Verwaltung verstehen, „Gesamtzusammenhang zwischen fragmentierten und hybriden Organisationstrukturen und individuellem Entscheidungsverhalten“. Digitalisierungsregimes, die Innovation, Transformation, Effizienz und Effektivität versprechen, werden durch die Krisen, wie sie derzeit an vielen Universitären vorherrschen, sichtbar. Reale Ereignisse wie der Ausfall der IT-Infrastruktur spielen symbolisch mit unserem Vertrauen in eine funktionierende Infrastruktur oder machen deutlich, vor welchen Herausforderungen der Aufbau zukünftiger Infrastruktur steht.

Sie zeigen uns gleichzeitig, wie vulnerabel und damit risikobehaftet die gegenwärtigen und zukünftigen Infrastrukturen sind. Wir haben es hier auf eine gewisse Weise mit einem Digitalisierungskrimi zu tun. Für den modernen Kriminalroman sind nämlich die Risiken und die Möglichkeiten moderner Infrastruktur ein beliebtes Sujet, der Angriff auf sie treibt die Geschichte voran. Schon Ian Fleming beschreibt in seinen James Bond-Romanen mit Spectre eine Organisation, die es auf die kritische Infrastruktur moderner Gesellschaften abgesehen hat. Infrastrukturen sind also nur scheinbar Garanten für eine sichere Zukunft von Gemeinwesen. Es sind gesellschaftliche Orte des Risikos. Digitalisierungskrimis wie der Angriff auf meine Hochschule spielen nicht nur mit unserem Vertrauen in die existierende oder aufzubauende Infrastruktur, sie erschüttern es. Ich gehe jetzt erst einmal in die Poststelle.