Riss und Respekt

In manchen Kreisen ist man pikiert darüber, wenn nun jeder Schulz oder Scholz seinen Ernst Jünger zitiert. But I can’t help it.

“Keiner stirbt vor der Erfüllung seiner Aufgabe”, schreibt Jünger in seinem 1990 veröffentlichten Werk Die Schere. Und weiter: “Meist wird sie verkannt. Cecil Rhodes, nach Spengler »ein Gigant in Lackschuhen«, auf dem Sterbebette: »And so much to do!« Da erhebt sich die Frage: »Und wo ist heut Rhodesien?«”

Die Passage kam mir in den Sinn, ich weiß nicht recht warum, während ich mir viel zu spät, so ab drei Uhr morgens, und nicht mehr ganz nüchtern, die Debatte im Dresdner Kulturpalast auf Facebook ansah. Etwas unruhig wurde ich nach den beiden Eingangsstatements. Durs Grünbein legte genauso so los, wie ich es befürchtet hatte: Meinungsfreiheit, Arendt, Polis – man muss schon verdammt gut sein und sich formal etwas einfallen lassen, um dieses Genre der behutsamen politischen Selbstvergewisserung, die sich im Fundus der Alten bedient, mit Leben zu erfüllen. Leider gelingt das Grünbein nicht wirklich, auf der Bühne agiert ein Bildungsbürgerdarsteller. Wenn es hart auf hart kommt, steht nicht nur zu befürchten, dass solche Zombieansprachen den Rechten keinen einzigen Wähler abspenstig machen, sondern ihnen sogar neue Sympathisanten in die Arme treiben. Hier ist eine Generalüberholung einer gewissen liberalen Bourgeoisie fällig, das ideologische Defizit – wie man als Weltanschauung so rüberkommt – und die Verknöcherungserscheinungen in der Haltung nehmen allmählich befremdliche Ausmaße an.

Tellkamp hingegen wirkt am Pult wie auf Speed und brettert seine genial einseitige Collage aus Nachrichtenmeldungen und Leitartikeln herunter. Das hat nicht nur wegen der Spannungskurve, die sich aus dem Arrangement dieser Zitate ergibt, literarische Qualitäten. So muss Propaganda sein. Es war absolut fantastisch, es knallt, ich zuckte innerlich zusammen, wenn ich mich an einige der erwähnten Artikel erinnerte.

Aber vielleicht brauchte es diesen Schock, damit sich Grünbein erst locker macht, dann berappelt. Als er Tellkamps Unterstellung, die Verengung des politisch Möglichen dränge die Gegner Merkels geradezu in die Arme der AfD, mit der Frage “Was ist denn das für einen Scheiß?” konterte, kippte das Gespräch. (Auf dass mir das Wort vor dem Fragezeichen öfter in Grünbeins Poesie begegne.)

Wie er anschließend in der Publikumsdiskussion seelenruhig von Kubitschek wissen wollte, ob er denn ein Anarch sei – in dem Moment feierte ich meinen inneren Reichsparteitag. Grünbein bezog sich wohl auf Jünger, denn er legte erst vor kurzem einen mittelinteressanten Text im FAZ-Feuilleton vor, in dem er darlegte, wie wenig er mit Jünger, dem im Künderton vorgetragenen Kitsch, dem kühlen Pathos, der weltabgewandten Heroik der Marmorklippen anfangen kann: Stahlhelm-Netflix halt. Kubitschek wirkte sichtlich überfordert, bekam es im Eifer des Gefechts auch nicht mehr auf die Reihe, für begriffliche Trennschärfe zu sorgen, ließ die ganzen feinziselierten Unterscheidungen, die Jünger gerade im Spätwerk zwischen dem Anarchisten und dem Anarchen vornahm, links liegen, verließ also das literarisch-bohemistische Feld, von dem er und Kositza sich magisch angezogen fühlen, und nahm in der staatsmännischen Pose Zuflucht: Anarchie sei doch das Schlimmste, was einem Volk zustoßen könnte. Heiterkeit macht sich bei mir breit.

Tellkamp redet weiter auf sich und das Publikum ein, scheint nicht nur alle Zeitungen, sondern auch sämtliche Blogs gelesen zu haben. Kein Wunder, dass der neue Roman nicht fertig wird. Da hat er meine ganze Sympathie. Aber die wird schnell von einem anderen Eindruck überlagert: Was für ein eitler Gockel, der zunehmend um Fassung ringt und selbst dieses Ringen noch in Szene zu setzen versucht.

Schließlich die Forderung nach Respekt, die Tellkamp erhebt. Was denke ich eigentlich über Respekt, brauche ich ihn, fordere ich ihn von anderen ein? Darüber habe ich mir ehrlich gesagt nie Gedanken gemacht. In der äußerst robusten Streitkultur des 18. Jahrhunderts – ein Zuschauer, der das Wort ergriff und sich hinter Tellkamp stellte, rief Voltaire als Gewährsmann auf – spielte Respekt in der Praxis oft nur eine sehr nachrangige Rolle. Im Paris des Aufklärungszeitalters wurde mit sehr harten, sehr persönlichen, sehr verletzenden und sehr lustigen Bandagen gekämpft. Angesichts von Tellkamps Jammerlappigkeit, die er, das geht aus Statistiken hervor, mit 95 Prozent der Rechtskonservativen teilt, hätte Voltaire wohl kaum Zurückhaltung geübt. Streit, gerade der öffentliche, ist keine Komfortzone, in der man es sich bequem einrichten kann, da unterliegt Tellkamp einem biedermeierlichen Trugschluss, der aus seinen Romanen in die Kontroverse hinüberschwappt.

Das stört mich: Sich den Weltstress vom Hals halten zu wollen – zum Beispiel durch mehr oder minder restriktive Abschottung –, ist eine Sache, sich vom Debattenstress angegangen zu fühlen, eine ganz andere. Im ersten Fall kann man seine Präferenz auf der Straße oder in der Wahlurne zum Ausdruck bringen: herrlich. Im zweiten Fall läuft es, setzte man Tellkamps Vorstellungen, wie der Umgang miteinander auszusehen habe, konsequent um, insgeheim auf einen einschläfernden Umbau der Demokratie hinaus, jener “zivilisierten Form des Bürgerkriegs” (so der Financial Times-Journalist Martin Wolf), die ich philosophisch überzeugend und persönlich erfüllend finde. Und bei dieser affektiven Unterwanderung des Systems würde ich für mich eine Trennlinie ziehen.

Den Riss vertiefen – diese Losung gab Kubitschek am Ende aus. Ein Teil von mir denkt genauso, aber wirklich spannend wird es politisch doch erst danach, nämlich sobald es um gesellschaftliches Zusammenreißen gibt, also darum, wie sich trotz zahlreicher Unvereinbarkeiten aus den Fetzen, die wir als Einzelne und in Gruppen sind, ein Patchwork herstellen lässt, von dem man sagt, ist doch nicht schlecht, sieht doch gut aus, oder? Und da hat Kubitschek, um im Bild zu bleiben, leider nur khakifarbene Auslegware im Angebot. Übrigens muss ich an der Stelle zugeben, dass ich nie zuvor seine Stimme gehört habe. Es haute mich schlicht um, von einem ehemaligen Offizier derart angeschwäbelt zu werden. Süß, fast zum Vernaschen, dieser dunkle Ritter Sport.