Die Irrtümer der Soziologie

Der Zeitraum der Menschheitsgeschichte, in dem man sich in Europa voller Überzeugung als »modern« bezeichnen konnte, umfasst kaum hundert Jahre, von den Umbrüchen der 1870er bis zu denen der 1970er Jahre. Es war eine Ära, in der der bürokratische Nationalstaat das stabile Bauelement geopolitischer Macht, der Wohlfahrtsstaat das Modell sozialer Gerechtigkeit schien. Die liberale Demokratie sollte sich durch die stetige Ausweitung des Wahlrechts und der gesetzlich geschützten Menschenrechte verwirklichen.

(Dieser Text ist im Septemberheft 2022, Merkur # 879, erschienen.)

Expertinnen und Experten der Natur- wie der Sozialwissenschaften (Letztere frisch in verschiedene Disziplinen geteilt) sollten ihr Wissen für die Entwicklung reicherer, gesünderer, glücklicherer Gesellschaften zur Verfügung stellen. Die Industrie war zuständig für die kontinuierliche Ausweitung produktiver Möglichkeiten. Die Kunst verlor ihre Funktion der Abbildung der Welt oder der Feier politischer oder religiöser Autoritäten und war in die Freiheit entlassen, alternative Ausdrucksformen zu erfinden.

In seinem Buch The Return of Inequality betont Mike Savage, dass die »Moderne« sich auch in einem spezifischen Verhältnis von Zeit und Raum manifestierte, am deutlichsten spürbar, wenn man durch die Straßen der großen europäischen und amerikanischen Städte spazierte.1 Die moderne Gesellschaft existierte in einem Zustand ständiger Bewegung, zwischen einer jetzt erloschenen Vergangenheit und einer Zukunft voller Unsicherheit, dadurch aber auch voller Optionen. Das »Prämoderne« oder »Traditionelle« war vergangen und darum kaum noch von Interesse. Verhängnisvollerweise prägte diese Einstellung, wie Gurminder Bhambra und John Holmwood zeigen, auch den Blick auf viele nichteuropäische Völker: Sie erschienen als Relikte, die auf den aktuellen Stand gebracht oder ersetzt werden mussten.2

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