Tod, wo ist dein Stachel? Über den Krieg in der Ukraine und anderswo

Der Film erzählt, historisch informiert, die Geschichte eines französischen Majors, den man dazu abgestellt hat, Gefallene des Ersten Weltkriegs zu administrieren. Er führt deren Akten, ordnet ihre Überbleibsel, macht trauernde Hinterbliebene ausfindig. Seine Leben dreht sich um den Tod und nichts anderes. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, als man ihm den Auftrag erteilt, eine Leiche aufzutreiben, die alle Voraussetzungen mitbringt (französisch, männlich, weiß, komplett), um als »unbekannter Soldat« französisches Heldentum zu verewigen. Nach dieser Erfahrung quittiert er frustriert den Dienst.1

(Dieser Text ist im Dezemberheft 2022, Merkur # 883, erschienen.)

Ganz anders sein oberster Dienstherr, der Kriegsminister. Er hat vom Tod noch nicht genug und erhebt ihn zur Staatsaffäre: Es gilt, einen angemessenen Festakt zu organisieren, in dessen Verlauf unter den angelieferten Leichen jene bestimmt wird, der schlussendlich die Ehre zuteilwerden soll, von Verdun nach Paris transportiert und unter dem Arc de Triomphe begraben zu werden. Monsieur le ministre findet Gefallen an den Gefallenen, also legt er sich ins Zeug: Fanfaren, Trommeln, Fahnen, Ehrengäste, Publikum, eine staatsmännische Rede. Der Stachel des Todes ist gezogen.

Anderthalb Millionen dahingeraffte Franzosen – und ein nächster Krieg taucht schon am Horizont auf. Der gesunde Menschenverstand begreift dieses Wechselspiel nicht, denn: »Von den Menschen im Ernst zu fordern, dass sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe, ist grauenhaft und verrückt.«2 Grauenhaft, verrückt – und unerklärlich. Warum nur lassen sich die Leute massenhaft darauf ein?

Anders gefragt: Wie geht man politisch so mit dem Sterben um, dass das Töten nicht in Verruf gerät? Vier Strategien zeichnen sich ab: Die Risiken des Krieges werden erstens verdrängt, zweitens verherrlicht, drittens vergütet oder viertens verordnet. Welche Mixtur zum Zuge kommt, entscheidet sich von Mal zu Mal. Und was daraus folgt – Krieg, kein Krieg, »ein bisschen« Krieg –, hängt nicht zuletzt davon ab, aus welcher Routine (fünftens) die Politik gerissen wird.

 

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