Rechtsstaat und Terrorismus. Eine Notiz zum Engagement von Annie Ernaux

Im deutschen Feuilleton gibt mitunter das Halbwissen die Marschroute vor, sobald Annie Ernaux’ politisches Denken zur Sprache kommt: Hilmar Klute hat am Samstag in der Süddeutschen Zeitung zwei engagierte Schriftsteller nebeneinandergestellt und kam dabei zu eindeutigen Kurzschlüssen. Während er Heinrich Böll in gleißendem Licht erstrahlen lässt, wirkt Ernaux nur wie ein müder, opportunistischer, politischer unappetitlicher Abklatsch des streitfreudigen Intellektuellen.

Klutes Schilderung hat beschränkten Wirklichkeitsbezug, so getränkt mit Nostalgie kommt sie daher. „Böll und Ernaux, zwei Nobelpreisträger, der eine mit dem Wagemut des ungeschützten Bürgers, die andere mit dem Gratismut der heute salongeschützten Altlinken.“ Liebend gern würde ich solche Salons mal betreten, fürchte aber, dass sie inzwischen nur noch im Bonner Haus der Geschichte zu bestaunen sind. Aus dem SZ-Text spricht offenkundig ein Kind der alten Bundesrepublik. Darüber hinaus geht es in dem Artikel bunt durcheinander, irgendwann landet man auch bei Brecht, Houellebecq, schließlich Nora Bossong, die, so Klute, es einfach nicht bringt. Was das alles soll? Müsste man den Autor fragen. Wer von stringenten Gedankengängen genug hat, kann sich jedenfalls bei Klutes freien Assoziationen kurz erholen.

Hier soll es nur um eine Sache gehen: Ernaux’ Verhältnis zum anti-israelischen Terrorismus. Böll habe sich Klute zufolge anders als Ernaux nie mit Terroristen gemein gemacht, sondern lediglich auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards gepocht – auch und gerade im Umgang mit den selbsterklärten Gegnern dieses Rechtsstaates. Ganz anders „die für ihre Autofiktionen gerühmte, sich selbst im Schreiben als unpolitisch betrachtende Erzählerin, die als Citoyenne aber eine Petition für die Freilassung des libanesischen Terroristen Georges Abdallah unterschreibt. Für das Protokoll: Abdallah ist maßgeblich an der Ermordung des israelischen Diplomaten und Mossad-Mitarbeiters Yacob Barsimantov beteiligt gewesen. 1982 wurde Barsimantov in Paris mit einer Automatikpistole erschossen. Seine achtjährige Tochter stand neben ihm, als er ermordet wurde.“

Abdallah hat sich zunächst als Mitglied der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, dann, unter dem Eindruck der israelischen Invasion im Südlibanon im März 1978, als Rädelsführer der „Revolutionären Libanesischen Armeefraktion“ (FARL) dem Terror gegen Israel verschrieben. Der Mord an Barsimantov am 3. April 1982 war eine von langer Hand geplante, politisch kalkulierte, kaltblütig durchgeführte Hinrichtung. Darauf musste der Rechtsstaat verhältnismäßig, zugleich aber mit der ganzen Härte des Gesetzes reagieren, was er im Übrigen auch tat.

Seit Oktober 1984 sitzt Abdallah in Frankreich hinter Gittern. Doch die blutige Spur endete nicht mit Abdallahs Festnahme durch die französischen Sicherheitsbehörden. Um Abdallah frei zu pressen, verübte die Untergrundorganisation „Komitee für Solidarität mit politischen Nahost-Gefangenen“ zwischen Dezember 1985 und September 1986 eine Reihe von Anschlägen in Paris, bei denen 13 Menschen getötet wurden mehr als 250 Personen verletzt wurden. Das ist die eine Lesart: Andere sehen nicht die FARL, sondern die Iran-treue Hizbullah als Urheber der Attentate. Frankreich hatte sich im Iran-Irak-Krieg auf die Seite Saddam Husseins gestellt. Wie dem auch sei, eines steht fest: Was die 1970er in der BRD waren, das wurden die 1980er Jahre in Frankreich: eine bleierne Zeit, in der terroristische Banden ihr mörderisches Unwesen trieben und die Zivilbevölkerung zur Zielscheibe wurde.

Kompliziert wird die Sache dort, wo auf das französische Justizsystem politischer Druck ausgeübt wurde. Ursprünglich wurde Abdallah nämlich zu lediglich vier Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, unerlaubten Waffenbesitzes und gefälschter Papiere verurteilt, sogar eine Einstellung des Verfahrens zeichnete sich einstweilen ab. Doch plötzlich traten die US-Behörden auf den Plan und schalteten sich als Nebenkläger in den Prozess ein. Präsident Mitterrand und sein Premierminister Chirac standen düpiert da, vorgeführt von Washington. 1987 folgte dann der Schuldspruch: Abdallah wurde wegen Beihilfe zum Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft nur 15 Jahre ohne Bewährung gefordert hatte.

Nun steht es Abdallah seit 1999 frei, Begnadigungsgesuche zu stellen. Sie wurden bis heute neun Mal abgelehnt. 2012 sah es kurz so aus, als ob er rauskommt: Ein Strafvollzugsgericht empfahl die Freilassung auf Bewährung – vorausgesetzt, Abdallah verlässt Frankreich. Vor den Kameras machte Victoria Nuland, damals Pressesprecherin des US-Außenministeriums, ihrem Unmut Luft. Sie sei „enttäuscht“ von der französischen Justiz. Hinter den Kulissen folgten der Verbitterung Taten, wie den Wikileaks-Enthüllungen zu entnehmen ist. In einem Telefonat mit ihrem französischen Amtskollegen Laurent Fabius sprach sich US-Außenministerin Hilary Clinton deutlich gegen eine Freilassung Abdallahs aus. Daraufhin weigerte sich die französische Justizministerin Christiane Taubira, unabhängigen Richtern politische Weisungen zu erteilen.

Clinton konnte sich auf jemand anders verlassen: Innenminister Manuel Valls gab zu Protokoll, er sehe sich nicht in der Lage, den Abschiebebescheid zu unterzeichnen. Taubira erwartete in der Sache ein Machtwort von Präsident Hollande, doch der schwieg sich vielsagend aus. Im April 2013 machte ein Kassationsgericht die Freilassung unter Vorbehalt dann wieder rückgängig. Aufgrund solcher Vorkommnisse spricht die französische Menschenrechtsorganisation Ligue des droits de l‘homme von einer Art „Notstandsjustiz“, was den Fall Abdallah angeht.

Damals empörte sich sogar der Ex-Chef des französischen Inlandsgeheimdienstes Yves Bonnet über die Entscheidung. Bonnet stand dem Nachrichtendienst DST von 1982 bis 1985 vor, wusste also um die Gefährlichkeit Abdallahs. Dessen Begnadigung wurde oft mit der Begründung abgelehnt, dass Abdallah, zurück auf freiem Fuß, den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen könnte. Tatsächlich zeigt er bis heute keine Reue und sieht keinen Grund, von seinen Überzeugungen abzurücken. Dennoch hielt Bonnet es für unwahrscheinlich, dass Abdallah wieder zu den Waffen greift, und empfand die fortwährende Inhaftierung als „skandalös“, wie er 2012 gegenüber der Zeitung La Depêche erklärte. Selbst einige Gefängniswärter setzten sich für Abdallahs Freilassung ein.

Was hat Ernaux damit zu tun? Im Oktober 2023 wird Abdallahs vierzigstes Jahr im Knast beginnen, damit sitzt er länger ein als irgendein Terrorist der ETA oder der RAF: Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Eva Haule und, als letztes RAF-Mitglied, Birgit Hogefeld wurden alle vorzeitig oder auf Bewährung aus der Haft entlassen. Meines Wissens saß mit Ausnahme von Rudolf Hess kein einziger NS-Verbrecher derart lange hinter Schloss und Riegel. Dass sie sich für eine Begnadigung Abdallahs einsetzt, erwächst aus genau dem Rechtsstaatsverständnis, das Klute Böll zu- und Ernaux in drei Sätzen ohne weitere Erklärung abspricht.

Man kann Ernaux’ Werk für nicht preiswürdig, ihre politische Haltung für bestenfalls erratisch, wenn nicht sogar gefährlich, ihre Popularität für unbegründet halten. Nur wäre man dann als Journalist gut beraten, sämtliche Fakten auf den Tischen zu legen, damit sich andere eine Meinung bilden können. Stattdessen rieselt es selbstgerechte Vorverurteilungen von Feuilletonisten, die ihre eigene Ignoranz wie eine Monstranz vor sich hertragen.