Alternativen zur Gegenwart – Replik auf Eckhard Schumacher

Aus Anlass dieser Replik schalten wir Eckhard Schumachers Text aus dem Märzheft des Merkur für eine Woche frei.

Die Gegenwart könnte schockierender sein. In seinem Text Present Shock – Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung (Merkur 3/2018) gibt Eckhard Schumacher einen Überblick über die Literatur zur „Fixierung auf die Gegenwart als zentrales Problem der heutigen Gesellschaft.“ (67) Referiert werden dabei Studien aus der Medien- und Kulturwissenschaft, die den Prozess der Digitalisierung mit veränderten Zeitkonzepten in Verbindung bringen – keine neue These, aber sicherlich eine, die weiterhin Aufmerksamkeit auf sich zieht und für eine rege Textproduktion sorgt. Doch fragt sich, welche Gegenwart (und welche Medien- und Kulturwissenschaft) gemeint ist.

Angesichts der Tatsache, dass mit Aleida Assmann lediglich eine einzige Frau zitiert wird, kann man wohl von einer männlichen Perspektive ausgehen. Fast ausschließlich ist diese Perspektive eine westlich geprägte (mit der Ausnahme des Sammelbands Der Zeitkomplex, herausgegeben von Armen Avanessian und Suhail Malik, auf den jedoch nur verwiesen wird). Sieht man von diesen beiden Ausnahmen ab, handelt es sich um eine Perspektive älterer Generationen.

Über die old white men ist viel gesagt und geschrieben worden. Ihre Perspektive gilt so viel wie jede andere. Doch dass die Gegenwartsdiagnosen aus dieser Perspektive sich zu einem kohärenten Bild überschneiden, legt den Schluss nahe, dass die Perspektive der old white men situierter ist, als sie es zu sein vorgibt. Der Beschleunigungsdiskurs (bzw. unter umgekehrten Vorzeichen der Entschleunigungsdiskurs), den Schumacher anhand von Douglas Rushkoff, Paul Virilio, Hartmut Rosa, Hans-Ulrich Gumbrecht, Neil Postman und David Gelernter in den Mittelpunkt stellt, endet in Verfallsgeschichten. Ihren Horizont bildet eine Affirmation der Unmittelbarkeit einer ununterbrochenen Gegenwart und die Trauer um deren durch die Digitalisierung beschleunigten Verlust. Sie argumentieren trotz kleinerer Varianten der Hoffnung auf verblüffend ähnliche Weise: Die Opposition von digitalisierter Beschleunigung sowie ihren zersetzenden Effekten und prämedialer, vermittlungsloser Unmittelbarkeit wird verabsolutiert und zur Wasserscheide der Gegenwart.

Sicher, Schumacher, distanziert sich von diesen Positionen, von der Reanimation „eingefahrener Argumentationsmuster“ (68) von der „Weigerung, sich näher auf das einzulassen, was die Gegenwart kennzeichnet.“ (68). Darin liefert der Text einen guten Überblick über diese Positionen – aber eben gerade und nur über diese. Im Zuge dieser Kritik erhebt der Text die genannten Autoren jedoch qua Auslassung von Alternativen zu Referenzen und trägt zu der von ihnen angestrebten Diskurshoheit bei. Doch könnte es sein, dass die männliche, westliche und ältere Perspektive, die der Text dokumentiert, selbst Teil der „Komplexität der Problematik“ (68) von Zeitlichkeit in digitalen Kulturen ist und keineswegs ein Lösungsvorschlag? Es gilt also, diese Diagnosen selbst einer Diagnostik zu unterziehen.

Die Konvergenz der genannten Perspektiven ist vor allem bemerkenswert, wenn man berücksichtigt, dass AutorInnen, die nicht in dieses Raster fallen, zu ganz anderen Ergebnissen kommen als die Herren. Im Folgenden möchte ich daher einige alternative Diagnosen vorstellen, die in dieses Bild der Gegenwart nicht recht passen und zeigen, welche andere Fragen man auch an die von Schumacher angeführten Texte stellen könnte. Zum Beispiel könnte man über Sarah Sharmas großartiges Buch In the Meantime sprechen, das zeigt, wie Zeit und die technische Konstruktion von Gegenwart in digitalen Kulturen zu einem Macht- und Distinktionsinstrument werden. [1. Sarah Sharma: In the Meantime, Durham: Duke University Press 2015.] Anhand überaus genauer und spannend zu lesender Beobachtungen in der Shibuya-Station in Tokio, auf internationalen Flughäfen und im Pendelverkehr Torontos zeigt Sharma, wie in unterschiedlichen ethnographischen Kontexten die kapitalistische sowie die digitale Taktung der Welt mit individuellen Zeitpraktiken konvergieren, dass sie aber auch auseinanderklaffen. Vom Beschleunigungsdiskurs wendet sie sich entschieden ab und kritisiert an anderer Stelle vielmehr dessen Unfähigkeit, divergente Verhaltensweisen und Zeitkonzepte zu erfassen: „The critique of speedup parades as a time politics while it ignores larger structural political issues related to labor and social difference.“ [2. Sharma, Sarah: »Speed Traps and the Temporal. Of Taxis, Truck Stops, and TaskRabbits«. In: Wajcman, Judy/Dodd, Nigel (Hg.) (2016): The Sociology of Speed. Digital, organizational, and social temporalities. Oxford, Oxford University Press, S. 132-151, hier: S. 132f.]

Auch Judy Wajcmans Bücher Pressed for TimeThe Acceleration of Life in Digital Capitalism und der gemeinsam mit Nigel Dodd herausgegebene Sammelband Sociology of SpeedDigital, Organizational, and Social Temporalities entwerfen solche Herangehensweisen, die von den Beschleunigungs-, Entschleunigungs-, Gegenwärtigkeits- und Präsenzdiskursen denkbar weit entfernt sind, sondern sie vielmehr zu Symptomen erklären. [3. Wajcman, Judy (2014): Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism. Chicago, University of Chicago Press; Wajcman, Judy/Dodd, Nigel (Hg.) (2016): The Sociology of Speed. Digital, organizational, and social temporalities. Oxford, Oxford University Press.] Wendy Chun hat ebenfalls immer wieder betont, dass Instabilitäten zwischen Permanenz und Ephemeralität charakteristisch für die Erscheinungsformen digitaler Kulturen sind, deren Gegenwart zwischen menschlichen und technischen Akteuren immer wieder neu ausgehandelt wird. [4. Chun, Wendy Hui Kyong (2011): Programmed visions. Software and memory. Cambridge, Mass: MIT Press.] Diese drei Autorinnen stehen stellvertretend für eine Medien- und Kulturwissenschaft, welche die politischen Implikationen technischer Medien nicht von den Diskursen über sie löst. Es sind genau solche politischen Perspektiven auf differente, heterogene Zeitpraktiken und Technologien der Synchronisation, die in den letzten Jahren in der internationalen Forschung zu digitalen Kulturen intensiv diskutiert worden sind. Die „Asynchronie und Multiplizität“, die am Ende von Schumachers Textes stehen, bleiben im Gegensatz dazu blass, weil sie zum Erfahrungshorizont der Autoren der besprochenen Bücher gehören. Dass Präsenz, Gegenwärtigkeit, aber auch Wartezeit bei Rushkoff, Gelernter oder Rosa nicht als Mittel zur Herstellung sozialer Differenzen sowie deren Kapitalisierung reflektiert werden, wundert nicht – wichtig wäre es jedoch, diese Diagnose über die vorgestellten Gegenwartsdiagnosen zu diskutieren.

Die genannten alternativen Konzepte heben darauf ab, Gegenwart als komplexes Konglomerat anzusehen und ihr kein befreiendes Potential zuzusprechen, sondern ihre Affirmation vielmehr selbst als Ausdruck eines Begehrens nach Unmittelbarkeit zu lesen. Die Welt sei, so die von Schumacher zitierten Autoren, aus den Fugen, weil alles immer schneller geschehe. Die Grunderfahrung der Moderne eskaliere mit der Digitalisierung in eine Pathologie. Als Lösung werden der Stillstand, die Verlangsamung, der Ausstieg präsentiert – die Absage an Technik (bzw. an bestimmte Nutzungsweisen) wird mit dem Ende der Beschleunigung gleichgesetzt. Mit den Aporien dieses ‚discourse of disconnection‘ hat sich Pepita Hesselberth intensiv auseinandergesetzt und dabei vor allem das affirmative Moment der Negation betont. Optionen des Ausstiegs, so Hesselberth, müssten sich, wenn sie denn ihre eigene Situiertheit reflektieren, einerseits einer politischen Pragmatik unterwerfen und andererseits ihre eigene Involviertheit in das bedenken, wovon sie sich zu lösen versuchen. Der Entschleunigungsdiskurs ist in der Negation der Beschleunigung an diese gebunden und kann daher auch keine Alternative anbieten. Entschleunigung ist nur Beschleunigung unter umgekehrten Vorzeichen. Sie steht auf dem gleichen konzeptuellen Boden und verwechselt die Verringerung der wahrnehmbaren Verzögerung zwischen der Zeit der Maschine und der Zeit der Wahrnehmung mit ‚Echtzeit‘.

Entsprechend sollte es auch darum gehen, den Begriff der ‚Gegenwart‘ auf die technischen Komponenten zu beziehen, gegen die er in Stellung gebracht wird. ‚Echtzeit‘ oder ‚Realtime‘ sind irreführende Begriffe, weil kein technisches System in Gleichzeitigkeit operieren kann, sondern immer nur in der Rechtzeitigkeit, die die Übertragung elektrischer oder elektronischer Signale benötigt. Jede Übertragung braucht Zeit. Technik kennt keine Gegenwart. Die Relativität aller Übertragung macht Gleichzeitigkeit in technischer und physikalischer Hinsicht unmöglich – und dies hat Konsequenzen für Kritik und die politische Einordnung dieser Technologien. Einen entsprechenden analytischen Vorschlag haben Esther Weltevrede, Anne Helmond und Carolin Gerlitz gemacht: „Real-time, we suggest, does not explain, but needs to be explained.” [5. Weltevrede, Esther/Helmond, Anne/Gerlitz, Carolin: »The Politics of Real-Time. A Device Perspective on Social Media Platforms and Search Engines«. In: Theory, Culture & Society, 6 (2014), S. 125-150. Dazu auch Sutherland, Thomas: »Liquid Networks and the Metaphysics of Flux. Ontologies of Flow in an Age of Speed and Mobility«. In: Theory, Culture & Society, 5 (2012), S. 3-23 und Sprenger, Florian (2015): Politik der Mikroentscheidungen. Edward Snowden, Netzneutralität und die Architekturen des Internets. Lüneburg, Meson Press.] Ihnen geht es darum, die soziokulturellen Praktiken der Verfertigung von ‘Gegenwart’ zu untersuchen. Analog könnte man auch die Mikrotemporalitäten in den Blick nehmen, die unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle digitale Kulturen auszeichnen, wie Katherine Hayles und Mark Hansen gezeigt haben. [6. Hayles, N. Katherine (2017): Unthought. The power of the cognitive nonconscious. Chicago, University of Chicago Press sowie Hansen, Mark B. N. (2014): Feed-forward. On the future of twenty-first-century media. Chicago, University of Chicago Press.] In beiden Fällen wird deutlich, dass der Beschleunigungsdiskurs und die affirmative Rede von Gegenwart eine kritische Perspektive behindern.

Das ‚Jetzt‘, von dem Autoren wie Rushkoff sprechen, bringt die Gefahr mit sich, die auf ständiger Synchronisation und damit durch Ungleichzeitigkeit hergestellter Rechtzeitigkeit beruhenden Operationsweisen technischer Medien und damit ihre Machtverhältnisse zu verdecken. Geht man von einer ‚Echtzeit‘ der uns umgebenden Computer aus, sei es das Internet, ubiquitous computing oder auch Autos mit avancierten automatisierten Assistenzsystemen wie der Tesla, dann bleiben genau jene Operationen unsichtbar, in denen unterschiedliche Zeitordnungen synchronisiert und aufeinander bezogen werden, ohne jemals gleichzeitig zu werden. Das Verdienst von Sharmas Buch liegt darin, diese technischen Diskontinuitäten mit sozialen Differenzen zu koppeln. Vielleicht müsste man in diesem Sinne eher nach den Ungleichzeitigkeiten fragen und den aufwändigen Verfahren, sie zu synchronisieren, um etwas über die Gegenwart zu erfahren – eine Gegenwart, die als präsent erscheinen kann, weil die vielen divergenten Temporalitäten, mit denen wir es zu tun haben, so synchronisiert werden, dass sie dem menschlichen Beobachter als präsent erscheinen, sich mithin in ein Unmittelbarkeitsphantasma eingliedern, während ihre konkreten politischen und sozialen Auswirkungen aber vor allem dort hervortreten, wo die Synchronisation nicht gelingt. Ein Blick auf das, was Thomas Macho und Christian Kassung Kulturtechniken der Synchronisation genannt haben [7. Kassung, Christian/Macho, Thomas (Hg.) (2012): Kulturtechniken der Synchronisation. München, Fink.], könnte helfen, das Phantasma der Instantanität und Unmittelbarkeit zu verabschieden, um stattdessen zeitliche Differenzen in den Blick zu nehmen, deren Ausgestaltung immer eine Ausübung von Macht darstellt. Synchronisation in technischen Systemen bedeutet, Verbindungen und Trennungen herzustellen; und über Verbindungen und Trennungen zu entscheiden, bedeutet Macht.

Der Umschlag von Beschleunigung in Gleichzeitigkeit ist nicht nur ein phantasmatisches Ereignis in der Geschichte elektrischer Übertragungsmedien, sondern leitet auch die Diskurse über sie an.In diesem Sinne kann man zeigen, dass Autoren wie Postman, Virilio oder Rushkoff auf eine Rekurrenzfigur der Medienkritik verweisen, die in Platons Schriftkritik im Phaidros erstmals formuliert wurde und seitdem immer wieder aktualisiert wird, um die Auswirkungen der Einführung neuer Medien zu beschreiben: Medien verhindern demnach die Unmittelbarkeit des direkten Austauschs zwischen Menschen. [8. Vgl. Sprenger, Florian: »Zu einer platonischen Rekurrenzfigur der Medienkritik«. In: Maske und Kothurn, 2 (2010), S. 53-67.] So wird nicht nur die Rolle der Technik für die Konstitution von Sozialität negiert. Es folgt daraus vor allem die immer wieder vorgetragene Angst vor einer Medienwirkung, die direkt auf den Mediennutzer einwirkt, ohne dass dieser sich wehren könne. Er sei der Unmittelbarkeit des Mediums hilflos ausgeliefert, könne ihm nicht entgehen und werde etwa durch exzessives Computerspielen zum Amokläufer oder verliere aufgrund der Gegenwärtigkeitseffekte seines Smartphones sein Reflexionsvermögen.

Medien kommen in derartigen Argumentationen nie in ihrer konstitutiven Funktion in den Blick, sondern werden dafür kritisiert, dass sie zugleich Unmittelbarkeit verhindern und unmittelbar wirken. Diese Verdopplung verhindert, Unmittelbarkeit als Relation zu begreifen. Ein Medium kann jedoch nicht unmittelbar sein, weil es sonst die Relata, zwischen denen es auf jeweils spezifische Weise vermittelt und zwischen denen der zusammenbringende Akt der Kommunikation stattfindet, in ein unvermitteltes Verhältnis brächte, das ihre Trennung und seine Vermittlung aufheben würde. Was unmittelbar ist, hat kein Medium. Affirmiert man Unmittelbarkeit, kann man Medien und ihre Auswirkungen nicht mehr in den Blick bekommen. Die Gegenwart der Autoren, die Schumacher referiert, hat es nie gegeben. Und für eine andere Gegenwärtigkeit ist neben ihr kein Platz.